27. März 2020 | Internationale und regionale Arbeitsmärkte
Gerade in Ostdeutschland leisten Betriebsgründungen einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer mittelständischen Wirtschaft
Ostdeutschland war zu DDR-Zeiten von Großbetrieben geprägt. Sozialistisches Ideal waren monopolistische Einheiten, sogenannte Kombinate, die aufgrund ihrer Größe maximal effizient wirtschaften sollten. Kleine Unternehmen in Privateigentum spielten praktisch keine Rolle. Umso größer waren daher die Umwälzungen, die mit der Vereinigung kamen.
Durch ihre Einbindung in den wirtschaftlichen Zusammenschluss der sozialistischen Staaten, dem „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (Comecon), war die ostdeutsche Wirtschaft auf die Herstellung bestimmter Produkte innerhalb des Wirtschaftsverbundes spezialisiert. Der Vertrieb war ein rein logistisches Problem. Marketing und Innovationen zur Erschließung neuer Kunden waren wegen des Mangels an Konsumgütern überflüssig. Nicht zuletzt dieser Mangel an Konkurrenz führte zu Produkten und Dienstleistungen, die gegenüber den nach der Vereinigung auf den ostdeutschen Markt strömenden Produkten aus den westeuropäischen Ländern nicht konkurrenzfähig waren.
Große Hoffnung ruhte daher auf den Unternehmen, die nach der Wiedervereinigung neu gegründet wurden. Sie sollten den überfälligen wirtschaftsstrukturellen Wandel vorantreiben und für neue zukunftsfähige Arbeitsplätze sorgen. Auf mittlere Sicht ruhte auf diesen jungen Unternehmen die Hoffnung auf die Entstehung und den Aufbau eines ostdeutschen Mittelstands. Zusammen mit den durch die Treuhand veräußerten und modernisierten Großbetrieben sollten sie das Herzstück der ostdeutschen Wirtschaft bilden.
Inwieweit sich diese Erwartungen erfüllt haben, lässt sich mithilfe von Daten aus der sogenannten Betriebs-Historik-Datei des IAB zeigen, deren Daten für Ostdeutschland ab 1993 ausgewertet werden können.
Tatsächlich wurden in den 1990er Jahren in Ostdeutschland besonders viele Betriebe gegründet (siehe Abbildung 1). Allein 1993 wurden 71.000 neue Betriebe gezählt. In Westdeutschland waren es nur 40.000 mehr, obwohl in diesem Jahr lediglich gut 17 Prozent aller Erwerbspersonen in Ostdeutschland lebten. Dies entsprach fast 8 Gründungen je 1.000 Personen im Osten gegenüber 2,5 im Westen.
Viele dieser frühen Gründungen sind dem raschen Anstieg der Arbeitslosigkeit geschuldet, der durch den Zusammenbruch der ostdeutschen Großbetriebe ausgelöst wurde. In einer Untersuchung ostdeutscher Unternehmensgründungen von May-Strobel und Paulini aus dem Jahr 1990 gaben 43 Prozent der befragten Gründerinnen und Gründer Arbeitslosigkeit als ein Motiv für die Gründung an. Zudem boten sich für Gründungen viele Möglichkeiten, denn zu dieser Zeit war die Neugier auf das neue Angebot groß und die Konkurrenz zunächst noch gering.
Bis 1997 sank die Anzahl der Gründungen im Osten auf gut 40.000. Danach nahmen die Gründungsaktivitäten im Westen wie im Osten etwa bis zur Jahrtausendwende im Zuge der sogenannten „Dotcom“-Blase zunächst wieder erheblich zu, gingen dann aber rasch wieder zurück. Zugleich blieb die Gründungsintensität in Ostdeutschland in jedem Jahr deutlich höher als in Westdeutschland.
Mehr als ein Drittel der ostdeutschen Neugründungen entfallen inzwischen auf Berlin
Betrachtet man die Entwicklung des Gründungsgeschehens innerhalb Ostdeutschlands, so fällt auf, dass sich die regionalen Schwerpunkte im Laufe der Jahre verschoben haben (siehe Abbildungen 2a/b). Während der ersten Dekade nach der Vereinigung wurde überall in Ostdeutschland exzeptionell viel gegründet. Erst mit der Jahrtausendwende fand eine stärkere Binnendifferenzierung statt.
Insbesondere Berlin gewann im Laufe der Zeit immer weiter an Gewicht: 1993 entfielen 15 Prozent aller ostdeutschen Gründungen auf Berlin, zehn Jahre später bereits 25 Prozent und 2017 sogar 36 Prozent. Neben Berlin und an Berlin angrenzende Kreise konzentriert sich das Gründungsgeschehen in Ostdeutschland auf Leipzig sowie auf ein Cluster um Rügen, das im Wesentlichen aus tourismusnahen Gründungen besteht. Demgegenüber ist die Zahl der Neugründungen in anderen Teilen Ostdeutschlands seit Jahren stark rückläufig.
Besonders bemerkenswert: Der Anteil sogenannter Notgründungen, die entstehen, weil Gründerinnen und Gründer keine abhängige Beschäftigung finden, ist im Osten mittlerweile deutlich geringer als im Westen. Der anfangs hohe Anteil ist laut IAB-ZEW-Gründungspanel auf 6 Prozent im Jahr 2017 gesunken – rund 5 Prozentpunkte weniger als im Westen.
Allerdings kann ein Vergleich der Anzahl der Gründungen allein leicht in die Irre führen, denn viele Unternehmensgründungen setzen sich nicht durch und werden bald wieder aufgegeben. Die Ursachen hierfür sind vielschichtig. So ist die Aufgabe einer Geschäftsidee keineswegs immer eine persönliche Katastrophe für die Gründerin oder den Gründer. Das ändert indes nichts daran, dass nur solche Unternehmensgründungen, die sich länger am Markt behaupten, auch in nennenswertem Umfang Beschäftigungseffekte nach sich ziehen.
Ostdeutsche Gründungen wachsen im Schnitt schneller
Viele junge Betriebe überleben nur kurze Zeit, und die meisten überlebenden Betriebe bleiben klein. Durchschnittlich scheiden etwa 40 Prozent der Gründungen bereits vor dem dritten Jahr wieder aus. Und das, obwohl in diese Untersuchung nur solche Betriebe eingeflossen sind, die mindestens einen Mitarbeiter beschäftigen, also bereits eine gewisse Substanz aufweisen.
Im Zeitverlauf zeigt sich, dass Betriebe, die vor 1996 in Ostdeutschland gegründet wurden, im Durchschnitt eine höhere Überlebenschance hatten als westdeutsche Gründungen. Dies änderte sich mit dem Einsetzen der „Dotcom“-Blase um die Jahrtausendwende. In dieser Zeit waren westdeutsche Gründungen im Vorteil, denn sie überlebten zu einem höheren Anteil die ersten drei Jahre als ihre ostdeutschen Pendants.
Seit 2006 sind keine ausgeprägten Unterschiede mehr zwischen beiden Landesteilen zu erkennen. Über den gesamten Zeitraum gesehen sind daher die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland nur gering.
Deutlich größer sind die Unterschiede beim Wachstum der jungen Firmen. Vor allem Betriebe, die in den Jahren nach der Vereinigung gegründet wurden, waren sehr erfolgreich. Sie beschäftigten nach drei Jahren bereits durchschnittlich 6,5 Mitarbeiter – 2,4 Beschäftigte mehr als ihre westdeutschen Pendants.
In ostdeutschen Betrieben, die im Jahr 2014 gegründet wurden – dem jüngsten Jahrgang, dessen Entwicklung über drei Jahre beobachtet werden kann – waren 2017 durchschnittlich 4,2 Personen beschäftigt, in Westdeutschland nur 3,6. Seit 1993 gibt es kein Jahr, in dem ostdeutsche Gründungen nicht stärker gewachsen sind als westdeutsche.
Junge Firmen haben für den ostdeutschen Arbeitsmarkt große Bedeutung
Der Osten Deutschlands wird daher deutlich stärker durch junge Betriebe geprägt als der Westen. Im Jahr 2017 arbeitete mehr als jeder dritte ostdeutsche Beschäftigte in einem Betrieb, der seit 1993 gegründet wurde. In Westdeutschland trifft das nur auf jeden vierten Beschäftigten zu (siehe Abbildung 3). Dieser Unterschied ist wesentlich auf die Betriebe zurückzuführen, die relativ kurz nach der Vereinigung gegründet wurden und bis 2017 in größerem Umfang Beschäftigung aufgebaut haben.
Das hohe Gewicht der frühen Gründungen spiegelt sich auch darin wider, dass nicht nur in Berlin, sondern auch in sehr vielen anderen ostdeutschen Regionen mehr als 30 Prozent aller Beschäftigten in solchen Betrieben tätig sind. Eine Konzentration auf Berlin, wie sie bei den Gründungsraten zu erkennen ist (siehe Abbildung 3), zeichnet sich hier also noch nicht ab.
Mittelständische Firmen bilden das Rückgrat vieler westdeutscher Regionen, sie gelten ihren Regionen als in besonderer Weise verbunden. In der DDR hingegen hatte die Verstaatlichung der privaten Unternehmen den dortigen mittelständischen Unternehmen ein Ende gesetzt. Ein Neuaufbau mittelständischer Unternehmen mit klaren regionalen Wurzeln konnte demnach nur über die Gründung neuer Firmen mit entsprechendem Potenzial erfolgen.
Gründerinnen und Gründer sind meist bereits in der Region, in der sie gründen, ansässig. Verlagerungen junger erfolgreicher Unternehmen sind zwar nicht selten, erfolgen aber in der Regel eher kleinräumig.
Vor allem die Gründungen in den ersten Jahren nach der Vereinigung dürften maßgeblich zum Aufbau einer mittelständischen Wirtschaft in Ostdeutschland beigetragen haben. Eine präzise Einschätzung, inwieweit dies der Fall ist, ist mit den vorliegenden Informationen allerdings nicht möglich.
Legt man als zentrales Kriterium für ein mittelständisches Unternehmen die Anzahl der Beschäftigten zugrunde, so zeigt sich, dass im Osten mit 73 Prozent relativ mehr Menschen in Betrieben mit bis zu 250 Beschäftigten arbeiten als im Westen mit 67 Prozent (siehe Abbildung 4). Dies deckt sich mit dem Befund des geringeren Durchschnittsalters der Betriebe und der größeren Gründungsdynamik im Osten.
Zentrale Kriterien der üblichen Definition von Mittelstand beinhalten neben Informationen über die Anzahl der Beschäftigten und den Umsatz auch solche über die Eigentumsverhältnisse sowie darüber, ob die Eigentümer aktiv in die Geschäftsführung eingebunden sind.
Während in beiden Landesteilen knapp 90 Prozent der Betriebe zumindest unter Beteiligung der Eigentümer geführt werden, zeigen sich deutliche Unterschiede bei der Herkunft der Gründer: In Westdeutschland sind 92 Prozent der Betriebe in westdeutschem Eigentum, nur 0,2 Prozent in ostdeutschem. In Ostdeutschland hingegen sind lediglich 73 Prozent der Eigentümer Ostdeutsche, 16 Prozent kommen aus Westdeutschland. Dieser deutliche Unterschied lässt sich nicht dadurch erklären, dass in Ostdeutschland nur 20 Prozent der Bevölkerung lebt.
Fazit
Die vergleichsweise starken Gründungsaktivitäten und der beachtliche Erfolg der jungen Betriebe haben wesentlich zum Arbeitsplatzaufbau in Ostdeutschland beigetragen. Bedenklich ist allerdings, dass sich diese jungen Betriebe mittlerweile sehr stark auf Berlin konzentrieren. Vor allem in den ländlich-abgelegenen ostdeutschen Regionen ist die Neigung, einen Betrieb zu gründen, deutlich geringer.
Hinzu kommt, dass in Ostdeutschland zwar der Anteil der kleineren Betriebe höher ist als im Westen, sich aber ein deutlich höherer Anteil von Betrieben in auswärtigem, das heißt vor allem westdeutschem Eigentum befindet. Dies deutet auf strukturelle Unterschiede hin: Im Gegensatz zu Betrieben, deren Eigentümer und Gründer aus der Region stammen, ist die Autonomie von Zweigbetrieben deutlich eingeschränkt. Daher lässt sich schlussfolgern, dass auch 30 Jahre nach der Vereinigung eigenständige mittelständische Unternehmen in Ostdeutschland eine geringere Rolle spielen als in Westdeutschland.
Junge Unternehmen sind allerdings in Krisen besonders anfällig. Dies gilt vor allem dann, wenn nicht, wie in der Krise von 2008/09, sehr rasch wieder ein Aufschwung folgt. Deshalb wird die Corona-Krise, wenn sie denn nicht rasch vorübergehen sollte, desaströse Auswirkungen auf dieses Unternehmenssegment haben.
Literatur
May-Strobel, Eva; Paulini, Monika (1990): Unternehmensgründungen in den fünf neuen Bundesländern. ifm-Materialien Nr. 77. Institut für Mittelstandsforschung, Bonn.
Bellmann, Lisa; Brixy, Udo ; D'Ambrosio, Anna (2020): Gerade in Ostdeutschland leisten Betriebsgründungen einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer mittelständischen Wirtschaft, In: IAB-Forum 27. März 2020, https://www.iab-forum.de/gerade-in-ostdeutschland-leisten-betriebsgruendungen-einen-wichtigen-beitrag-zum-aufbau-einer-mittelstaendischen-wirtschaft/, Abrufdatum: 24. November 2024
Autoren:
- Lisa Bellmann
- Udo Brixy
- Anna D'Ambrosio