Mit Blick auf stagnierendes Wachstum, veritable strukturelle Probleme und gravierende weltwirtschaftliche Verwerfungen stellt sich die Frage, wie wir in Deutschland und in Europa wieder wirtschaftliche Innovation und Dynamik entfesseln können. Im Rahmen der Nürnberger Gespräche diskutierte eine hochkarätig besetzte Podiumsrunde darüber, welche Reformen angesichts dieser Herausforderungen notwendig sind, um Beschäftigung, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu sichern.

Selten gehen die Einschätzungen so weit auseinander wie derzeit: Während die einen Deutschland vor dem wirtschaftlichen Abgrund wähnen, verweisen andere auf die traditionellen Stärken der deutschen Volkswirtschaft. Dieses Spannungsverhältnis prägte auch die Debatte bei den diesjährigen Nürnberger Gesprächen, die am 11. Februar wie gewohnt im Nürnberger Historischen Rathaussaal stattfanden. Sie wurden diesmal von Alexander Jungkunz moderiert, dem Chefpublizisten der Nürnberger Nachrichten.

König: „Made in Germany“ heißt nicht „Made by Germans“!

Portraitfoto von Markus König.

Marcus König (CSU) ist Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg.

Oberbürgermeister Marcus König verband seine einleitenden Worte mit einem nachdrücklichen Plädoyer für eine engagierte Standortpolitik in der Region, auch durch eine bessere Vernetzung von Wirtschaft und Wissenschaft, als eine der Voraussetzungen für eine gelingende Transformation. Als prominentes Beispiel nannte König die Ansiedlung der University of Technology in Nürnberg, die sich schwerpunktmäßig dem Thema „Künstliche Intelligenz“ widmet.

Einen weiteren Schlüssel zur erfolgreichen Bewältigung der Krise, die nicht nur konjunkturell, sondern auch strukturell sei, sieht König in einer staatlichen Energiepolitik, die für internationale wettbewerbsfähige Strompreise sorgt. Zugleich zeigte sich das Stadtoberhaupt überzeugt, dass Deutschland eine führende Rolle einnehmen könne, wenn es darum geht, Ökologie und Ökonomie miteinander zu verbinden.

Abschließend brach König eine Lanze für ein vielfältiges und weltoffenes Deutschland, dass Zuwanderer, die hier arbeiten möchten, nicht durch polarisierende Debatten ausgrenzt und ihnen keine unnötigen bürokratischen Hürden in den Weg legt. Denn Deutschland brauche Zuwanderung, um ökonomisch erfolgreich zu sein. „Made in Germany“, betonte König, heiße eben nicht „Made by Germans“!

Schnabel: Warum Deutschland im Hintertreffen ist

Portraitfoto Isabel Schnabel.

Isabel Schnabel ist Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank und Professorin für Finanzmarktökonomie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn.

Doch welche Wege sind es, die uns aus der Stagnation führen? Der Antwort auf diese Frage versuchte Prof. Isabel Schnabel, Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank (EZB), in ihrem Impulsvortrag näherzukommen.

Einleitend wies die international renommierte Volkswirtin auf eine erstaunliche Diskrepanz zwischen den USA und dem Euro-Raum hin: Während die Produktivität pro Arbeitsstunde in den USA seit Mitte der 1990er Jahre um gut 60 Prozent gestiegen ist, waren es in der Euro-Zone, ebenso wie in Deutschland, nur rund 30 Prozent. Denn anders als die USA hätten die Euro-Länder die Vorteile der digitalen Revolution nur unzureichend genutzt.

Dies zeigt sich eindrucksvoll an der Entwicklung des IT-bezogenen Kapitalstocks, der sich in den USA in dem Zeitraum real fast verzehnfacht hat, im Euro-Raum und in Deutschland aber nur verdreifacht. Die Digitalisierung, so Schnabels ernüchternder Befund, ist noch immer nicht in der Breite der deutschen Wirtschaft angekommen, vor allem bei den kleinen und mittleren Unternehmen.

Auch in jüngster Zeit wuchs die Wirtschaft im Euroraum sehr viel verhaltener als in den USA – mit Deutschland als Schlusslicht. Dass Deutschland als Industrieland von den steigenden Zinsen im Euro-Raum besonders stark betroffen war, ist nur ein Grund dafür. Strukturelle Faktoren wiegen hier aus Schnabels Sicht noch deutlich stärker: vergleichsweise hohe Energiepreise, insbesondere im Vergleich zu den USA; ein dramatischer Verlust an Marktanteilen im Export, vor allem gegenüber China, das inzwischen zu einem ernsthaften Wettbewerber auch in der Hochtechnologie avanciert ist; last but not least ein drohender Handelskrieg, der das deutsche exportgetriebene Wachstumsmodell in Frage stellt.

Gleichwohl ist Schnabel überzeugt, dass Deutschland und Europa ihre Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen können. So könnten grüne Innovationen und Technologieführerschaft ein Wachstumsmotor sein. Chancen sieht die Ökonomin außerdem im Ausbau des grenzüberschreitenden Dienstleistungshandels und in einer stärkeren Finanzmarktintegration. Auch gehe es darum, Maßnahmen zu ergreifen, um den in Deutschland besonders ausgeprägten Trend einer rückläufigen Zahl an Arbeitsstunden pro Beschäftigten wieder umzukehren.

Schließlich könnten öffentliche Investitionen, deren Anteil an der Wirtschaftsleistung in Deutschland deutlich niedriger ist als in den USA und im Euro-Raum, die Produktivität steigern. Der Spielraum dafür ist nach Schnabels Einschätzung vorhanden, da die deutsche Staatsverschuldung im internationalen Vergleich relativ niedrig ausfällt.

Weitwinkelfoto mit Blick in den historischen Rathaussaal Nürnberg.

Fahimi: „Mit Blick auf das Arbeitskräftepotenzial organisieren wir uns unsere eigenen strukturellen Defizite noch obendrauf“

Portraitfoto von Yasmin Fahimi.

Yasmin Fahimi ist Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Die Einschätzung, dass die deutsche Wirtschaft ein Produktivitätsproblem hat, teilt auch Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Gerade im Mittelstand gebe es immer noch viele Hemmnisse für eine produktivitätssteigernde Digitalisierung. Hier seien die Gewerkschaften bereit, gemeinsam mit der Wirtschaft an Lösungen zu arbeiten, die den Interessen der Betriebe wie der Beschäftigten gerecht werden.

Eine veritable Produktivitätsbremse sieht Fahimi auch auf dem Arbeitsmarkt. Die DGB-Chefin verwies unter anderem auf den hohen Anteil an prekärer Beschäftigung und auf das Problem, dass drei Millionen junge Menschen in Deutschland keine Ausbildung haben. „Wir organisieren uns nicht nur infrastrukturell, sondern auch mit Blick auf das Arbeitskräftepotenzial unsere eigenen strukturellen Defizite noch obendrauf“, klagte Fahimi und forderte ein stärkeres Engagement der Arbeitgeber in diesem Bereich.

Kritisch bewertete die Gewerkschaftsvertreterin zudem zahlreiche Forderungen nach Entbürokratisierung, die letztlich auf eine Deregulierung und Absenkung des sozialen Schutzniveaus hinausliefen. Deutschland könne nur dann wettbewerbsfähig bleiben, wenn es mit gemeinsam von den Sozialpartnern getragenen Verabredungen auf Investitionen und Innovationen setze. Denn Deutschland könne niemals mit Lohnkosten wie in China und Energiekosten wie in den USA aufwarten.

Fackelmann: „Deutschland verarmt!“

Portrait Alexander Fackelmann

Alexander Fackelmann ist Inhaber des gleichnamigen mittelfränkischen Unternehmens.

Ein düsteres Bild des deutschen Wirtschaftsstandorts zeichnete Alexander Fackelmann, Inhaber eines gleichnamigen mittelfränkischen Unternehmens mit weltweit 2.600 Beschäftigten, das Haushaltsartikel sowie Möbel für Küche und Badezimmer vertreibt. „Es liegt leider ganz viel im Argen. Wir haben tausend kleine Strukturfehler, deretwegen geht die Wirtschaft in die Knie“, klagte der Unternehmer.

„Wir verarmen seit drei Jahren, und wir verarmen weiter“, warnte Fackelmann und zog gar eine Parallele zur Weimarer Republik, die nach Jahren der Verarmung Hitler zum Opfer gefallen sei. Die klugen Köpfe, glaubt Fackelmann, der sich für die vereinfachte Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften ausspricht, verlassen Deutschland oder investieren im Ausland, weil es sich hierzulande nicht mehr rechnet.

Deutschland brauche wieder Wachstum durch bessere Wettbewerbsfähigkeit, dieses entstehe aber nicht durch mehr Sozialpolitik und durch immer mehr Regulierung und Reglementierung. Fackelmann beteuerte, dass seine Firma voll hinter der Energiewende stehe („Wir verdienen am Wochenende 150.000 Euro mit Photovoltaik“). Zugleich kritisierte er die deutsche Politik, vielfach ideologische Ziele verfolge, etwa mit dem vorzeitigen Ausstieg aus dem Verbrenner, der die deutsche Autoindustrie gerade in einem Bereich schwäche, wo sie noch wettbewerbsfähig sei.

Das Festhalten am Verbrenner, konterte  Schnabel, könne das deutsche Geschäftsmodell nicht retten. Deutschland, betonte sie, stecke trotz ausgezeichneter Voraussetzungen in einer tiefen strukturellen Krise und müsse sein bisheriges Geschäftsmodell grundlegend überdenken.

Schmit: „Deutschland steht keineswegs am Abgrund!“

Portraitfoto von Nicolas Schmit

Nicolas Schmit war von 2019 bis 2024 als EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte in Europa zuständig.

Um auch den Blick von außen einzubringen, hatten die Organisatoren den Luxemburger Nicolas Schmit eingeladen, von 2019 bis 2024 als EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte in Europa zuständig.

Die deutschen Strukturprobleme, so Schmit, sind zumeist auch europäische Strukturprobleme. In den meisten anderen Euroländern sind die Wachstumsraten ebenfalls sehr niedrig, die Herausforderungen sind länderübergreifend ähnlich. So ist Europa von der aktuell sehr schwierigen geopolitischen Lage stärker betroffen als die USA, insbesondere mit Blick auf die Energiekosten. „Vor diesem Hintergrund hatte der deutsche Ausstieg aus der Kernenergie seinen Preis“, so Schmits Einschätzung.

Gleichwohl sieht Schmit die deutsche Volkswirtschaft keineswegs am Abgrund. Deutschland habe gegenüber dem Ausland immer noch einen jährlichen Leistungsbilanzüberschuss von 240 Milliarden Euro gegenüber den USA mit 80 Milliarden. Dies zeigt aus Schmits Sicht, dass Deutschland seine internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht verloren habe. Deutschland und Europa müssten aber die Kraft und den Mut aufbringen, ihr Modell der sozialen Marktwirtschaft zu modernisieren und zu verteidigen.

Kluttig: „Eine Reform der Schuldenbremse ist notwendig“

Portraitfoto von Bernhard Kluttig

Bernhard Kluttig ist Verwaltungsjurist und Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.

Bernhard Kluttig, Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, sieht in der aktuellen Energiepreiskrise einen wesentlichen Faktor für die Wachstumsschwäche in Deutschland und Europa – in Verbindung mit der Tatsache, dass Europa immer noch zu 60 Prozent vom Import fossiler Energien abhängig ist. Umso wichtiger sei der konsequente Ausbau alternativer Energien und entsprechender Speichersysteme sowie eine Vertiefung des europäischen Energiebinnenmarkts.

Die deutsche Volkswirtschaft sei zudem angesichts ihrer starken Exportorientierung überproportional stark betroffen, wenn die Weltwirtschaft schwächelt. Schließlich wies Kluttig auf das Problem vernachlässigter Standortfaktoren hin: zu viel Bürokratie, Defizite im Bildungsbereich, marode Infrastruktur, Investitionsstau, Fachkräftemangel.

Weitgehend einig wusste sich Kluttig mit seinen Mitdiskutant*innen, dass der massive Investitionsbedarf in Deutschland nur mit einer Reform der aktuellen Schuldenbremse gedeckt werden könne – auch wenn Fackelmann insistierte, dass vorher die vorhandenen Einsparpotenziale genutzt werden müssen. In diesem Zusammenhang bemängelte Kluttig, dass Deutschland als einziges Land unter den großen G7-Industrienationen den staatlichen Schuldenstand trotz Wirtschaftskrise von 68 auf 63 Prozent des Bruttoinlandsprodukts heruntergefahren habe. Damit habe man auf wichtige fiskalische Impulse zur Belebung der Wirtschaft verzichtet.

Über-die-Schulter-Foto einer Gesprächssituation mit Bernd Fitzenberger, Yasmin Fahimi und Bernhard Kluttig.

Während Deutschland in den Augen der einen verarmt, sieht manch anderer durchaus Grund zum Optimismus.

Fitzenberger: „Die Transformation der Wirtschaft trifft auf eine alternde Bevölkerung und ein mobilitätsfeindliches Umfeld“

Portraitfoto von Bernd Fitzenberger

Bernd Fitzenberger ist Direktor des IAB und Professor für Quantitative Arbeitsökonomik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

In seinem Schlusswort bemängelte IAB-Direktor Prof. Bernd Fitzenberger, dass Europa zwar auf Deutschland schaue, Deutschland aber viel zu wenig auf Europa: „Das ist uns bei der Energiepolitik auf die Füße gefallen.“

Außerdem beleuchtete er die Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise auf den Arbeitsmarkt. Deutschland habe im internationalen Vergleich immer noch einen sehr hohen Beschäftigungsstand und eine sehr niedrige Arbeitslosigkeit. Anders als in den Medien vielfach dargestellt, sei die aktuelle Situation am Arbeitsmarkt weniger durch Entlassungen geprägt als dadurch, dass zu wenig neue Jobs entstehen, vor allem in kleinen und mittleren Unternehmen und durch rückläufige Unternehmensgründungen.

Bauchschmerzen bereiten dem Ökonomen zudem die tendenziell rückläufige Zahl an jungen Menschen im System der dualen Berufsausbildung und der Rückgang an gutbezahlten Arbeitsplätzen in der Industrie. Zugleich treffe die wirtschaftliche Transformation auf eine alternde Bevölkerung und ein mobilitätsfeindliches Umfeld, etwa weil berufsbedingte Umzüge häufig mit einem Anstieg der Mietausgaben verbunden seien.

Diese Entwicklungen bergen langfristig eine Gefahr für die Finanzierbarkeit des deutschen Wohlstandsmodells. Gleichwohl sieht Fitzenberger durchaus „Grund für Optimismus“ – vorausgesetzt, dass Deutschland und Europa die Probleme anpacken.

 

Die Nürnberger Gespräche werden von der Bundesagentur für Arbeit unter Federführung des IAB und der Stadt Nürnberg ausgerichtet. Einen Videomitschnitt der Veranstaltung finden Sie auf dem YouTube-Kanal des IAB.

 

Bilder: Wolfram Murr, Photofabrik

DOI: 10.48720/IAB.FOO.20250228.01

Schludi, Martin (2025): Nürnberger Gespräche: Fit for Future – welche Wege bringen die wirtschaftliche Dynamik zurück?, In: IAB-Forum 27. Februar 2025, https://www.iab-forum.de/nuernberger-gespraeche-fit-for-future-welche-wege-bringen-die-wirtschaftliche-dynamik-zurueck/, Abrufdatum: 27. February 2025

 

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