3. Juli 2018 | Interviews
„Betriebe, die besser bezahlen und seltener befristen, haben weniger Vakanzen“
Seit 1996 ist der Anteil befristeter Beschäftigung Ihren Analysen zufolge von knapp vier auf über acht Prozent gestiegen. Was sind die Gründe dafür?
Christian Hohendanner: Die Gründe für den Anstieg sind sehr vielfältig, eine einfache Erklärung gibt es nicht. Wir haben es mit sehr heterogenen branchen- und berufsspezifischen Arbeitsmärkten und unterschiedlichen regionalen Bedingungen zu tun. Grundsätzlich spielt der rechtliche Rahmen eine große Rolle. Wenn die Möglichkeit besteht, befristete Verträge abzuschließen, dann wird davon auch Gebrauch gemacht. Befristete Arbeitsverträge werden als verlängerte Probezeit genutzt, wenn Aufträge und Projekte zeitlich begrenzt sind, bei Saisonarbeit oder zur Vertretung von Beschäftigten, die für längere Zeit wegen Eltern- oder Pflegezeit oder wegen Krankheit ausfallen. Die steigende Zahl der Pflegebedürftigen, die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit, die steigende Geburtenrate und flexiblere Arbeitszeitmodelle dürften die Relevanz von Vertretungsbefristungen aufgrund von Eltern- oder Pflegezeiten künftig noch erhöhen.
„Befristete Arbeitsverträge werden häufig als verlängerte Probezeit genutzt“
Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung befristeter Beschäftigung und dem Konjunkturzyklus?
Befristungen kommen auch ins Spiel, wenn sich die Auftragsbücher füllen, aber noch nicht absehbar ist, wie nachhaltig der Aufschwung ist, und wenn schnell Arbeitskräfte eingestellt werden müssen, deren Eignung aber erst festgestellt werden muss. Aus diesen Gründen ist es nicht überraschend, dass sich der Auftragseingang im Verarbeitenden Gewerbe und der Anteil befristeter Beschäftigung relativ parallel entwickeln (siehe Abbildung 1). Befristungen legen also vor allem in konjunkturellen Aufschwungphasen zu.
Gerade wenn der Aufschwung anhält, dürften sich auch die Befristungsdauern erhöhen. Zu den Befristungen mit längerer Vertragsdauer kommen aufgrund der steigenden Nachfrage nach Arbeitskräften weitere Befristungen hinzu. Aber auch Übernahmen in unbefristete Beschäftigung gewinnen dann an Bedeutung (lesen Sie hierzu den IAB-Kurzbericht 16/2018). Umgekehrt hatte der Einbruch in der Wirtschaftskrise 2008/09 nur einen geringen Rückgang bei den Befristungen zufolge. Denn die Krise war zum einen kürzer als viele befristete Verträge, zum anderen betraf sie mit dem Produzierenden Gewerbe einen Bereich, in dem Befristungen ohnehin eine untergeordnete Rolle spielen.
„Befristungen legen vor allem in konjunkturellen Aufschwungphasen zu“
Würde demnach eine längere Wirtschaftskrise, die nicht nur das Produzierende Gewerbe, sondern auch andere Branchen betrifft, zu einem Rückgang befristeter Beschäftigung führen?
Die ersten Opfer einer länger anhaltenden, branchenübergreifenden Wirtschaftskrise dürften – neben den Leiharbeitnehmern – sicherlich die befristet Beschäftigten sein. Eine sinkende Befristungsquote wäre dann kein gutes Zeichen, da ein Großteil der Betroffenen nicht in Beschäftigung, sondern in die Arbeitslosigkeit gehen würde. Eine hohe Befristungsquote bei geringer Arbeitslosigkeit ist also nicht unbedingt schlechter zu bewerten als eine niedrige Befristungsquote bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit.
Die Zahl der offenen Stellen hat sich in den letzten Jahren deutlich erhöht. Müsste man da nicht erwarten, dass die Unternehmen mehr unbefristete Stellen anbieten, um im Wettbewerb um Fachkräfte attraktiver zu werden?
Angesichts der Zunahme an offenen Stellen ist in der Öffentlichkeit gelegentlich davon die Rede, dass sich der Arbeitsmarkt zu einem „Arbeitnehmermarkt“ wandelt. Die Arbeitgeber tun sich demnach zunehmend schwer, geeignete Fachkräfte zu finden. In der Folge bieten sie höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Zumindest auf der betrieblichen Ebene gibt es dafür Hinweise: Betriebe, die besser bezahlen und seltener befristen, können ihre offenen Stellen anscheinend leichter besetzen. Jedenfalls ist die Zahl der unbesetzten Stellen dort im Schnitt deutlich niedriger (siehe Abbildung 2). Darauf deuten auch multivariate Analysen auf der Mikroebene hin (Anmerkung der Redaktion: Detaillierte Informationen zu den multivariaten Analysen finden Sie im IAB-Forschungsbericht 12/2015 von Christian Hohendanner et al.).
Das erklärt aber noch nicht, warum die Zahl befristeter Jobs trotz zunehmender Arbeitskräfteknappheit ansteigt.
Das ist in der Tat nicht leicht zu beantworten. Grundsätzlich gilt auch hier: Beide Phänomene – Arbeitskräfteknappheit und Zunahme befristeter Verträge – sind letztlich die Summe der Entwicklungen auf sehr heterogenen branchen- und berufsspezifischen Arbeitsmärkten mit jeweils ganz unterschiedlichen Bedingungen. Arbeitskräfteknappheit kann sogar zu mehr Befristungen führen, wenn Arbeitskräfte und Stellenangebote immer schlechter zueinander passen. In diesen Fällen haben Befristungen verstärkt die Funktion einer verlängerten Probezeit: Sie erleichtert den Arbeitgebern Bewerber einzustellen, bei denen nicht sicher ist, ob sie wirklich auf die jeweilige Stelle passen.
„Arbeitskräfteknappheit kann sogar zu mehr Befristungen führen, wenn Arbeitskräfte und Stellenangebote immer schlechter zueinander passen“
Gibt es noch weitere Erklärungsfaktoren?
Ja, auch befristete Nebenbeschäftigungen könnten überproportional zugenommen haben. Bei steigendem Arbeitskräftebedarf dürften gerade Teilzeitbeschäftigte vorübergehend eine befristete Nebenbeschäftigung aufnehmen und damit zur Erhöhung der Befristungsquote beitragen. Auch Rentner könnten bei dringendem Bedarf (befristet) aus ihrem Ruhestand von ihren ehemaligen Arbeitgebern „reaktiviert“ werden.
In vielen Fällen ist es den Arbeitgebern zudem schlicht nicht möglich, unbefristete Verträge abzuschließen. Zeitlich begrenzte Saisonarbeit, zeitlich begrenzt finanzierte Projekte, zusätzliche Aufgaben oder Elternzeitvertretungen sind – unabhängig von der Arbeitskräftesituation – häufige Motive für den Abschluss befristeter Verträge. Gerade in Aufschwungphasen dürften auch solche Tätigkeiten zunehmen.
Gibt es Beispiele dafür?
Ja. Der Anstieg der Befristungen zwischen 2016 und 2017 ist nicht zuletzt auf die unternehmensnahen Dienstleistungen zurückzuführen – vor allem bei der Zeitarbeit sowie in den Bereichen Reisegewerbe, Wachdienste, Garten- und Landschaftsbau. Hier spielen saisonale oder zeitlich begrenzte Tätigkeiten eine größere Rolle. Hier haben die Arbeitgeber weniger Spielraum für unbefristete Verträge. Dies dürfte auch in Branchen wie der Nahrungs- und Genussmittelindustrie, dem Hotel- und Gastgewerbe oder der Land- und Forstwirtschaft der Fall sein.
„Im Gesundheits- und Sozialwesen nimmt der Befristungsanteil ab“
Gibt es auch Branchen, in denen der Befristungsanteil rückläufig ist?
Ja, zum Beispiel das Gesundheits- und Sozialwesen. Hier dürften die zunehmenden Fachkräfteengpässe in der Tat die Befristungspraxis der Arbeitgeber beeinflusst haben. Dort ist der Befristungsanteil seit 2010 kontinuierlich von 12,2 auf 10,1 Prozent gesunken. Zugleich ist aber der Bedarf an zusätzlichen Dauerstellen in dieser Branche langfristig vorhanden und aufgrund des demografischen Wandels recht gut prognostizierbar.
In welchen Branchen sind Befristungen besonders verbreitet?
Abgesehen von der Wissenschaft werden Befristungen vor allem im gemeinnützigen Bereich besonders stark eingesetzt. Die Abhängigkeit von öffentlichen Haushalten und Fördermitteln spielt hier eine große Rolle. Gemeinnützige Projekte werden von der öffentlichen Hand oder anderen Geldgebern häufig für einen begrenzten Zeitraum von wenigen Jahren finanziert.
Warum wird gerade im öffentlichen Dienst so stark befristet?
Diese Aussage würde ich so nicht ganz teilen. Es stimmt zwar, dass im öffentlichen Dienst etwas mehr befristet wird als in der Privatwirtschaft. Die Unterschiede sind aber, was die Befristungsanteile angeht, so groß nicht. Zudem: Hat man im öffentlichen Dienst einmal einen unbefristeten Vertrag, ist man vor einer Kündigung durch den Arbeitgeber relativ sicher. Das zeigt auch die Altersstruktur und die hohe Bedeutung der Verrentung bei den Personalabgängen im öffentlichen Dienst. Überspitzt formuliert: Wenn man einmal drin ist, kann man in der Regel bleiben. Und andere „flexible“ Beschäftigungsformen wie die Leiharbeit spielen im öffentlichen Dienst kaum eine Rolle. Man sollte also immer die gesamte Personalpolitik im Blick haben. Anders sieht das aber bei Universitäten und Forschungsinstituten aus. Sicherlich ist in der Wissenschaft eine gewisse Fluktuation notwendig und auch Qualifizierung sollte für den wissenschaftlichen Nachwuchs immer wieder möglich sein. Ob aber eine Befristungsquote von 90 Prozent beim wissenschaftlichen Personal auf Dauer wirklich sinnvoll ist, darf bezweifelt werden.
Zu guter Letzt: Hand aufs Herz – wie belastbar sind Ihre Zahlen eigentlich?
Die Zahlen sind aus methodischen Gründen natürlich mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, denn es sind Befragungsdaten, die auf Stichproben beruhen. Wenn Sie mehrere Stichproben an Betrieben befragen, werden Sie immer wieder etwas andere Antworten bekommen. Kleinere Veränderungen zwischen einzelnen Jahren sollten daher nicht auf die Goldwaage gelegt werden. Gewissheit über tatsächliche Entwicklungen gewinnt man oft erst durch die Betrachtung längerer Zeiträume. Die Verdopplung des Anteils seit 1996 spiegelt daher die Realität auf dem deutschen Arbeitsmarkt in der Tendenz wider.
Die Fragen stellte Dr. Martin Schludi.
Fotos: Kurt Pogoda (IAB), privat
Literatur
Gürtzgen, Nicole; Kubis, Alexander: Reform des Befristungsrechts – mögliche Auswirkungen des Koalitionsvertrags auf Betriebe und Beschäftigte. In: IAB-Forum 3. Juli 2018.
Hohendanner, Christian (2018): Reform der befristeten Beschäftigung im Koalitionsvertrag: Reichweite, Risiken und Alternativen. IAB-Kurzbericht Nr. 16.
Hohendanner, Christian: Befristete Beschäftigung in Deutschland. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Aktuelle Daten und Indikatoren.
Hohendanner, Christian; Ostmeier, Esther; Ramos Lobato, Philipp (2015): Befristete Beschäftigung im öffentlichen Dienst. Entwicklung, Motive und rechtliche Umsetzung. IAB-Forschungsbericht Nr. 12.
Schludi, Martin (2018): „Betriebe, die besser bezahlen und seltener befristen, haben weniger Vakanzen“, In: IAB-Forum 3. Juli 2018, https://www.iab-forum.de/betriebe-die-besser-bezahlen-und-seltener-befristen-haben-weniger-vakanzen/, Abrufdatum: 24. November 2024
Autoren:
- Martin Schludi