Der Druck auf die Industrie in Deutschland ist gewaltig: Knappheit und Verteuerung von Energie, gerissene Lieferketten, ein drohendes Auseinanderdriften der großen Wirtschaftsblöcke. All dies wirft die Frage auf, welche Entwicklung die deutsche Industrie grundsätzlich einschlagen kann und soll. Ist ein klassischer industrieller Kern unter diesen Bedingungen überhaupt noch zukunftsfähig? Steht Deutschland vor einer Deindustrialisierung?

Ob gerade die energieintensive Wirtschaft in Deutschland dauerhaft Bestand haben wird, steht derzeit massiv in Frage. Die Zeiten günstiger Energie haben ein abruptes Ende gefunden. Auch wenn sich die Energiepreisentwicklung nach dem ersten Schock zuletzt entspannt hat, dürfte das Vor-Corona-Niveau vorerst nicht wieder erreicht werden, und die Unsicherheit bleibt hoch. Müssen wir also einen erheblichen Teil der deutschen Industrie abschreiben, weil sie hierzulande nicht mehr wettbewerbsfähig produzieren kann? Und sind zukunftsfähige Geschäftsfelder in einer ökologischen Wirtschaft ohnehin andere?

Diese gibt es in der Tat, die wirtschaftlichen Chancen der Transformation sind erheblich. Nach IAB-Ergebnissen wird alleine die Umsetzung der klima- und baupolitischen Ziele im Koalitionsvertrag die Wirtschaftsleistung um mehr als ein Prozent erhöhen. 400.000 zusätzliche Jobs entstehen dabei in Bereichen wie Elektro-, Klima- und Heizungstechnik.

Gleiches gilt für die Transformation der Mobilität: Sicher gehen durch die Umstellung weg vom Verbrenner oder autonomes Fahren etablierte Jobs verloren. Dies aber wird mehr als aufgewogen durch Beschäftigung in einem modernen Verkehrswesen, in den Bereichen Organisation, Steuerung, IT, Infrastruktur. Dabei geht es oft um gut qualifizierte Tätigkeiten. Wir tauschen also keineswegs gute Industriearbeitsplätze gegen Billig-Jobs.

Bei allen akuten Verwerfungen ist diese Umstellung auch eine Quelle von Innovationen, die sich bei einer weniger ruckartigen Entwicklung, wie sie durch den russischen Krieg gegen die Ukraine ausgelöst wurde, kaum aufgetan hätte. Es geht um neue Geschäftsmodelle, Speicher, Batteriesteuerung, Elektrolyseure, Energie-Infrastruktur, neue Materialien und vieles andere mehr.

Die Märkte und Standorte werden jetzt gestaltet, das Potenzial geht über die graduelle Weiterentwicklung der fossilen Wirtschaft deutlich hinaus. Das bietet auch erhebliche Chancen für die etablierte Industrie. So könnten Produzenten von Maschinen und Anlagen sowie elektrischen Ausrüstungsgütern ihr Know-how in der aktuellen Krise dazu nutzen, um sich auch im wachsenden Markt für Wasserstofftechnologien zu etablieren.

Die Förderung der Energiewende muss unverzüglich und umfassend hochgefahren werden

Auch deshalb muss die Förderung der Energiewende unverzüglich und umfassend hochgefahren werden. Ein besseres Geschäft werden wir politisch wie wirtschaftlich nicht finden. Dazu gehören Anreize und Hilfen für Investitionen in Dekarbonisierung, erneuerbare Energien und Energieeffizienz und entsprechende staatliche Infrastrukturinvestitionen. Staatliche Rahmensetzung und Investitionspolitik muss dabei antizipierbar sein, um marktwirtschaftliche Dynamik in der Transformation in Gang zu setzen, Kapazitäten zu erhöhen und so den Preisdruck zu dämpfen.

In der Energiewende liegt die Zukunft zentraler wirtschaftlicher Geschäftsfelder, aber auch der traditionellen Industrie. In einem transformierten System wird erneuerbare Energie zu Grenzkosten produziert, die nahe Null liegen. Sicher, bis dahin sind noch etliche Probleme zu lösen und Schritte zu gehen – von schnelleren Genehmigungsverfahren bis hin zum umfassenden Aufbau von Wasserstofftechnologien. Aber wir sollten unter dem kurzfristigen Eindruck der Krise nicht eine Industrie aufgeben, die wesentlich das Produkt nutzt, dessen Erzeugung wir gerade transformieren wollen: Energie.

Die Industrie muss im Transformationsprozess unterstützt werden

In der Krise sollten wir daher alles dafür tun, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Das ist auch deshalb wichtig, weil es um Grundstoff- und Zulieferindustrien geht. Reißen diese Lieferketten, so kommt es bei den Abnehmern zu weiteren Produktionsrückgängen und Preiserhöhungen.

Lieferketten sind zugleich auch langfristig von kaum zu unterschätzender Bedeutung: Resilienz und Risikobetrachtung müssen viel stärker als bisher ein Bestandteil der wirtschaftspolitischen Agenda sein. Das ist im Zuge der Corona-Krise ebenso deutlich zu Tage getreten wie beim Ukraine-Krieg, der uns die wachsenden geopolitischen Spannungen besonders drastisch vor Augen führt.

Die Produktion zu unterstützen, ist dabei keine reine Erhaltungsmaßnahme. Schließlich kann sich eine Industrie, die einbricht, nicht transformieren. Betrieben mit stark steigenden Energiekosten zu helfen, wie durch das Energiekostendämpfungsprogramm oder die sogenannten Energiepreisbremsen geschehen, ist deshalb sinnvoll. Deren Umfang sollte perspektivisch auch an der Aufrechterhaltung der Produktion ausgerichtet sein.

Während die Energiepreisbremsen insgesamt rechtzeitig gelockert werden müssen, wird es eine Übergangsphase geben, in der die Transformation noch nicht hinreichend vorangeschritten ist. Hier sollte die Unterstützung der energieintensiven Wirtschaft fortgeführt und langsam nach unten gefahren werden, abhängig von nachprüfbaren Transformationsanstrengungen der Unternehmen. Die sogenannten Klimaschutzverträge sind ein erstes Instrument in eine solche Richtung.

Industriepolitik muss auf europäischer Ebene effizient und transparent organisiert werden

Wie lange nicht, wird derzeit die wirtschaftliche Struktur unseres Landes als Zukunftsfrage diskutiert. Struktur- und Industriepolitik rückt damit ins Zentrum. Allerdings ist diese Politik chronisch anfällig für den Einfluss von Lobbygruppen, Fehlsteuerungen und Beharrungstendenzen. Gerade in diesen Zeiten ist daher ein effizienter und transparenter Prozess der Industriepolitik wichtig. Dieser muss gesellschaftliche Ziele und Zeithorizonte definieren, Ergebnisse systematisch evaluieren und sinnvolle Anpassungen ableiten.

Und er muss europäisch angelegt sein, denn die Europäische Union (EU) ist die für eine Neuordnung des Wirtschafts- und Energiesystems und für eine strategische Handelspolitik relevante Ebene. Vorlagen für einen solchen Prozess können das Europäische Semester oder der Prozess zur Erstellung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne der EU bieten.

Eine führende Position in den Wirtschaftsfeldern der Energiewende erreichen wir nicht dadurch, dass wir energieintensive Produktion aufgeben, sondern indem wir sie fortführen und den Transformationsdruck hochhalten. Das führende Land der Dekarbonisierungs-Industrie zu werden, das auf diese Weise auch seinen industriellen Kern in die transformierte Welt bringt – das ist das Zukunftsmodell für Deutschland.

Literatur

Dauth, Wolfgang, Kathrine von Graevenitz & Markus Janser (2022): Die Energiekrise wird manche Regionen härter treffen als andere. In: IAB-Forum, 26.10.2022.

Grimm, Veronika, Markus Janser & Michael Stops (2021): Neue Analyse von Online-Stellenanzeigen: Kompetenzen für die Wasserstofftechnologie sind jetzt schon gefragt. IAB-Kurzbericht Nr. 11.

Kagerl, Christian; Moritz, Michael; Roth, Duncan; Stegmaier, Jens; Stepanok, Ignat; Weber, Enzo (2022): Energiekrise und Lieferstopp für Gas: Auswirkungen auf die Betriebe in Deutschland. Wirtschaftsdienst, Jg. 102, H. 6, S. 486-49.

Mönnig, Anke; von dem Bach, Nicole; Helmrich, Robert; Steeg, Stefanie; Hummel, Markus; Schneemann, Christian; Weber, Enzo; Wolter, Marc Ingo; Zika, Gerd (2021): „MoveOn“ III: Folgen eines veränderten Mobilitätsverhaltens für Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Wissenschaftliche Diskussionspapiere/ Bundesinstitut für Berufsbildung 230.

Weber, Enzo (2022): Den Kopf aus dem Sand! Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.10.2022, S. 16.

Weber, Enzo (2022): Drohende Rezession: Eine Krisenpolitik für die Zukunft der energieintensiven Wirtschaft. Makronom, 13.11.2022.

Zenk, Johanna; Hupp, Jonas; Mönnig, Anke; Ronsiek, Linus; Schneemann, Christian; Schroer, Jan Philipp; Schur, Alexander Christian (2023): Exportpotenziale von Wasserstofftechnologien. BIBB Discussion Paper (im Erscheinen).

Zika, Gerd, Tobias Maier, Anke Mönnig, Christian Schneemann, Stefanie Steeg, Enzo Weber, Marc Ingo Wolter & Jonas Krinitz (2022): Die Folgen der neuen Klima- und Wohnungsbaupolitik des Koalitionsvertrags für Wirtschaft und Arbeitsmarkt. IAB-Forschungsbericht Nr. 3.

 

doi: 10.48720/IAB.FOO.20230119.01

Weber, Enzo (2023): Grüne Energie ist die Zukunft der deutschen Industrie, In: IAB-Forum 19. Januar 2023, https://www.iab-forum.de/gruene-energie-ist-die-zukunft-der-deutschen-industrie/, Abrufdatum: 23. November 2024