4. Januar 2024 | Arbeitsmarkt im Strukturwandel
Geschichte und Zukunft der Arbeit: Ende oder Halbzeit des großen Produktivitätssprungs?
Das Hauptaugenmerk der Analyse liegt auf der Entwicklung der Arbeitsproduktivität. Sie hat maßgeblichen Einfluss auf den Charakter des gemeinschaftlich-gesellschaftlichen Lebens. Im Rahmen der Analyse werden vier große Epochen betrachtet:
- das Zeitalter der Wildbeuterei
- die Agrikulturgesellschaften
- die kapitalistische Marktwirtschaft und Produktionsweise
- Gegenwart und Zukunft der Arbeit.
Alle zehn hier betrachteten Dimensionen, die mit der Entwicklung der Arbeitsgesellschaft zusammenhängen, haben sich im Laufe dieser Epochen grundlegend verändert (siehe Abbildung 1).
Zugleich verlief der Anstieg der Produktivität je nach Tätigkeitsbereich sehr unterschiedlich. Dies gilt insbesondere für die hier betrachteten Tätigkeitsfelder beziehungsweise Produktionsbereiche (siehe Abbildung 2):
- die Haus- und Familienarbeit
- die persönlichen Dienstleistungen
- die Wissensarbeit und Kultur
- das Bruttoinlandsprodukt insgesamt
- den Güterkorb des physiologischen Existenzminimums (dieser umfasst das Minimum an materiellen Dingen, die der Mensch zum Überleben benötigt, und entspricht dem Verbrauch von Nahrung, Bekleidung, Behausung und Energie für Wärme und Zubereitung der Nahrung)
- das Verarbeitende Gewerbe
- die Getreideproduktion (hier in Form des Weizens)
- das Rechnen als Basisfunktion der Digitalisierung nach 1950.
Der erste Produktivitätssprung erfolgte vor etwa 5.000 Jahren
Die für eine Berechnung der Produktivitätsentwicklung dieser Arbeitsbereiche sinnvollen Zeiträume sind, wie auch in Abbildung 2 dargestellt, höchst unterschiedlich. Während die Produktivitätsentwicklung beim Existenzminimum für den gesamten hier betrachteten Zeitraum relevant ist, also ab 300.000 Jahren vor heute (vh), ist sie dies quantitativ für die anderen Arbeitsbereiche erst seit etwa 200 Jahren.
Mit Beginn der Agrikultur vor etwa 10.000 Jahren kam es zunächst zu einem Rückgang der Arbeitsproduktivität. Im Vergleich zur Wildbeuterei mussten die frühen Bauern länger arbeiten, um ihren Nahrungsbedarf zu decken, da neue Arbeitsschritte wie das Roden, Säen und Dreschen hinzukamen. Durch die hohen Flächenerträge des Getreideanbaus benötigten sie dazu aber eine viel kleinere Fläche.
Ein erster Produktivitätssprung fand ab etwa 5.000 Jahren vor heute statt: In den Flusstälern Mesopotamiens, Ägyptens und später Indiens, Chinas und weiteren Teilen der Welt verdreifachte sich die Produktivität der Landwirtschaft. Denn dort ersetzte der Pflug-Ackerbau mit Bewässerungssystemen die bis dato auf den Feldern übliche Handarbeit mit einfachsten Werkzeugen. Dies bedeutete einen systematischen Überschuss an Lebensmitteln über das Existenzminimum hinaus, der die Entstehung der ersten „Zivilisationen“ ermöglichte.
Zugleich kam es durch die Stratifizierung der neuen großen Gemeinschaften zu einer Umverteilung der Erzeugnisse, zur Bildung von Hierarchien (im Sinne der Aneignung fremder Arbeitskraft) und Staaten, einschließlich des Aufbaus von Bürokratien und Armeen. Neben „zivilisatorischen“ Fortschritten wie Werkzeugen aus Metall, spezialisiertem Handwerk, Schrift und Gelehrsamkeit, Fernhandel und kulturellem Austausch bildeten sich seither auch die „barbarischen“ Institutionen von Hierarchie, Krieg und Patriachat aus.
Der zweite Produktivitätssprung nach 1800 schafft das Potenzial zur Lösung des Knappheitsproblems
Der zweite Produktivitätssprung begann vor gut 200 Jahren in England. Nach 1800, mit dem Siegeszug der kapitalistischen Marktwirtschaft und Produktionsweise, der industriellen und später digitalen Revolution entwickelte sich das Maschinenzeitalter. Technische Basis der Produktivitätsexplosion war und ist die fortschreitende Automatisierung der Arbeit, also der Ersatz menschlicher Arbeit durch Maschinen.
Zunächst stand die Maschinisierung der materiellen Produktion im Vordergrund. In der englischen Textilindustrie konnten Spinnerinnen mit den ersten Maschinen nun nicht mehr nur eine, sondern 8, 16, später 24 und mehr Spindeln gleichzeitig bedienen. Ein einzelner Weber beaufsichtigte mehrere Webstühle, angetrieben durch Wasser- und später Dampfkraft. Etwa ab 1950 nahm mit dem Computer die Maschinisierung der Kopfarbeit Fahrt auf – sowohl in der Steuerung der materiellen Produktion als auch in der Datenverarbeitung.
Die Produktivitätssteigerungen in den letzten 200 Jahren haben eine große Bandbreite
Die Bandbreite der Produktivitätsentwicklungen innerhalb der letzten 200 Jahre ist groß. Die industrielle Massenproduktion, die das Verarbeitende Gewerbe revolutionierte, ließ die Produktivität in diesem Sektor vom Dreifachen der Handarbeit auf das über 500-Fache steigen. Im Weizenanbau, der industriellen Landwirtschaft, stieg sie, befeuert durch den Einsatz von Traktoren mit Verbrennungsmotor, chemischen Düngemitteln und Pestiziden auf das über 600-Fache. Neben die vielfach nicht nachhaltige Bewirtschaftung der Böden trat eine für Tiere qualvolle und für Mensch sowie Umwelt hoch problematische Massentierhaltung.
Die Besonderheit der digitalen Technik wird beim Blick auf das Rechnen, der Basisfunktion des Computers, deutlich. Die Rechenleistung stieg bis heute in einer ganz anderen Größenordnung auf das 1,5-Billiarden(!)-Fache des Kopfrechnens.
Tätigkeiten wie die Familien- und Hausarbeit, persönliche Dienste, Wissensarbeit und Kulturarbeit hingegen waren einer Automatisierung bisher nicht in gleichem Maße zugänglich („Baumolsche Kostenkrankheit“). In diesen Sektoren ist mithilfe von fließendem Wasser, Zentralheizung, Küchen- und Haushaltsgeräten, mit Telefon, Kopierern und Computern, aber auch durch veränderte Arbeitsteilung und -organisation die Produktivität nur auf das etwa Drei- bis Fünffache der reinen Hand- und Kopfarbeit gestiegen.
Eine Gesamtschau der Produktivitätsentwicklung der letzten 200 Jahre liefern Güterkörbe wie der Güterkorb der Marktproduktion insgesamt, also das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Hier liegt der Produktivitätssprung bei etwa dem 30-Fachen gegenüber dem Niveau von 1800 und entsprechend etwa bei dem 90-Fachen gegenüber der Handarbeit. Das bedeutet, dass in einer Arbeitsstunde heute die 90-fache Menge an Produkten und Diensten hergestellt werden kann wie in Handarbeit.
Die Produktivitätsexplosion ist teuer erkauft, aber auch Basis eines höheren Wohlstands für alle
Die Produktivitätsexplosion hatte und hat jedoch ihren Preis, den Raubbau an Mensch und Natur: Über lange Zeit waren die Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten insbesondere für Fabrikarbeiter menschenunwürdig. Die durch die moderne Produktionsweise bedingte Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen hält unvermindert an. Die ökologische Frage, eine der zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, ist ungelöst. Zugleich nehmen globale Ungleichheit und Spannungen zu – auch durch den Kampf um knapper werdende Ressourcen.
Diese in der Geschichte der Menschheit einmalige Steigerung der Produktivität ist gleichwohl die Basis für einen gestiegenen Güter-, Zeit- und Arbeitswohlstand für alle und bietet die Chance auf eine „Lösung der ökonomischen Frage“ (Keynes) und auf ein Ende der Knappheit mit zugleich nachhaltiger Produktion und ökologisch verträglichem Konsum.
Der Güterwohlstand insbesondere im Globalen Norden ist drastisch gestiegen
In den kapitalistischen Ländern fand in den letzten 200 Jahren ein einmaliger Sprung des materiellen Lebensstandards statt: fließendes Wasser in der Wohnung, Elektrizität, Heizungen, vielfältige Konsumgüter, Mobilität, Zugang zu Bildung, Wissen und Gesundheitsversorgung, Unterhaltung und Kultur.
Das Lebensniveau der arbeitenden Bevölkerung hat sich historisch erstmalig vom physiologischen Existenzminimum entfernt. Lebten um 1800 noch über 80 Prozent der Weltbevölkerung am absoluten Existenzminimum, so sind es heute unter 10 Prozent (siehe Abbildung 3). Wer heute in den Ländern des Globalen Nordens von der Grundsicherung lebt, dem steht ein Vielfaches des zum Überleben Notwendigen zur Verfügung, auch wenn Armut selbst dort noch immer deutliche Einschränkungen bei der gesellschaftlichen Teilhabe bedeutet.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts traten immer mehr Länder in diesen Prozess der Wohlstandsmehrung ein. Der Wohlstand ist dennoch weltweit höchst unterschiedlich verteilt. Die Bandbreite reicht vom durchschnittlich 40-fachen Existenzminimum (EM) in den OECD-Ländern bis zum 4-Fachen im Globalen Süden. Immer noch leben 36 Prozent der Weltbevölkerung, also 2,8 Milliarden Menschen, von weniger als fünf Dollar am Tag, vor allem in Afrika.
Obwohl die Entwicklung der Produktivität ein Ende der Knappheit und die Verwirklichung demokratischer Staats- und Gesellschaftsformen sowie ein Ende der Kriege in greifbare Nähe rückt, sind wir von einem Wohlstand für alle noch weit entfernt. Kurz gesagt: Wir leben unter unseren Möglichkeiten, aber dennoch über unsere Verhältnisse.
Neben dem monetären Lebensstandard ist die frei verfügbare Zeit eine wesentliche Dimension der Lebensgestaltung. Mit Jugend und Alter sind Lebensphasen entstanden, die weitgehend frei von Erwerbsarbeit sind. Doch auch dazwischen hat die freie Zeit dank einer starken Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit zugenommen (siehe Abbildung 4).
Seit 1800 hat sich die Erwerbsarbeitszeit in den OECD-Ländern halbiert, von mehr als 3.000 Stunden im Jahr – mit Arbeitstagen von zehn bis zwölf Stunden an sechs Tagen in der Woche – auf rund 1.500 Stunden. Zukünftig dürfte sich der Spielraum für einen größeren Zeitwohlstand weiter erhöhen.
Es ist nicht nur eine weitere Reduzierung der Erwerbsarbeitszeit denkbar, sondern auch eine gänzlich neue Gestaltung der Arbeitszeiten im Lebensverlauf. Schon heute macht die Erwerbsarbeit mit rund 44.000 Stunden in Deutschland nur noch ein Achtel der Lebenszeit während der Erwerbsphase aus. Auf die gesamte Lebenszeit gerechnet beträgt ihr Anteil nach Berechnungen des Instituts für die Geschichte und Zukunft der Arbeit (IGZA) sogar nur noch etwa ein Sechzehntel.
Möglichkeiten der individuellen Gestaltung der Lebensarbeitszeit auf Basis innovativer Formen der Zeitsouveränität rücken näher. Lebensarbeitszeitkonten in Verbindung mit vielfältigen Weiterbildungsangeboten können neben besserer Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch mehr Flexibilität zwischen Arbeits- und Qualifizierungsphasen sowie bei Ein- und Ausstiegen ins Arbeitsleben ermöglichen.
Arbeitswohlstand: Die moderne Computertechnik birgt Chancen und Risiken gleichermaßen
Seit dem Elend der frühen Industrialisierung mit langen Arbeitszeiten, geringer Entlohnung und schlechten Arbeitsbedingungen hat sich dank der Arbeiterbewegung in Form von Gewerkschaften und diesen nahestehenden politischen Parteien in den meisten OECD-Ländern ein Leitbild „Guter Arbeit“ entwickelt. Das Potenzial also ist prinzipiell vorhanden, attraktive, interessante, erfüllende, gut erträgliche und stressfreie Arbeit in breitem Umfang anzubieten.
Hunderte Millionen Menschen im Globalen Süden arbeiten jedoch immer noch für ein paar Dollar am Tag unter menschenunwürdigen Verhältnissen. Lange Arbeitszeiten, miserabler Arbeitsschutz, unsichere Anstellungsverhältnisse, Frauendiskriminierung, Kinderarbeit unter dem Konkurrenz- und Renditezwang internationaler Handelsströme erinnern an die Zustände im Manchester-Kapitalismus.
Aber auch im Globalen Norden haben sich Löhne und Arbeitsbedingungen unter dem Druck der auf Renditemaximierung ausgerichteten Finanzmärkte zum Teil verschlechtert. Die Stichworte lauten unter anderem: Outsourcing zur Umgehung von Tariflöhnen und -regelungen, prekäre Arbeit mit kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen und Niedriglöhnen, schlechtere Bezahlung von Frauen und hoher Leistungsdruck.
Mit den sich drastisch erweiternden Anwendungsmöglichkeiten moderner Computertechnik werden sowohl die Gefahren weiterer Subordination als auch die positiven Gestaltungsspielräume größer. Die Technik selbst bietet zwar einerseits die Möglichkeit, schwere, monotone und kurzzyklische Arbeit zu verringern. Sie birgt andererseits aber die Gefahr von Überwachung, Atomisierung und weiterer Arbeitsverdichtung.
Die für die Zukunft so wichtige Frage, wie es mit der Produktivitätsentwicklung im 21. Jahrhundert weitergeht, wurde in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in den vergangenen 20 Jahren intensiv diskutiert und ist bislang unentschieden. Nachdem die Arbeitsproduktivität seit Beginn des Jahrhunderts in mehreren OECD-Ländern immer langsamer wächst, herrschen in der ökonomischen Zunft Zweifel, ob das Tempo wieder anzieht.
Am klarsten und einprägsamsten hat bisher Robert Gordon in einer 2013 publizierten Studie die historische Einmaligkeit der Produktivitätsexplosion der letzten 200 Jahre dargestellt (siehe Abbildung 5). Unserer Auffassung nach steht eine „Zweite Halbzeit“ bevor. Wir befinden uns also noch inmitten eines historisch einmaligen Produktivitätssprungs. Es ist wahrscheinlich, dass es in den nächsten 100 Jahren noch einen zweiten „Höcker“ der Gordon’schen Produktivitätskurve geben wird – im Gegensatz zu dem von Gordon selbst prognostizierten Rückgang des Produktivitätswachstums.
Diese Hypothese ergibt sich aus dem historischen Zusammenhang zwischen Automatisierungsgrad und Produktivitätsentwicklung. Die notwendige Arbeitszeit wird in der materiellen Produktion weiter in Richtung null sinken, bis zu dem Minimum, das an Planungs-, Entscheidungs- und Kontrollfunktionen nötig oder an erfüllenden handwerklichen Tätigkeiten erwünscht ist. Für Kopfarbeiten wiederum ergeben sich dank der digitalen Technik ganz neue Einsatzmöglichkeiten.
Der erste Gipfel mit Wachstumsraten um die 2,5 Prozent umfasste im Wesentlichen die Automatisierungen des „ersten Maschinenzeitalters“, die Mechanisierung und Elektrifizierung der Industrie nach 1800. Nach 1950 begann das „zweite Maschinenzeitalter“ mit Computer, Internet und Künstlicher Intelligenz (KI).
Die Entwicklung und der Einsatz des Computers haben zunächst die Berechnungs- und Steuerungsfunktion der Arbeits- und Kraftmaschinen, ganzer Fabriken und Fertigungsketten automatisiert. Mittlerweile dringt die digitale Technik mittels KI auch in immer mehr Bereiche der Kopfarbeit vor. Bildverarbeitung, Sprach- und Textanalyse, ganz allgemein Mustererkennung und -analyse, machen viele kognitive Tätigkeiten einer Maschinisierung zugänglich.
Die heutigen Automatisierungsgrade und die künftigen Automatisierungspotenziale unterscheiden sich je nach Sektor erheblich. Basierend auf der dürftigen Empirie, die Ökonomie, Sozial- und Technikwissenschaften zu diesem zentralen Thema derzeit anzubieten haben, ist in Abbildung 6 eine erste vorsichtige Schätzung zum heutigen Stand und zu den zukünftigen Potenzialen der Automatisierung nach Sektoren dargestellt, die sich bis zum Ende des 21. Jahrhunderts möglicherweise heben lassen.
In der Landwirtschaft, in der Industrie und auch im Finanzbereich dürfte der Automatisierungsgrad heute etwa 50 Prozent betragen. In anderen Bereichen hingegen ist der Automatisierungsgrad noch sehr niedrig. Dies betrifft insbesondere die Bereiche der persönlichen Dienste, Wissens- und Kulturarbeit, den Staat, die Haus- und Familienarbeit sowie das Handwerk. In der Gesamtschau dürfte der Automationsgrad heute über alle Sektoren bei etwa 25 Prozent liegen.
Anstrengungen zur Systematisierung von Automationsstufen und ihrer empirischen Erfassung hatten in den 1950er und 1960er Jahren ihren Höhepunkt und kamen nach 1990 quasi komplett zum Erliegen.
Neben mikro- und makroökonomischen Modellbildungen sollten die Automatisierungspotenziale, also die technischen Möglichkeiten zur Produktivitätssteigerung, sowie die sozialen und organisatorischen Randbedingungen oder Restriktionen ihrer Realisierung, in den verschiedenen Wirtschaftszweigen zu einem Forschungsgegenstand der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften werden. Dies geht nicht vom Schreibtisch aus, sondern nur über den Weg in die Fabriken, die Büros und Praxen. Eine anspruchsvolle, aber dringend nötige Arbeit.
Unserer Einschätzung nach liegen enorme Potenziale für die künftige Automatisierung von Arbeit brach, die heute noch menschliche Kopf- und Handarbeit ist. Diese Potenziale ergeben sich aus der noch ausstehenden Anwendung der neuesten Technik in der Arbeitswelt (zum Beispiel KI-Anwendungen), der zunehmenden Zahl an Forschenden auf der ganzen Welt, die die technische Entwicklung weiter vorantreiben, und dem Streben der Unternehmen nach Arbeitseinsparung, um durch Kostensenkungen Wettbewerbsvorteile zu erzielen.
In einzelnen Sektoren wird es in Zukunft weiterhin größere Anteile an menschlicher Arbeit geben, auch weil diese erfüllend ist und wir diese vielleicht gar nicht an Maschinen abgeben wollen. Dazu zählen beispielsweise das Handwerk, bestimmte persönliche Dienste, Bildung und Kultur sowie die Familienarbeit.
Andere Bereiche hingegen können in viel stärkeren Maße automatisiert werden, sodass viele monotone und belastende Tätigkeiten künftig entfallen dürften. In Summe läge der Automationsgrad dann bei vielleicht 60 bis 70 Prozent. Kurzum: Die zweite Halbzeit der Produktivitätsexplosion der kapitalistischen Epoche stünde uns noch bevor.
Fazit
Die These einer „zweiten Halbzeit“ ist folgenschwer. Der von ChatGTP und anderen generativen KI-Anwendungen ausgelöste KI-Hype hat das Thema Automatisierung wiederbelebt. Auch wenn – wie bei jedem Hype – viele Versprechungen und Hoffnungen, aber auch Ängste bezüglich der generativen, also neue Inhalte erstellenden, KI etwas übertrieben scheinen, sind die Potenziale der Digitalisierung und Automatisierung der Arbeits- und Lebenswelten unübersehbar groß. Und wenn wir in den weiteren Verlauf nicht nur des Jahrzehnts, sondern der nächsten Jahrzehnte schauen, doch wohl auch großteils zu heben.
Daran schließen sich fundamentale Fragen an, die neue Perspektiven für drängende Herausforderungen bringen können: Welche Bedeutung könnte ein stärkerer Automatisierungs- und Produktivitätsschub in Deutschland und Europa für den vor einschneidenden demografischen Veränderungen stehenden Arbeitsmarkt und für die Rentensysteme haben? In welchem Verhältnis stehen Produktivitätssteigerungen durch Innovation und Automatisierung zu den Wirkungen von Zuwanderung und höheren Erwerbsquoten? Schließlich: Was wären die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Innovations- und Automatisierungsoffensive?
Informationen zum Projekt
Marc Amlinger, Cornelius Markert und Horst Neumann gehören zum Kernteam der 7-bändigen Buchedition „Matrix der Arbeit – Materialien zur Geschichte und Zukunft der Arbeit“, die das Institut für die Geschichte und Zukunft Arbeit (IGZA) im August 2023 im J.H.W. Dietz-Verlag veröffentlicht hat. Der hier veröffentlichte Text greift ausgewählte Kernthesen des Werks auf. Das Institut widmet sich in den kommenden Jahren der Forschung zu den aufgeworfenen Fragen. Interessierte Wissenschaftler*innen sind zu einer Mitarbeit an diesen Themen herzlich eingeladen (www.igza.org).
In aller Kürze
- Menschheitsgeschichtlich betrachtet gab es zwei Produktivitätssprünge, die das Leben und die Arbeitsweise der Menschen grundlegend veränderten. Vor 5.000 Jahren fand mit der Pflugwirtschaft ein erster Schub mit dem Faktor 3 statt. Vor 200 Jahren begann mit der Industrialisierung das Maschinenzeitalter. Die Arbeitsproduktivität stieg seitdem um das 30-Fache, insgesant also um etwa das 90-Fache gegenüber der Handarbeit mit einfachen Werkzeugen.
- Auf Basis des zweiten Produktivitätssprungs hat sich der Güterwohlstand in den hoch entwickelten Industrieländern drastisch erhöht, die Erwerbsarbeitszeit hat sich halbiert und macht heute noch ein Sechzehntel der gesamten Lebenszeit aus. Auf der anderen Seite sind auch die destruktiven Folgen für Mensch und Natur unübersehbar. Eine sozial-ökologische Transformation unserer Wirtschafts- und Lebensweise ist unabdingbar für das planetare Überleben.
- Heute werden immer mehr manuelle und kognitive Tätigkeiten einer Automatisierung zugänglich. Das Potenzial für ein weiteres Produktivitätswachstum ist vorhanden und damit auch die Chance, entfremdete, repulsive Arbeit weitgehend abzuschaffen und attraktive, interessante, erfüllende, gut erträgliche und stressfreie Arbeit in breitem Umfang anzubieten.
- Das Tempo der weiteren Entwicklung hängt davon ab, wie schnell die Automatisierungspotenziale in den einzelnen Wirtschaftszweigen mittelfristig ausgeschöpft werden. Die Empirie zum heutigen Stand und zukünftigen Potenzialen ist dringend zu ermitteln, um ein genaueres Bild zu bekommen.
Literatur
Allen, Robert C. (2009): The British Industrial Revolution in Global Perspective. Cambridge University Press.
Baumol, William J. (2012): The Cost Disease. Why Computers Get Cheaper and Health Care Doesn’t. Yale University Press: New Haven.
Broadberry, Stephen; Campbell, Bruce M. S.; Klein, Alexander; Overton, Mark; van Leeuwen, Bas (2015): British Economic Growth 1270-1870. Cambridge University Press.
Dunn, Ross E.; Mitchell, Laura J. (2015): Panorama. A World History. McGraw-Hill: New York.
Gordon, Robert J. (2012). Is US Economic Growth over? Faltering Innovation Confronts the Six Headwinds. NBER Working Paper 18315. National Bureau of Economic Research, Cambridge.
Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit (IGZA) (Hg.) (2023): Matrix der Arbeit. Materialien zur Geschichte und Zukunft der Arbeit.
Keynes, John Maynard (1930): Economic Possibilities for our Grandchildren. In: Keynes, John Maynard (Hrsg.): Essays in Persuasion 1932, S. 358-373. Harcourt Brace: New York.
Maddison, Angus (2007): Contours of the World Economy 1 – 2030 AD. Essays in Macro-Economic History. Oxford University Press.
Morris, Ian (2013): The Measure of Civilisation. How Social Development Decides the Fate of Nations. Profil Books: London.
Scheidel, Walter; Friesen, Steven J. (2009): The Size of the Economy and the Distribution of Income in the Roman Empire. The Journal of Roman Studies 99, S. 61-91.
Bild: ART STOCK CREATIVE/stock.adobe.com
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20240104.01
Markert, Cornelius; Amlinger, Marc (2024): Geschichte und Zukunft der Arbeit: Ende oder Halbzeit des großen Produktivitätssprungs?, In: IAB-Forum 4. Januar 2024, https://www.iab-forum.de/geschichte-und-zukunft-der-arbeit-ende-oder-halbzeit-des-grossen-produktivitaetssprungs/, Abrufdatum: 18. December 2024
Diese Publikation ist unter folgender Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht: Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International (CC BY-SA 4.0): https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
Autoren:
- Cornelius Markert
- Marc Amlinger