11. Dezember 2024 | Podium
Nürnberger Gespräche: (Noch) länger arbeiten – Nonsens oder Notwendigkeit?
In ihrer Eröffnungsrede kritisierte die Nürnberger Sozialreferentin Elisabeth Ries, die bei den „Nürnberger Gesprächen“ am 13. November dieses Jahres den erkrankten Nürnberger Oberbürgermeister Marcus König vertrat, das aktuelle gesellschaftliche und mediale Debattenklima. Dieses konterkariert aus ihrer Sicht die Bemühungen um qualifizierte Zuwanderung aus dem Ausland als einem wesentlichen Beitrag, um das Arbeitskräfteangebot auch bei einer alternden Bevölkerung zu stabilisieren.
Ries: „Die Arbeitswelt ist nach wie vor nicht überall auf die Belange Älterer ausgerichtet“
Auch mit Blick auf das eigentliche Thema der Veranstaltung, nämlich wie Menschen länger im Erwerbsleben gehalten werden können, legte sie den Finger an einigen Stellen in die Wunde. So wundert sich Ries darüber, wie viele noch relativ junge und hochqualifizierte Menschen mit Abfindungen aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Die Arbeitswelt sei außerdem nach wie vor nicht überall auf die Belange Älterer ausgerichtet, so Ries. Es gehe darum, das bislang ungenutzte Beschäftigungspotenzial Älterer besser zu nutzen, „soweit es menschenwürdig und sinnvoll machbar ist.“
Moderator Uwe Ritzer von der Süddeutschen Zeitung machte das demografische Grundproblem anhand von zwei Zahlen deutlich: Bis 2036 gehen fast 20 Millionen sogenannte Babyboomer in den Ruhestand, es kommen aber nur 12,5 Millionen Personen im erwerbsfähigen Alter nach. Ritzer schloss sogleich die Frage an: Kippt deswegen unser Rentensystem oder gar unser Sozialmodell – oder tut es das nicht? So groß die Herausforderung ist, so vielfältig sind auch die möglichen Lösungsansätze, um ihr zu begegnen.
Nahles: „Die Altersgrenze ist nur eine Stellschraube, an der wir drehen können. Es gibt noch andere“
Dies weiß auch Andrea Nahles, Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), vormalige Bundesarbeitsministerin, Mutter der „Rente mit 63“ und last but not least Tochter eines Maurermeisters, der zeitlebens körperlich schwer arbeiten musste und mit 63 Jahren in die Erwerbsminderungsrente gehen musste.
Gleichwohl kann sich auch Nahles heute durchaus Konstellationen vorstellen, bei denen Menschen bis zu ihrem 70. Lebensjahr oder länger arbeiten – wenn die Bedingungen stimmen. „Es kommt auf das Gesamtpaket an“, so ihr Credo. Die Anhebung des Renteneintrittsalters sei nur eine mögliche Stellschraube. So könnten etwa Auszeiten während des Erwerbslebens dazu beitragen, Menschen am Ende länger in Beschäftigung zu halten. Auch komme dem Thema „Arbeitssicherheit und Arbeitsschutz“ hohe Priorität zu.
Nobereit: „Das Zusammenspiel zwischen beruflicher und medizinischer Rehabilitation klappt nicht“
Mit Blick auf den Arbeitsschutz wiederum spricht Sven Nobereit, Leiter der Abteilung Sozial- und Arbeitsmarktpolitik beim Verband der Wirtschaft Thüringens, von einem „hervorragenden System in Deutschland“. Die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle beispielsweise sei rapide gesunken. Für Nobereit einer der zahlreichen Belege dafür, dass die Voraussetzungen für ein weiter steigendes gesetzliches Renteneintrittsalter – also über die bereits beschlossenen 67 Jahre hinaus – prinzipiell gut sind.
Massiven Handlungsbedarf sieht Nobereit allerdings beim Zusammenspiel der verschiedenen Präventionsträger. Wenn man wolle, dass die Menschen länger berufstätig sind, müsse man sie auch in die Lage versetzen, über alle Lebensphasen hinweg gesund zu bleiben. Erst im letzten Jahr habe Deutschland es geschafft, einen einheitlichen Reha-Antrag auf den Weg zu bringen – dass es so lange dauerte, ist für ihn ein Armutszeugnis.
Räder: „Das bestehende Arbeitskräftepotenzial wird nicht ausgeschöpft“
Anders als Nobereit lehnt Evelyn Räder, Abteilungsleiterin Arbeitsmarktpolitik beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), ein höheres gesetzliches Renteneintrittsalter ab. Dass ein solches die Rentenkasse entlassen würde, sei ein Mythos. Es ändere auch nichts daran, dass gerade ältere Arbeitslose nach wie vor meist nur schlechte Chancen hätten wieder eine Beschäftigung zu finden – allen unternehmerischen Klagen über den grassierenden Fachkräftemangel zum Trotz.
Zwar gäbe es weiterhin viele Stellen für spezielle Fachkräfte, die große Masse der Arbeitslosen profitiere davon aber nicht. Die Betriebe, beklagt die Gewerkschafterin, nutzten das bestehende Potenzial an Arbeitskräften bei weitem nicht aus. Auch zeigten sie zu wenig Bereitschaft, ihre Beschäftigten für den allgemeinen Arbeitsmarkt zu qualifizieren.
Dass ältere Arbeitslose einen schweren Stand auf dem Arbeitsmarkt haben, bestätigt auch IAB-Vizedirektor Ulrich Walwei. Viele Betriebe stellten insbesondere deswegen keine älteren Arbeitslosen ein, weil deren Qualifikationen nicht zuletzt durch die mitunter lange Dauer der Arbeitslosigkeit entwertet sein könnten. Hinzu kommt: Viele Betriebe erhielten gar keine Bewerbungen älterer Arbeitsloser.
Idealerweise, so Walwei, sollte es gar nicht erst zur Arbeitslosigkeit kommen. Entsprechende Interventionen müssten möglichst früh einsetzen, damit die Betroffenen ihren Bezug zum Arbeitsmarkt nicht verlieren. Zugleich hätten diese auch eine Eigenverantwortung für ihre Qualifikation und ihre Gesundheit.
Walwei: „Wir haben aufgrund der demografischen Entwicklung künftig nicht nur ein Mengen-, sondern auch ein Qualifikationsproblem“
Ein weiteres Problem, bei dem sich der Volkswirt Walwei mit BA-Chefin Nahles einig weiß: Gerade in Krisenzeiten würden viele hoch qualifizierte Menschen mit großzügigen Abfindungsregelungen vorzeitig aus dem Arbeitsmarkt ausgegliedert – häufig in gegenseitigem Einvernehmen. Dies mag auf individueller oder einzelbetrieblicher Ebene rational sein, der Volkswirtschaft insgesamt entgehe damit aber dringend benötigtes Humankapital.
Volkswirtschaftlich sinnvoller erscheint hier ein anderes Modell: die sogenannte Arbeitsmarkt-Drehscheibe. Damit versucht die BA auf regionaler Ebene, den Marktausgleich zwischen Unternehmen, die Personal abbauen, und solchen, die Personal suchen, zu verbessern und so hoch qualifiziertes Personal weiter im Arbeitsmarkt zu halten. Als Beispiel nannte Nahles die von der BA geförderte Übernahme von Conti-Beschäftigten durch Siemens in Niedersachsen.
Zugleich wiesen Nahles und Walwei auf zwei wichtige positive Trends der letzten Jahrzehnte hin, die von den meisten Prognostikern so nicht erwartet worden waren. Die Bevölkerungszahl Deutschlands liegt heute dank Zuwanderung bei 84 Millionen. Laut Nahles waren frühere demografische Prognosen von einer Schrumpfung auf unter 80 Millionen ausgegangen. Parallel dazu hat die Zahl älterer Beschäftigter, insbesondere der 55- bis 64-Jährigen, in Deutschland unter anderem dank der steigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen außerordentlich kräftig zugelegt – auch im internationalen Vergleich, wie Walwei betonte.
Gleichwohl sieht der IAB-Vize für die Zukunft nicht nur ein Mengen-, sondern auch eine Qualifikationsproblem: Denn die Babyboomer seien im Schnitt sehr gut qualifiziert. Selbst wenn unter den nachrückenden Jahrgängen keine einzige Person ohne beruflichen Abschluss bliebe, kommt es nach Walweis Einschätzung unweigerlich zu einem demografischen Brain-Drain.
Fitzenberger: „Eine sich beschleunigende Transformation trifft auf eine alternde Erwerbsbevölkerung“
In seinem Schlusswort zog IAB-Direktor Prof. Dr. Bernd Fitzenberger aus der Diskussion das Fazit, dass längeres Arbeiten zwar insgesamt eine demografisch bedingte Notwendigkeit sei, aber dies sei eben nicht für alle möglich. Um Erwerbsarmut – und damit auch späterer Altersarmut – vorzubeugen, so ein weiteres zentrales Ergebnis der Diskussion, seien Investitionen in und Anreize für lebenslange berufliche Qualifizierung und Weiterbildung unerlässlich.
Eine immense Herausforderung für die deutsche Wirtschaft insgesamt sieht der IAB-Direktor wiederum darin, dass eine sich künftig noch beschleunigende Transformation auf eine immer älter werdende Erwerbsbevölkerung trifft.
Abschließend ließ es sich Bernd Fitzenberger nicht nehmen, IAB-Vizedirektor Ulrich Walwei zu würdigen, der Ende 2024 – nach 36 Jahren am IAB, davon über 20 Jahre als Vizedirektor – selbst in den Ruhestand geht. Walwei habe die Weiterentwicklung und Modernisierung des Instituts maßgeblich geprägt. „Es war in den letzten Jahrzehnten fast egal, wer unter ihm Direktorin oder Direktor war“, fügte Fitzenberger scherzend hinzu (lesen Sie dazu auch ein aktuelles Porträt über Ulrich Walwei im IAB-Forum).
Die Nürnberger Gespräche werden von der Bundesagentur für Arbeit unter Federführung des IAB und der Stadt Nürnberg ausgerichtet. Einen Videomitschnitt der Veranstaltung finden Sie auf dem YouTube-Kanal des IAB.
Weitere Beiträge zum Thema „Ältere am Arbeitsmarkt“ im IAB-Forum
Bellmann, Lutz; Dummert, Sandra; Leber, Ute (2018): Nur eine Minderheit der Betriebe führt spezifische Personalmaßnahmen für Ältere durch, In: IAB-Forum, 8.10.2018.
Keitel, Christiane; Schludi, Martin (2024): Erwerbstätigkeit Älterer im internationalen Vergleich: „Deutschland hat kräftig aufgeholt“ (Interview mit Ulrich Walwei), In: IAB-Forum, 10.7.2024.
Fitzenberger, Bernd; Hutter, Christian; Söhnlein, Doris; Weber, Enzo (2023): Der starke Anstieg der Erwerbstätigkeit von Älteren ist ganz überwiegend dem Wachstum der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung geschuldet, In: IAB-Forum, 2.5.2023.
Nivorozhkin , Anton (2021): Warum gerade ältere Arbeitslose die Jobsuche häufig einstellen, In: IAB-Forum, 15.6. 2021.
Büttner, Thomas; Schewe, Torben; Stephan, Gesine (2024): Die Förderung von älteren Arbeitslosen verbessert deren Beschäftigungschancen, In: IAB-Forum, 15.7.2024.
Bilder: Wolfram Murr, Photofabrik
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20241211.01
Schludi, Martin (2024): Nürnberger Gespräche: (Noch) länger arbeiten – Nonsens oder Notwendigkeit?, In: IAB-Forum 11. Dezember 2024, https://www.iab-forum.de/nuernberger-gespraeche-noch-laenger-arbeiten-nonsens-oder-notwendigkeit/, Abrufdatum: 12. December 2024
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Autoren:
- Martin Schludi