11. Juli 2017 | Serie „Mindestlohn“
IAB-Direktor Joachim Möller: „Die befürchteten großen Beschäftigungsverluste sind ausgeblieben”
Seit Januar 2015 gibt es in Deutschland den gesetzlichen Mindestlohn. Wie hat sich dieser auf die Beschäftigungsentwicklung in West- und Ostdeutschland ausgewirkt?
„Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist trotz Mindestlohn gestiegen.“
Die befürchteten großen Beschäftigungsverluste sind ausgeblieben. Im Gegenteil: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist im Jahr 2015 weiter gestiegen, um 680.000 Personen. Die Zahl der ausschließlich geringfügig Beschäftigten, also der „Minijobber“, sank bei Einführung des Mindestlohns im Januar 2015 allerdings saisonbereinigt um circa 94.000 Personen. Wir gehen davon aus, dass ungefähr die Hälfte dieser Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt wurde. Analysen des IAB zeigen aber auch: Einschließlich Minijobs hätten im Jahr 2015 ohne den Mindestlohn rund 60.000 Jobs mehr entstehen können. Das ist angesichts des mehr als zehnfach so großen Aufwuchses bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung eine vergleichsweise kleine Zahl. Statistisch gesichert ist der Effekt auch nur für Ostdeutschland. Dort ist die insgesamt positive Beschäftigungsentwicklung etwas ungünstiger verlaufen, als sie ohne den Mindestlohn hätte sein können.
Das konjunkturelle Umfeld ist derzeit günstig. Welche Beschäftigungswirkungen wird der Mindestlohn haben, wenn Deutschland in eine Rezession rutscht?
Das konjunkturelle Umfeld wird oft angeführt, um die erfolgreiche Einführung des Mindestlohns zu begründen. Natürlich erleichtert es einen strukturellen Wandel, wenn die Rahmenbedingungen günstig sind. Dennoch ist die Rechnung, die da aufgemacht wird, etwas zu einfach. Die konjunkturelle Entwicklung in Deutschland ist eng an die Exportwirtschaft gekoppelt. Läuft es nicht gut mit den Exporten, leidet auch die Konjunktur. Ein Blick auf die Beschäftigtenstrukturen in den exportorientierten Branchen zeigt aber, dass in diesem Bereich in der Regel ohnehin deutlich über Mindestlohnniveau gezahlt wird. Beispiele sind die Chemische Industrie oder die Automobilindustrie. Hier hängen Beschäftigungsab- oder aufbau also nicht mit einer Lohnuntergrenze, sondern mit ganz anderen Faktoren zusammen.
Das ist eine Seite des Themas, eine andere lässt sich anhand von weiteren Ergebnissen des IAB erläutern: Wir haben herausgefunden, dass unter den vom Mindestlohn betroffenen Betrieben beispielsweise das Gastgewerbe oder der Einzelhandel besonders stark vertreten sind. Diese Bereiche sind deutlicher schwächer als die exportorientierten Branchen von der Konjunktur beeinflusst. Aber auch in diesen Bereichen ist die Arbeitslosigkeit im Jahr 2015 nach Einführung des Mindestlohns nicht gestiegen, im Gastgewerbe hat sich die Beschäftigung sogar besonders günstig entwickelt.
Klar ist, dass die nächste Rezession irgendwann kommt. Konjunktur und Beschäftigung hängen zwar heute weniger eng zusammen als früher, dennoch wird eine Konjunkturkrise bei Beschäftigung und Arbeitslosigkeit Spuren hinterlassen. Wie in der Vergangenheit auch, wird dies die Geringqualifizierten tendenziell stärker treffen als andere Gruppen. Unternehmen trennen sich verständlicherweise nicht gern von (hoch-)qualifizierten, eingearbeiteten Fachkräften, wohingegen weniger Qualifizierte leichter austauschbar sind. Dieses Verhaltensmuster hat wenig mit dem Mindestlohn zu tun. Es ist richtig, dass der Mindestlohn verhindert, dass Löhne unter ein bestimmtes Maß abgesenkt werden können – deswegen wurde er ja auch eingeführt. Es wäre aber eine Illusion zu glauben, dass Entlassungen bei Geringqualifizierten, die nicht mehr gebraucht werden, durch Lohnverzicht verhindert werden könnten. Eine Wirtschaftskrise wird durch das Wiedererstarken der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen überwunden. Und darauf hat der Mindestlohn wenig Einfluss.
Für Langzeitarbeitslose gibt es Ausnahmeregelungen vom Mindestlohn. Haben sich diese bewährt?
„Die Ausnahmereglung für Langzeitarbeitslose wird bislang nur selten genutzt.“
IAB-Ergebnisse zeigen, dass die Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose bislang nur selten genutzt wird. Langzeitarbeitslose fragen selten danach, und auch die Jobcenter haben bislang nur wenige Bescheinigungen ausgestellt, die für die Nutzung der Ausnahmeregelung vorgesehen sind. Analysen belegen zudem, dass es auch mehrere Monate nach Einführung des Mindestlohns keine Effekte der Ausnahmeregelung auf die Einstellungswahrscheinlichkeit, Beschäftigungsstabilität oder Entlohnung von ehemals Langzeitarbeitslosen gibt. Die Wirkung der Ausnahmeregelung ist also äußerst beschränkt. Sie richtet aber auch keinen großen Schaden an. Manche erwarten, dass die Ausnahmeregelung häufiger in Anspruch genommen wird, wenn es mehr langzeitarbeitslose Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt gibt. Ob das tatsächlich so ist, bleibt abzuwarten. Ich bezweifele aber, dass sich die Ausnahmeregelung zu einem arbeitsmarktpolitischen Renner entwickeln wird.
Gibt es Indizien dafür, dass Arbeitgeber, die jetzt den Mindestlohn zahlen müssen, im Gegenzug die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten reduziert haben?
Ja, dafür gibt es in der Tat einige Anhaltspunkte. Über das IAB-Betriebspanel haben wir Betriebe gefragt, in welcher Form sie auf die Einführung des Mindestlohns reagiert haben. 18 Prozent der Betriebe, die vom Mindestlohn betroffen waren, gaben an, die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter verkürzt oder verdichtet zu haben. Letzteres ist nicht im Sinne der Erfinder. Illegal wird es, wenn der Mindestlohn durch unbezahlte Überstunden unterlaufen wird. Belege dafür, dass dies in größerem Umfang geschieht, gibt es nicht. Insgesamt gehe ich davon aus, dass sich die ganz überwiegende Mehrheit der Arbeitgeber an die Mindestlohnregeln hält.
Genauso häufig wie Arbeitszeitreduktionen wurden übrigens Preiserhöhungen als Anpassungsmaßnahme genannt. Interessant ist auch, dass zehn Prozent der Betriebe antworteten, mit Einstellungen zurückhaltender zu sein, wohingegen weniger als fünf Prozent angaben, mit Entlassungen reagiert zu haben.
Mit der Einführung des Mindestlohns war die Hoffnung verbunden, dass die Zahl der Aufstocker und damit die Ausgaben für Hartz IV sinken. Hat sich diese Hoffnung erfüllt?.
Diese Hoffnung war schon vor Einführung des Mindestlohns trügerisch: Das IAB hat immer wieder darauf hingewiesen, dass ein Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro nur eine sehr begrenzte Anzahl an Personen aus der Hilfebedürftigkeit herausholt. Das liegt unter anderem daran, dass viele Aufstocker nicht Vollzeit arbeiten und auch bei höherem Lohn weiter auf Unterstützung angewiesen sind.
„Der Mindestlohn holt nur wenige Personen aus der Hilfebedürftigkeit.“
Entscheidend ist für mich, dass der Gesetzgeber einem Geschäftsmodell den Boden entzogen hat, das darauf beruhte, einen Niedrigstlohn zu zahlen und diesen mit dem Hinweis zu versehen, dass die Beschäftigten sich ja als Aufstocker einen Zusatzbetrag holen könnten. Das ist unmoralisch und geht zu Lasten der Allgemeinheit.
Welche Folge hätte eine drastische Erhöhung des Mindestlohns?
In jüngster Zeit wird in anderen Ländern darüber diskutiert, den Mindestlohn drastisch zu erhöhen. Da bin ich skeptisch. Die Höhe des Mindestlohns sollte auch weiterhin mit Augenmaß bestimmt werden – ist die Lohnuntergrenze zu hoch, laufen wir tatsächlich Gefahr, dass Arbeitsplätze in größerem Umfang verloren gehen. Damit schädigt man dann letztlich diejenigen, denen man eigentlich helfen wollte.
Die Fragen stellte Dr. Martin Schludi.
Weitere Informationen:
IAB-Infoplattform: Mindestlohn
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