29. Oktober 2024 | Interviews
„Zu Ende gedacht ist dann sogar die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr“
Der Ton in der öffentlichen Debatte wird immer rauer, sowohl in der Politik als auch in den sozialen Medien. Auch die Wissenschaft ist von Desinformationen, Verleumdungen und Verschwörungstheorien betroffen. Sehen Sie die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr?
Bernd Fitzenberger: Wissenschaftliche Zusammenhänge sind oft sehr komplex und Wissenschaft lebt von Widerspruch. Erkenntnisfortschritte entstehen durch das Infragestellen von bisherigen Hypothesen. Deshalb lebt Wissenschaft vom offenen Diskurs und vom breiten Verständnis, dass Hypothesen verworfen und neue Erkenntnisse gewonnen werden können.
Dies kann für Menschen anstrengend sein und deshalb gibt es eine nicht zu unterschätzende Sehnsucht nach einfachen, unumstößlichen Wahrheiten, die Sicherheit und Identität geben. Desinformationen und Verschwörungstheorien bedienen solche Sehnsüchte und immunisieren die Menschen, die diesen anhängen, so dass es schwer wird, deren Überzeugungen zu widerlegen und die Menschen von Fakten und neuen Erkenntnissen zu überzeugen. Wenn es kaum mehr möglich ist, etwas zu widerlegen, dann droht die Wissenschaft ihre Bedeutung zu verlieren. Zu Ende gedacht ist dann sogar die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr.
Gefährlich wird es insbesondere, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse abgelehnt werden, weil diese im Widerspruch zu den eigenen ideologischen Positionen stehen, ohne sich mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen dann überhaupt noch auseinanderzusetzen. Fakten abzulehnen, wenn sie nicht ins Weltbild passen, die mangelnde Bereitschaft, die eigene Position in Frage zu stellen, gefährden die Akzeptanz der Wissenschaft und verhindern rationale Bewertungen und Entscheidungen. Schnell schlägt dann die fehlende Bereitschaft, sich rational dem wissenschaftlichen Diskurs zu stellen, in Desinformation, Verleumdung, Hasstiraden oder auch Drohungen gegenüber Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um. Die sozialen Medien haben die Problematik verschärft.
Walwei: Die Forschungsfreiheit ist das Fundament der Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Analysen.
Ulrich Walwei: Die Forschungsfreiheit ist ein hohes Gut. Sie ist das Fundament der Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Analysen. Wenn Forschungsergebnisse ohne den Einfluss Dritter und mit der bestmöglichen Qualitätskontrolle veröffentlicht werden, kann man auf diese bauen – solange wie diese nicht durch neue, ebenfalls qualitätsgesicherte Informationen revidiert werden. Das ist der Lauf der Dinge im wissenschaftlichen Prozess.
Wir erleben gerade am Beispiel des Klimawandels eine Debatte, welche die Wissenschaft frontal angreift. Man fühlt sich fast an einen Religionsstreit erinnert. Bestimmte Akteure im politischen Raum glauben der Wissenschaft nicht, wie wenn es um eine Religion ginge. Nein, es geht um Erkenntnisse und Wissen.
Eine kritische Haltung ist auch gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen legitim und wichtig. Aber ich muss dann Belege anführen, warum Befunde meiner Auffassung nach nicht zutreffen. Mache ich das nicht und kritisiere aus dem hohlen Bauch, bin ich ignorant oder ideologisch unterwegs. Wissenschaft muss wie die Medien oder auch die Justiz unabhängig und unbequem sein, egal wer regiert und wer die Meinungen prägt.
Fitzenberger: Mir und dem IAB wurde vorgeworfen, durch jüdische Machenschaften gesteuert zu sein.
Haben Sie selber schon Beleidigungen oder Anfeindungen erlebt?
Fitzenberger: Zwei Beispiele: Zu Beginn meiner Amtszeit am IAB im Herbst 2019 habe ich ein Interview über die Herausforderungen des deutschen Arbeitsmarkts vor dem Hintergrund der Alterung der Erwerbsbevölkerung gegeben. In dem Interview habe ich darauf hingewiesen, dass Deutschland eine Nettozuwanderung von mehreren 100.000 Personen pro Jahr benötigt, um die Erwerbsbevölkerung in Deutschland konstant zu halten. In Reaktion auf das Interview wurde mir eine Hass-Mail aus rechten Kreisen geschickt, mit einem Bild der Bundeskanzlerin Angela Merkel mit durchschossenem Bauch. Eine solche Nachricht macht Angst und soll einschüchtern, ist aber möglicherweise gerade noch rechtlich durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Das hat mich überrascht und erschreckt. Als zweites Beispiel möchte ich einen Brief anführen, in dem mir und dem IAB vorgeworfen wurde, durch jüdische Machenschaften gesteuert zu sein und nicht den Interessen des deutschen Volkes zu dienen.
Uns wird gedroht. Auch kommt es immer wieder vor, dass wissenschaftliche Mitarbeitende des IAB Beleidigungen oder Anfeindungen erleben – und es drängt sich der Eindruck auf, dass insbesondere Frauen mit Migrationshintergrund Opfer sind. Allerdings liegen mir hierzu keine belastbaren Zahlen vor.
Walwei: Auch ich bin beim Thema Migration durch Mails und Briefe schon verbal attackiert worden. Beispielsweise erhielt ich Rücktrittsforderungen, weil wir gezeigt hatten, dass jüngere Kohorten der Spätaussiedler weniger gut im Arbeitsmarkt integriert waren. Die Empirie war aber glasklar.
Wie begegnen Sie solchen persönlichen Anfeindungen?
Fitzenberger: Solche Anfeindungen machen etwas mit einem, man ist geschockt. In den beiden Beispielen habe ich mich an die für die Sicherheit von Beschäftigten in der Bundesagentur für Arbeit Zuständigen gewandt. Ich war von der professionellen Herangehensweise beeindruckt, ohne dass ich hier auf Details eingehen möchte, und die Einschätzung, dass keine akute Gefahr besteht, hat mich sehr beruhigt.
Walwei: Wissenschaft darf sich nicht beugen.
Walwei: Solche Anfeindungen sollen einschüchtern. Bestimmte Aussagen und Erkenntnisse sollen nicht ans Tageslicht. Man möchte die „Schere im Kopf“ erzeugen. Wissenschaft darf sich hier nicht beugen. Klar ist, gerade wenn es sich um politisch sensible Themen handelt, brauchen wir die besten Methoden und Daten, um sicher sein zu können, dass wir alles für die Tragfähigkeit der Ergebnisse getan haben und uns damit auch jeder Kritik als Teil des wissenschaftlichen Diskurses stellen können.
Inwiefern ist auch das IAB als Institut betroffen?
Fitzenberger: Ich nenne zwei aktuelle Beispiele. Im Deutschlandfunk war vor der Landtagswahl in Brandenburg folgender O-Ton des AfD-Spitzenkandidaten zu hören: „Wissenschaftler können alles sagen, wenn sie dafür bezahlt werden. Das sind gekaufte, sinnlose, dumme Stimmen. Das ist einfach völliger Quatsch.“ Laut Darstellung des Deutschlandfunk-Journalisten im Hörfunkbeitrag war dieser O-Ton auf die Forschungsergebnisse des IAB zur Notwendigkeit von Zuwanderung bezogen.
Die Aussage im O-Ton nehme ich als zutiefst wissenschaftsfeindlich wahr und die Wahrnehmung für die Zuhörenden der Sendung war, dass mit dem im O-Ton Gesagten auch speziell das Forschungsinstitut IAB herabgewürdigt wurde. Dem möchte ich deutlich entgegenhalten, dass das IAB als Forschungsinstitut hohe wissenschaftliche Anerkennung für seine Analysen genießt, was auch in der unabhängigen Bewertung des Wissenschaftsrats 2019 zum Ausdruck kommt.
In der Evaluation wurde explizit die hohe Qualität der Forschungs- und Beratungsleistungen des IAB bestätigt. Hervorgehoben wurde auch die strukturell abgesicherte wissenschaftliche Unabhängigkeit. Ich zitiere: „… die wissenschaftliche Unabhängigkeit seiner empirischen Arbeitsmarktstudien ermöglicht es dem IAB, einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung gesellschafts- und sozialpolitischer Debatten zu leisten. Die wissenschaftliche Unabhängigkeit ist damit grundlegend für das große Ansehen des IAB in Politik, Verwaltung und Wissenschaft.“
Populistische Aussagen wie der genannte Hörfunk-O-Ton zeigen einen Unwillen, Wissenschaft ernst zu nehmen und gut abgesicherte Erkenntnisse zur Kenntnis zu nehmen, weil „nicht sein kann, was nicht sein darf“. In einem solchen politischen Diskurs ist dann auch irgendwann die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr.
Zweites Beispiel: Das IAB wird auch wegen seiner Forschung zum Bürgergeld angefeindet. Differenzierte Analysen werden als naiv abqualifiziert, Fakten und wissenschaftliche Erkenntnisse werden in Frage gestellt, ohne dass die Argumentation eine solide wissenschaftliche Basis hat.
Walwei: Das bereits genannte Beispiel zu den Aussiedlern ist hier ebenfalls zu erwähnen.
Das IAB ist das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit. Wie kann das IAB als Teil einer Behörde unabhängig forschen und publizieren und sich vor politischer Vereinnahmung schützen?
Fitzenberger: Die Unabhängigkeit beim Forschen und Publizieren war im IAB schon jahrzehntelang gelebte Praxis, als wir 2007 das erste Mal vom Wissenschaftsrat evaluiert wurden. Der Wissenschaftsrat empfahl damals dem Institut, sich die Unabhängigkeit auch schriftlich garantieren zu lassen. In den Folgejahren wurde dann die institutionelle Anerkennung der Unabhängigkeit der IAB-Forschung durch eine Rahmengeschäftsordnung mit dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit und durch eine Kooperationsvereinbarung mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales verankert.
Unabhängige, hochwertige Forschung auf empirischer Basis durch bestens qualifizierte Forschende ist das Kapital des IAB. Unsere Forschungsarbeit und unsere Publikationen sind im internationalen Wissenschaftssystem anerkannt. Die Währung lautet hier „Peer-reviewed“, also durch andere Forschende anonym begutachtete Publikationen in den renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften. Dabei reden wir weder der Bundesagentur für Arbeit noch dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales nach dem Mund. Unsere Forschungsergebnisse werden in der Wissenschaft, in den Medien, in der Öffentlichkeit sowie von Politik und Verwaltung ernstgenommen, weil sie eben unabhängig erarbeitet wurden und folgerichtig immer mal wieder auch dementsprechend kritisch ausfallen.
Walwei: Unsere Forschungsarbeit wird von allen Seiten anerkannt, wenn man von Populisten und Extremisten absieht.
Walwei: Es scheint mir wichtig, hier noch einmal zu unterstreichen: Solange das IAB in der Wissenschaftsgemeinschaft für seine Forschungsarbeit Anerkennung findet und sich dem fachlichen Diskurs stellt, ist im bestehenden demokratischen und rechtsstaatlichen System die Unabhängigkeit gewährleistet. Fachliche Begutachtungsverfahren, wissenschaftliche Beiräte und regelmäßige Evaluationen sichern die Qualität und damit auch die Unabhängigkeit. Die bereits erwähnten Peer-reviewed-Publikationen, die Teilnahme an wissenschaftlichen Konferenzen nach dem Durchlaufen eines wettbewerblichen Auswahlverfahrens, die laufende Begleitung durch unseren wissenschaftlichen Beirat und die regelmäßige Evaluation durch den Wissenschaftsrat bereiten uns viel Arbeit, aber die Mühe lohnt. Unsere Forschungsarbeit wird von allen Seiten anerkannt, wenn man von Populisten und Extremisten absieht.
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20241029.01
Schludi, Martin (2024): „Zu Ende gedacht ist dann sogar die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr“, In: IAB-Forum 29. Oktober 2024, https://www.iab-forum.de/zu-ende-gedacht-ist-dann-sogar-die-wissenschaftsfreiheit-in-gefahr/, Abrufdatum: 5. November 2024
Autoren:
- Martin Schludi