2. Mai 2024 | IAB-Debattenbeiträge
Einführung der Vier-Tage-Woche in Zeiten des Arbeits- und Fachkräftemangels: Chance oder Risiko?
Trotz oder vielleicht gerade wegen des wachsenden Arbeits- und Fachkräftemangels werden immer häufiger kürzere Arbeitszeiten gefordert. Dies erscheint insofern kontraintuitiv, als kürzere Arbeitszeiten bei einer – vor allem demografisch bedingt – endlichen Zahl von Beschäftigten das verfügbare Arbeitsvolumen verringern.
Die Länge der Arbeitszeit gehört aber auch zu denjenigen Arbeitsbedingungen, die über die Attraktivität eines Arbeitgebers entscheiden. Je nach individueller Lebenssituation hat die Länge der Arbeitszeit zudem Einfluss darauf, wie viele Menschen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. In diesem Spannunsgverhältnis bewegt sich auch die Debatte um die Vier-Tage-Woche.
Für die Vier-Tage-Woche gibt es eine Vielzahl möglicher Ausgestaltungsmodelle. Damit verbinden sich zugleich zahlreiche offene Fragen. Der kleinste Schritt bestünde darin, die Vollzeit-Arbeitszeit einfach von bisher fünf auf vier Tage in der Woche zu verteilen. Ein Tag würde damit frei, an den anderen Tagen würde entsprechend mehr gearbeitet. Ein weitergehender Schritt bestünde darin, die Arbeit auf vier Tage zu verteilen und die Arbeitszeit um bis zu 20 Prozent zu verkürzen.
Eine weitere wichtige Gestaltungsfrage betrifft den mit der Arbeitszeitverkürzung eventuell verbundenen Lohnausgleich, der voll, teilweise oder gar nicht gewährt werden kann. Spätestens, wenn es zu einem Lohnausgleich kommt, ist zu klären, ob Teilzeitbeschäftigte von dem höheren Stundenlohn, wie er nach dem Ausgleich für Vollzeitbeschäftigte gelten würde, ebenfalls profitieren sollen. Klar ist: Je stärker die Arbeitszeitverkürzung und der damit gegebenenfalls verbundene Lohnausgleich ausfallen, desto teurer wird es für die Wirtschaft.
Die Vier-Tage-Woche kann sich für einzelne Unternehmen lohnen
Dennoch kann sich eine viertägige Arbeitswoche aus dem Blickwinkel eines einzelnes Unternehmens rechnen: Wenn es so leichter Personal gewinnen oder an sich binden kann, wenn die Beschäftigten motivierter und konzentrierter arbeiten, wenn sie sich besser erholen können und seltener krank sind, wenn es sich vielleicht um ein Geschäftsmodell im Bereich kreativer Dienstleistungen handelt, bei dem es sowieso mehr um die Ergebnisse und weniger um die geleisteten Arbeitsstunden oder auch um Präsenz geht, kann viel für ein solches Arbeitszeitmodell sprechen. Das gilt umso mehr, wenn die Kundinnen und Kunden des Unternehmens nicht nur auf den Preis, sondern vor allem auf die Qualität achten.
Offensichtlich ist aber auch, dass auf einzelwirtschaftlicher Ebene eine Vier-Tage-Woche mit Lohnausgleich in den seltensten Fällen kostenneutral sein wird. So kann eine Busfahrerin nicht durch eine erhöhte Fahrgeschwindigkeit die Kosten konstant halten, ein Lehrer mit kürzerer Arbeitszeit wohl kaum effizienter unterrichten und das Pflegepersonal in Krankenhäusern erst recht nicht bei ihrer Pflegetätigkeit knapsen.
Eine Vier-Tage-Woche wirft damit zudem organisatorische Fragen auf. Im Einzelfall kann sie sogar zu einem Treiber von Innovation und internem Bürokratieabbau werden. Dies gilt vor allem dann, wenn die kürzere Arbeitszeit dazu beiträgt, dass sich Beschäftigte mehr auf ihre Kernaufgaben konzentrieren können. Aber auch wenn man dies berücksichtigt, wäre in vielen Betrieben die Einführung einer Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich nicht ohne Kostensteigerungen zu haben.
Dazu kommt, dass die Vorteile einzelner Unternehmen im Wettbewerb um begehrtes Personal verloren gingen, wenn andere Unternehmen nachzögen. Mit anderen Worten: Bestimmte Ausgestaltungsoptionen, die betriebswirtschaftlich zunächst rational sein mögen, sind es nicht notwendigerweise auch auf volkswirtschaftlicher Ebene. Volkswirtschaftlich betrachtet geht es darum, wie sich die Vier-Tage-Woche längerfristig auf das Bruttoinlandsprodukt, die Stundenproduktivität, das Arbeitsvolumen und die Erwerbsbeteiligung auswirken könnte. Je nach Ausgestaltungsoption kann das Ergebnis sehr unterschiedlich ausfallen.
Bei einer lediglich „umverteilten Vollzeit“ wären die gesamtwirtschaftlichen Effekte begrenzt
Würde man die Vier-Tage-Woche in Form einer lediglich „umverteilten Vollzeit“ umsetzen, dürften sich die gesamtwirtschaftlichen Effekte in Grenzen halten. Zu beachten ist hier zum einen, dass die Personaldispositionen nicht zur Einschränkung des Angebots führen sollten, zum Beispiel in Form kürzerer Öffnungs- und Betriebszeiten. Dies könnte das Wirtschaftswachstum dämpfen – so wie wir es jetzt als Folge des Fachkräftemangels erleben. Zum anderen führt eine umverteilte Vollzeit zu längeren Arbeitstagen. Dies könnte die Arbeitsproduktivität mindern und beispielsweise das Risiko von Ausfallzeiten erhöhen.
Eine Vier-Tage-Woche mit Arbeitszeitverkürzung ohne jeden Lohnausgleich ist nichts anderes als ein „Teilzeitmodell“. Die in den betreffenden Betrieben geleistete Arbeitszeit pro Kopf ginge hierdurch zwar zurück. Es ist aber offen, inwieweit dies auch gesamtwirtschaftlich gilt. Beschäftigte könnten dies im Falle unfreiwilliger Lohnkürzungen auszugleichen suchen, etwa durch Überstunden im selben Unternehmen, Nebenjobs in einem anderen Unternehmen, die Aufnahme einer nebenberuflichen Selbständigkeit oder gar durch Schwarzarbeit. Dies dürfte vor allem dann der Fall sein, wenn Menschen auf das zusätzliche Einkommen angewiesen sind.
Wenn das Bruttoinlandsprodukt trotz Arbeitszeitverkürzung stabil bleiben soll, müsste diese durch eine höhere Stundenproduktivität und/oder eine höhere Zahl von Beschäftigten ausgeglichen werden. Tatsächlich könnte die Zahl der Erwerbspersonen steigen, weil dank kürzerer Arbeitszeiten mehr Menschen für den Arbeitsmarkt gewonnen oder in Beschäftigung bleiben könnten. Dazu müssten die Betroffenen aber die mit der Verkürzung der Arbeitszeit zu erwartende Arbeitsverdichtung verkraften können.
Eine Produktivitätssteigerung um 25 Prozent ist für die allermeisten Unternehmen unrealistisch
Die für die Gesamtwirtschaft problematischste Variante ist eine Vier-Tage-Woche mit verkürzter Arbeitszeit und vollem Lohnausgleich. Mit „vollem Lohnausgleich“ ist hier gemeint, dass die Verdienste trotz Arbeitszeitverkürzung nominal konstant bleiben und die Lohnentwicklung nicht durch die Arbeitszeitverkürzung gedämpft würde. Im Ergebnis käme es zu einer „neuen Vollzeit“ – möglicherweise dann auch als Referenz für Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse.
Käme es für die Unternehmen zu keiner Kompensation, etwa in Form geringerer Lohnzuwächse (bezogen auf eine Vollzeitbeschäftigung), würde der daraus resultierende Kostenschub den Druck auf die Unternehmen erhöhen, ihre Preise zu erhöhen oder ihre Produktivität zu steigern.
Damit es für sie kostenneutral bleibt, müssten die Unternehmen bei einer Verkürzung der Arbeitszeit um ein Fünftel und einer gleich bleibenden Zahl der eingesetzten Beschäftigten die Stundenproduktivität um ein Viertel steigern. Selbst wenn es dann vielleicht weniger Kaffeepausen, Leerlauf, bürokratische Vorgaben, unnötig lange Besprechungen und einen womöglich niedrigeren Krankenstand geben sollte: 25 Prozent Produktivitätssteigerung ist für die allermeisten Unternehmen nicht realistisch, zumal viele von ihnen bereits in der Vergangenheit ihre Prozesse verschlankt und Arbeit verdichtet haben.
Da sich das gesamte Paket der Arbeitsbedingungen aber aus Beschäftigtensicht durch eine „neue Vollzeit“ verbessern würde, wären zugleich steigende Erwerbsquoten wahrscheinlich. Die notwendige Ersatzbeschäftigung könnte leichter realisiert werden, wenn auch zu höheren Kosten.
Ein Mehr an einvernehmlicher Flexibilität wäre ein Gewinn für die Gesellschaft, die Beschäftigten und die Betriebe
Volkswirtschaftlich betrachtet würden sich bereits bestehende Arbeits- und Fachkräfteengpässe durch einen verstärkten Übergang zu einer Vier-Tage-Woche – ob mit oder ohne Lohnausgleich – mit hoher Wahrscheinlichkeit verschärfen, insbesondere wenn hierdurch ein gesamtwirtschaftlicher Trend zu kürzeren Arbeitszeiten in Gang käme. Vielversprechender und praktikabler erscheint es hingegen, in noch stärkerem Maße Arbeitszeitmodelle für die Beschäftigten maßzuschneidern und deren Gehalt an der Wochenarbeitszeit zu bemessen. Das kann dann eine Drei-, Vier- oder Fünf-Tage-Woche sein mit einer täglichen Arbeitszeit von fünf, sechs, sieben oder acht Stunden.
Das Arbeitsrecht erlaubt all diese Varianten schon jetzt, zumal Befragungen zeigen, dass die meisten Menschen, gerade im Bereich der sozialversicherungspflichtigen Teilzeit, ungefähr so viel arbeiten, wie sie es sich wünschen. Vollzeitbeschäftigte würden oft gerne etwas weniger arbeiten, Minijob-Beschäftigte oft einige Stunden mehr.
Die Umsetzung dieser Wünsche ist aber eine Frage der Vereinbarungen zwischen den Beschäftigten und ihren Arbeitgebern oder auch der Tarifparteien. Es spricht erst einmal nichts dagegen, wenn bei Tarifverhandlungen ein Teil des sonst möglichen Lohnzuwachses zur Verringerung der Arbeitszeit eingesetzt wird. Um den unterschiedlichen Bedarfen der Beschäftigten Rechnung zu tragen, kann dies auch mit einer Wahlmöglichkeit zwischen Geld und Zeit verbunden sein.
Wenn es gelingt, durch flexiblere Arbeitszeitmodelle mehr Menschen dazu zu bewegen, länger als bisher oder überhaupt statt gar nicht zu arbeiten, wäre das ein Gewinn für die Gesellschaft, für die Beschäftigten und die Betriebe. Flexiblere Arbeitszeitmodelle können bei vielen Tätigkeiten auch mit mehr Flexibilität bei der Wahl des Arbeitsortes einhergehen – je nach Beruf kann ja ein guter Teil der Arbeit zu Hause erledigt werden.
Mehr Flexibilität setzt aber voraus, dass die Rahmenbedingungen stimmen: Eine verbesserte soziale Infrastruktur, zum Beispiel in Form von mehr Ganztagskindergärten und -schulen, wie auch effektivere Arbeitsanreize im Steuer- und Transfersystem und die Vermeidung übermäßiger Arbeitsbelastungen sind hier wichtig.
Fazit
Mehr Flexibilität ist die beste Lösung, wenn dabei die Wünsche der Beschäftigten und die spezifischen Anforderungen der Betriebe klug miteinander in Einklang gebracht werden. Eine Vier-Tage-Woche kann die Attraktivität eines Arbeitgebers erhöhen. Sie verdichtet aber auch die Arbeit, was zwar die Produktivität der Beschäftigten steigert, doch dem Ziel einer geringeren Arbeitsbelastung unter Umstanden zuwiderläuft.
Etwaige Anpassungen beim Arbeitsentgelt müssen von den Beteiligten unter Berücksichtigung der jeweiligen Rahmenbedingungen vereinbart werden. Da diese Rahmenbedingungen jedoch höchst unterschiedlich sein können, kann es hier keine Empfehlungen für die Wirtschaft als Ganzes geben – insbesondere was die Höhe eines etwaigen Lohnausgleichs anbelangt. Was in einer Branche funktionieren mag, könnte in einer anderen Branche durchaus hochproblematisch sein.
Aus Sicht der Wissenschaft bedarf es noch eines besseren Verständnisses darüber, wie sich die verschiedenen Gestaltungsoptionen einer Vier-Tage-Woche in der Praxis auswirken. Die einschlägige Forschung sollte idealerweise in enger Zusammenarbeit mit der betrieblichen Praxis erfolgen, beispielsweise unter Zuhilfenahme von Feldexperimenten mit geeigneten Vergleichsgruppen.
In aller Kürze
- Für die Ausgestaltung der Vier-Tage-Woche gibt es eine Vielzahl möglicher Varianten. Sie reichen von einer Umverteilung des bisherigen Vollzeitumfangs auf weniger Arbeitstage über ein Teilzeitmodell ohne Lohnausgleich bis hin zu einer Verkürzung der Arbeitszeit mit vollem Lohnausgleich.
- Die Vier-Tage-Woche kann sich für einzelne Unternehmen lohnen, weil sie deren Attraktivität als Arbeitgebererhöhen und damit Personalgewinnung und -bindung verbessern kann.
- Eine Vier-Tage-Woche verdichtet aber auch die Arbeit, was zwar die Produktivität der Beschäftigten steigert, doch dem gewünschten Effekt einer geringeren Arbeitsbelastung entgegenwirkt.
- Auf der volkswirtschaftlichen Ebene ist von Interesse, wie die Vier-Tage-Woche ausgestaltet wird. Dabei ist von Bedeutung, wie sie sich längerfristig auf das Bruttoinlandsprodukt, die Stundenproduktivität, das Arbeitsvolumen und die Erwerbsbeteiligung auswirken könnte.
- Ein Mehr an einvernehmlicher Flexibilität ist die beste Lösung, wenn dabei die Wünsche der Beschäftigten und die spezifischen Anforderungen der Betriebe klug miteinander in Einklang gebracht werden.
- Aus Sicht der Wissenschaft bedarf es eines noch besseren Verständnisses darüber, wie sich verschiedenene Gestaltungsoptionen einer Vier-Tage-Woche in der Praxis auswirken.
Hinweis: Eine Kurzfassung dieses Beitrags ist als Gastkommentar von Anna Kaiser und Ulrich Walwei am 2. April 2024 im Handelsblatt erschienen.
Bild: New Africa/stock.adobe.com
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20240502.01
Walwei, Ulrich (2024): Einführung der Vier-Tage-Woche in Zeiten des Arbeits- und Fachkräftemangels: Chance oder Risiko?, In: IAB-Forum 2. Mai 2024, https://www.iab-forum.de/einfuehrung-der-vier-tage-woche-in-zeiten-des-arbeits-und-fachkraeftemangels-chance-oder-risiko/, Abrufdatum: 21. November 2024
Autoren:
- Ulrich Walwei