13. September 2018 | Serie „Leben und Arbeiten in der Zukunft“
Digitale soziale Sicherung – ein Schritt in die Zukunft
Die Digitalisierung krempelt die Arbeitswelt in vielfacher Hinsicht um. Berufe verändern sich, manche fallen weg, manche entstehen ganz neu. Auch die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsinhalte wandeln sich. Auch die Art und Weise, wie Arbeitsmärkte funktionieren, wird durch die Digitalisierung beeinflusst: So ist es dank Internet möglich, digitale (oder digital transferierbare) Arbeiten auf Onlineplattformen ohne jeglichen physischen Kontakt zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber anzubieten und durchzuführen. Denn Tätigkeiten, die früher orts- oder kontextgebunden waren, lassen sich heute zusehends digitalisieren. Die Tätigkeiten sind in ihrer Komplexität höchst unterschiedlich und umfassen beispielsweise Aufgaben wie das Sammeln von Informationen, das Testen von Produkten, das Programmieren, das Verfassen von Texten oder auch Aufgaben im Bereich Design. Zudem geht die Allokation von Aufgaben vielfach über das rein digitale Arbeiten hinaus, indem auch Dienstleistungen angeboten werden, die an bestimmten Orten erbracht werden müssen (etwa das Erfassen von Einzelhandelspreisen oder Arbeiten in Anlagen des Kunden).
Diese Entwicklung eröffnet neue Optionen für Erwerbsformen jenseits bislang üblicher Beschäftigungsverhältnisse. Das Ausmaß von Plattformarbeit (oder Crowdwork) nimmt dabei exponentiell zu, wenn auch in den meisten Ländern noch auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau. Naturgemäß hängen die konkreten Zahlen von der jeweiligen Definition und Messmethode ab. Laut einer umfragebasierten Studie von Ursula Huws und Koautoren geben zwischen 9 und 22 Prozent der Befragten aus verschiedenen europäischen Ländern an, schon einmal Dienstleistungen über Onlineplattformen verkauft zu haben.
Plattformen können die Markttransparenz erhöhen, Transaktionskosten senken und Firmen neue effiziente und flexible Geschäftsmöglichkeiten eröffnen. Zugleich können sie dem Bedürfnis mancher Menschen, unabhängig und selbstbestimmt zu arbeiten, entgegenkommen. Aus der Perspektive nationaler Politik hat Plattformarbeit allerdings zumeist einen eher informellen Charakter hat. Dies gibt insbesondere auch deswegen Anlass zur Besorgnis, weil in diesem Fall grundlegende Lebensrisiken wie Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Alter und Pflegebedürftigkeit nicht sozialstaatlich abgesichert sind. Dies gilt vor allem für Menschen, bei denen Plattformarbeit die Haupteinkommensquelle ist. Doch auch dann wenn sie nur die Nebeneinkommensquelle bildet, resultieren daraus in der Regel keine Soziallleistungsansprüche. Natürlich ist es denkbar, dass Plattformarbeit Einkommen generiert, das ohne die Existenz dieser Plattformen gar nicht erwirtschaftet worden wäre. In diesem Fall verschärft sie nicht die sozialen Risiken für die Betroffenen. Dennoch stellt sich – unabhängig davon, ob man Plattformarbeit als wünschenswert erachtet oder nicht – die dringende Frage, wie mit den offensichtlichen sozialen Risiken umzugehen ist.
Daraus ergibt sich die Herausforderung, die sozialen Sicherungssysteme im Lichte zunehmend flexiblerer Erwerbsformen neu auszutarieren. Schließlich haben Crowdworker nicht per se einen geringeren Bedarf an sozialer Absicherung als klassische Arbeitnehmer. In ausgebauten Sozialstaaten kommt typischerweise ein weiteres Problem hinzu: Wenn Crowdworker nicht sozial abgesichert sind und gleichwohl bedürftig werden, etwa weil sie eine teure medizinische Behandlung brauchen oder ihr Existenzminimum nicht mehr aus eigenen Mitteln bestreiten können, springt der Staat mit steuerfinanzierten Soziallleistungen ein. Es sind dann also letztlich die Steuerzahler, die einen wachsenden informellen Sektor subventionieren, in dem über weite Strecken Lohndumping betrieben wird und in dem Fehlanreize dahingehend bestehen, dass die soziale Absicherung der Betroffenen vernachlässigt wird.
Neben diesem Trittbrettfahrerproblem machen es das Phänomen der adversen Selektion und die verbreitete Neigung, kurzfristiges Einkommen höher zu gewichten als langfristige soziale Absicherung, unwahrscheinlich, dass das Vertrauen auf die Eigeninitiative der Betroffenen hier zu befriedigenden Ergebnissen führt. Hinzu kommen weitere positive Effekte von sozialer Absicherung wie besserer Gesundheitszustand, höhere Investitionsbereitschaft oder stärkere Identifikation mit dem Gemeinwesen.
Insgesamt gibt es also gute Gründe, auch Plattformarbeit in die sozialen Sicherungssysteme einzubeziehen. Allerdings werden dagegen durchaus ernst zu nehmende Vorbehalte ins Feld geführt. Diese werden im Folgenden diskutiert.
Lässt sich soziale Sicherung auch für Crowdworker organisieren?
Eine substanzielle Herausforderung liegt im internationalen, flexiblen und kurzfristigen Charakter der Plattformarbeit. Denn die unterschiedlichen nationalen Sicherungssysteme dürften tendenziell damit überfordert sein, die Vielzahl von Onlineaufträgen (Gigs) mit vielfach sehr kleinen Volumina und ständig wechselnden Vertragspartnern mit ihren herkömmlichen Verwaltungsabläufen adäquat zu erfassen und zu verarbeiten. Auch der Aufbau einer umfassenden internationalen Sozialversicherung, die in der Lage wäre, dieses zu leisten, erscheint unrealistisch. Ungeachtet dessen liegt in der Digitalisierung auch eine Chance für soziale Sicherung. Unter dem Label „Digitale Soziale Sicherung“ (DSS) soll im Folgenden ein flexibler und praktikabler Lösungsansatz präsentiert werden.
In diesem System würde ein fixer Prozentsatz der vereinbarten Vergütung auf ein persönliches DSS-Konto des Crowdworkers eingezahlt (zusätzlich zur und/oder als Teil der vereinbarten Vergütung). Dieses simple Quellenabzugsverfahren wäre das einzige Element, um das die bestehenden Plattformen erweitert werden müssten. Die anfallenden Beträge würden monatlich von den DSS-Konten zu den jeweiligen nationalen Sicherungssystemen transferiert (je nach Wohnsitz oder Nationalität). Dort könnten alle weiteren Schritte innerhalb der bereits bestehenden Strukturen abgewickelt werden. Dies beträfe auch die Entscheidung darüber, wie die Beiträge auf die unterschiedlichen Sozialversicherungszweige aufgeteilt werden und welche Leistungsansprüche daraus erwachsen. Das DSS-Kontensystem könnte von einer bereits bestehenden internationalen Institution wie der Internationalen Arbeitsorganisation oder der Weltbank verwaltet werden. Kernstück ist die automatische Abführung der Beiträge durch die Plattformen – anstelle einer direkten Abwicklung zwischen allen Kunden und Sozialversicherungssystemen in jedem Einzelfall, die organisatorisch kaum durchführbar sein dürfte (vgl. Abbildung).
Auf der internationalen Ebene wird das DSS-System naturgemäß nicht die Vielfalt der nationalen Einzelregelungen abbilden können, beispielsweise konkrete Beitragssätze. Ab dem Moment, wo die die Beiträge in die nationalen Sozialversicherungssysteme transferiert wurden, stünde jedoch flexiblen nationalen Lösungen nichts im Wege. So könnten die individuellen Leistungsansprüche vom Verhältnis zwischen dem Beitragssatz im DSS-System und dem Beitragssatz im jeweiligen nationalen System abhängig gemacht werden. Ein Beispiel: Läge der Beitragssatz im DSS-System 20 Prozent unter demjenigen im jeweiligen nationalen System, so wären auch die daraus resultierenden Leistungsansprüche 20 Prozent niedriger.
Zudem würde auch die Aufteilung der DSS-Beiträge auf die verschiedenen Versicherungszweige von Land zu Land variieren, um den unterschiedlichen nationalen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Beispielsweise wäre denkbar, die anfallenden Beiträge bis zu einer festgelegten Grenze in diejenigen Versicherungen zu überführen, die typischerweise nicht dem Äquivalenzprinzip folgen (beispielsweise in die Krankenversicherung) und die darüber hinausgehenden Beitragszahlungen in andere Versicherungszweige (z.B. in die Rentenversicherung), wo Ansprüche wie oben beschrieben skalierbar wären. Auf diese Weise ließen sich auch Mindestbeiträge implementieren, wie sie in einigen Ländern für die soziale Absicherung Selbständiger existieren.
Auch private Versicherungen ließen sich bei Bedarf integrieren, etwa in Ländern, wo kein umfassendes Sozialversicherungssystem besteht. Zudem könnten Beiträge, die laut nationalem Recht nicht verpflichtend sind, direkt ausbezahlt werden; gleiches würde für Beiträge gelten, die laut nationalem Recht unterhalb bestimmter Freigrenzen oder oberhalb bestimmter Beitragsbemessungsgrenzen liegen und somit nicht unter die Beitragspflicht fallen. Schließlich wäre — wie im ersten Beispiel — denkbar, die Beitragssätze zum DSS-System länderspezifisch anzupassen, um sicherzustellen, dass auch für Crowdworker die nationalen Regelungen faktisch Anwendung finden. Allerdings könnten national unterschiedliche Beitragssätze wettbewerbsverzerrend wirken, und man würde keine Regulierungen abbilden können, die zu personenspezifischen Beitragssätzen führen. Schwierigkeiten gibt es offensichtlich in Ländern ohne öffentliches Sicherungssystem. Dort ließen sich gegebenenfalls private Versicherungen oder vergleichbare lokale Organisationen betrauen. Dennoch wären hier grundlegendere sozialpolitische Schritte vordringlich.
Um die Funktionsweise der DSS zu illustrieren, sind im nachstehenden Infokasten drei fiktive Fallbeispiele beschrieben. Wie oben erläutert, sind die konkreten Regelungen prinzipiell flexibel gestaltbar und liegen im Ermessen der nationalen Gesetzgebung.
Digitale Soziale Sicherung – drei fiktive Fallbeispiele
Fallbeispiel A
Person A, die in einem Industrieland wohnt, erledigt auf einer Plattform Programmiertätigkeiten und verdient im Schnitt 6.000€ monatlich. Ihre DSS-Beiträge werden zwischen Kranken- (KV), Renten- (RV) und Arbeitslosenversicherung (ALV) gesplittet. In der KV überschreiten die Zahlungen den Mindestbeitrag und erreichen die Beitragsbemessungsgrenze. A hat also vollen Krankenversicherungsschutz. In der RV werden Beiträge bis zur geltenden Beitragsbemessungsgrenze entrichtet, so dass A substanzielle Rentenansprüche erwirbt. In der ALV erwirbt A Leistungsansprüche (entsprechend der Höhe der von ihr monatlich gezahlten Beiträge), indem sie z.B. über zwölf Monate Beiträge oberhalb des Mindestbeitrags gezahlt hat. Aufgrund ihres hohen Einkommens hat A mehr Beiträge entrichtet, als laut nationalem Recht vorgesehen gewesen wären. Die zu viel gezahlten Beiträge werden ihr daher erstattet.
Fallbeispiel B
Person B bezieht Sozialleistungen und verrichtet Micro-Tasks (Aufgaben) auf verschiedenen Plattformen, die ihr ein monatliches Zusatzeinkommen von 100€ einbringen. Sie ist als Sozialleistungsempfänger krankenversichert. Ihre DSS-Beiträge fließen in die Rentenversicherung, was dazu führt, dass bestehende Rentenansprüche aus einem früheren regulären Beschäftigungsverhältnis geringfügig erhöht werden. Laut nationalem Recht hat B aufgrund ihres geringen Einkommens die Möglichkeit, sich die gezahlten Beiträge erstatten zu lassen. Die Regierung plant allerdings, die Sozialversicherungsbeiträge nicht ausschließlich für sehr kleine Jobs, sondern oberhalb einer bestimmten Schwelle zu senken, um mehr Arbeitsanreize zu schaffen.
Fallbeispiel C
Person C wohnt in einem Entwicklungsland und stockt ihr Einkommen aus einer lokalen Erwerbstätigkeit, das sich auf monatlich 200 US-Dollar beläuft, durch Plattformarbeit auf. Im Land existiert kein umfassendes Sozialversicherungssystem, aber derzeit wird eine Basiskrankenversicherung aufgebaut. C’s Ersteinkommen reicht nicht aus, um den Mindestbeitrag zu bezahlen. Durch Beiträge aus ihrem Ersteinkommen, ergänzt um die DSS-Beiträge, kann C aber vollen Versicherungsschutz erhalten.
Ist soziale Sicherung ohne umfassende Regulierung möglich?
Mit Blick auf die Regulierung von Plattformen und Plattformarbeit besteht politischer Handlungsbedarf auch über die soziale Absicherung hinaus. Es kommt entscheidend darauf an, den rechtlichen Status von Plattformen festzulegen und Selbständigkeit vor dem Hintergrund unterschiedlicher und flexibler Arbeitsmärkte zu definieren und zu identifizieren. Neben der sozialen Sicherung sind hier Aspekte wie Arbeitszeit, Datenschutz, Mindestlöhne und Tarifverhandlungen tangiert. Es spricht viel dafür, dass ein nicht zu vernachlässigender Teil von Plattformarbeit als abhängige Beschäftigung zu klassifizieren ist. Für Personen, auf die dies zutrifft, sollten demnach die gleichen Rechte gelten wie für reguläre Arbeitnehmer im Wohnsitzland. In diesen Fällen ist DSS ein effizientes Instrument, um soziale Sicherung in einem amorphen Arbeitsmarkt unbürokratisch zu organisieren.
Ansonsten dürften wohl viele genuine Freiberufler und andere Gruppen in einem gewissen rechtlichen Graubereich operieren, bei denen eine Klassifizierung als abhängig Beschäftigte relativ leicht umgangen werden kann – nicht nur angesichts des internationalen und flexiblen Charakters von Plattformarbeit, sondern auch weil sich viele Auftragnehmer und Auftraggeber mehr oder weniger stillschweigend darauf verständigen können, sich dieser Klassifizierung zu entziehen. Zudem trifft das begrenzte Arsenal an formellen nationalstaatlichen Regulierungsoptionen auf einen sich rapide wandelnden Markt. Hier könnte DSS eine reale Lücke schließen.
Im Allgemeinen sollen Arbeitnehmerrechte dazu dienen, Beschäftigte zu schützen, weil diese typischerweise in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Arbeitgeber stehen und gegenüber diesem eine ungünstigere Verhandlungsposition haben. Gleichwohl sind nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Freiberufler – und alle möglichen Zwischenformen – auf ein Mindestmaß an sozialer Sicherung angewiesen. Tatsächlich zahlen in manchen Ländern auch Selbstständige Sozialbeiträge, verpflichtend oder freiwillig. In Deutschland ist beispielsweise eine Krankenversicherung für Selbstständige verpflichtend, Pläne zur Rentenversicherungspflicht werden gerade umgesetzt. Der Eintritt in die Arbeitslosenversicherung erfolgt dagegen freiwillig auf Antrag. DSS ist also in jedem Fall ein sinnvoller Ansatz – unabhängig davon, dass Unklarheiten bezüglich des Beschäftigungsstatus von Crowdworkern bestehen, die noch nicht aufgelöst sind und die im Zeitverlauf unterschiedlich bewertet werden können.
Haben Crowdworker überhaupt die finanziellen Mittel, um Sozialbeiträge zu entrichten?
Die Verdienste von Crowdworkern sind oft niedrig, insbesondere bei einfachen Aufgaben, nicht zuletzt aufgrund der gesunkenen Transaktionskosten, die zu einem starken internationalen Wettbewerb geführt haben. So beziffern Uma Rani, Marianne Furrer und Christine Behrendt die durchschnittlichen Stundenlöhne von Crowdworkern, die ein bis zwei Jahre Erfahrung mit Arbeiten auf Mikrotask-Plattformen haben, in einer in Kürze erscheinenden Studie auf 4,92 US-Dollar. Rechnet man auch deren unbezahlte Arbeit ein, etwa für die Suche nach Aufträgen oder für die Kommunikation mit dem Auftraggeber, so sinkt dieser Wert sogar auf 3,76 Dollar. Dabei ist die Verteilung der Verdienste insbesondere in Niedriglohnländern tendenziell linksschief, weist also relativ viele „Ausreißer“ nach unten auf. Dabei hängen die Entgelte naturgemäß von der Art der Arbeit ab. So werden simple Micro-Aufgaben in aller Regel deutlich schlechter vergütet als Aufgaben, die ein gewisses Qualifikationsniveau erfordern.
Zugleich wiegt die Sicherung des gegenwärtigen Lebensunterhalts bei Geringverdienern bekanntlich schwerer als das Interesse an langfristiger Absicherung gegen Lebensrisiken. Welche Konsequenzen sollten daraus gezogen werden? In vielen Ländern reichen die Ursprünge der heutigen sozialen Sicherungssysteme ins späte 19. und frühe 20. Jahrhundert zurück. Damals war die unmittelbare materielle Not sicherlich wesentlich gravierender als heute. Man stelle sich vor, die damaligen Sozialreformer wären davor zurückgeschreckt, eine verpflichtende Sozialversicherung einzuführen – wir stünden heute deutlich schlechter da. Auch jetzt steht viel auf dem Spiel, wenn die Politik nicht aktiv wird. Tatsächlich hat DSS das Ziel, eine Dynamik in Gang zu setzen, die mittelfristig zu einer besseren Absicherung und höheren Löhnen für Crowdworker führt.
Prinzipiell sollte ein Arbeitseinkommen ausreichen, um einen auskömmlichen Lebensunterhalt in der Gegenwart und zugleich Vorsorge etwa für Alter und Krankheit zu ermöglichen. Wenn das Geld dafür nicht reicht, kann die Lösung freilich nicht darin bestehen, auf die soziale Absicherung zu verzichten. Im Gegenteil: Armut ist am kritischsten in Notlagen, wo soziale Sicherung einspringen sollte. Anderenfalls können Menschen noch tiefer in die Armut rutschen, etwa wenn keine Zeit mehr für Aus- und Weiterbildung investiert werden kann. Besonders fatal wäre es, wenn individuelle Zukunftsinvestitionen aus Angst vor einer weiteren Verschlechterung der akuten Notlage unterbleiben. Insofern ist es gerade die starke Präferenz für den Gegenwartskonsum, die eine verpflichtende Sozialversicherung notwendig macht.
Daneben braucht es angemessene Strategien zur Armutsbekämpfung, die auch eine partielle Reform der Plattformarbeit beinhalten sollten. Gleichwohl sollte das DSS-Projekt aus Gründen der Akzeptanz zunächst mit niedrigen Beitragssätzen starten – auch wenn es nur ein paar Prozent sind. Denkbar wäre auch, die privaten DSS-Beiträge vorübergehend mit öffentlichen Mitteln aufzustocken, sofern das nationale Sozialrecht dem nicht entgegensteht.
Droht die Hinterziehung von Sozialbeiträgen?
Die Gefahr, dass die Zahlung von Pflichtbeiträgen bei informellen und länderübergreifenden Beschäftigungsverhältnissen unterlaufen wird, lässt sich nicht von der Hand weisen. Dennoch könnte die erhöhte Transparenz, die auf Onlineplattformen herrscht, nicht nur dabei helfen, Angebot und Nachfrage besser zusammenzubringen, sondern auch die Einrichtung eines DSS-Systems erleichtern. Dabei ist es wesentlich, dass sowohl Auftraggeber und Auftragnehmer eines Onlinedeals, als auch die vereinbarten Entgelte digital gespeichert sind. Insofern wären Onlineplattformen in der Lage, dafür Sorge zu tragen, dass die DSS-Regeln auch eingehalten werden, zumal die Zahlungen oftmals vorab als Sicherheitsleistung getätigt werden. Konkret könnte ein festgelegter Aufschlag oder Anteil des Entgeltbetrags automatisch einbehalten und dem DSS-Konto gutgeschrieben werden. Immerhin erheben Onlineplattformen auch heute schon vielfach Gebühren, die höher sind als übliche Sozialbeiträge.
Entscheidend sind also politische Entscheidungen in den Staaten beziehungsweise ein Konsens zwischen verschiedenen Ländern darüber, hier aktiv zu werden. Auch wenn sich die Hinterziehung von Sozialbeiträgen damit zwar nicht ganz verhindern lässt, wären die Voraussetzungen dafür, dass die Regeln eingehalten werden, deutlich besser als bei in bar bezahlter Arbeit, die außerhalb von Onlineplattformen vermittelt wird. Eine andere Option wäre, dass öffentliche Träger eigene Plattformen einrichten, die bestimmte ethische und soziale Standards einhalten. Dabei könnten reduzierte Gebühren dazu beitragen, mehr finanziellen Spielraum für die Erhebung von DSS-Beiträgen zu schaffen.
Besondere Aufmerksamkeit sollte auf das Zusammenspiel zwischen DSS und offizieller Einkommenssteuererklärung gerichtet sein. Es liegt nahe, dass Schwarzarbeit bei Crowdworkern recht verbreitet ist. Wenn das DSS-System Steuerbehörden und Arbeitsverwaltung Einblick in die Zahlungsströme im Bereich der Plattformökonomie gibt, hätte dies den positiven Nebeneffekt, dass Steuer- und Sozialleistungsbetrug erschwert würde. Auf der anderen Seite könnte dies auch die Anreize, zu (ggf. neu entstehenden) unregulierten Plattformen zu wechseln, verstärken. Um die Vorteile eines DSS-Systems voll ausschöpfen zu können, braucht es in jedem Fall einen politischen Konsens darüber, dass die Behörden bestehende Regeln auch durchsetzen und illegale Plattformaktivitäten auf ihrem Territorium unterbinden.
Fazit
Im Lichte der hier präsentierten Argumente erscheint DSS als ein erfolgversprechender Ansatz. Wenn man versuchsweise mit niedrigen Beitragssätzen startet, würde dies den Marktteilnehmern erlauben, Erfahrungen mit dem neuen Instrument zu sammeln. Sobald die institutionellen Strukturen einmal etabliert und weiterentwickelt sind, könnte das Niveau angehoben werden. Dies könnte weitere Länder, die anfangs noch zögerlich waren, motivieren, sich ebenfalls am DSS-System zu beteiligen. Ein DSS-System wäre ein konkreter Schritt nach vorn, denn es wäre sowohl machbar als auch gesamtgesellschaftlich nützlich. Naturgemäß wäre die Einführung mit einigen Schwierigkeiten verbunden – nichtsdestoweniger zeigt es einen gangbaren Weg auf, um mit den wachsenden Risiken umzugehen, die aus sozialen Problemen erwachsen, welche sich unserer Kontrolle bisher entziehen.
Literatur
Greef, Samuel; Schroeder, Wolfgang (2017): Plattformökonomie und Crowdworking: Eine Analyse der Strategien und Positionen zentraler Akteure. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Forschungsbericht 500.
Huws, Ursula; Spencer, Neil; Syrdal Dag; Holts, Kaire (2017): Work in the European Gig Economy: Research Results from the UK, Sweden, Germany, Austria, The Netherlands, Switzerland and Italy. Foundation for European Progressive Studies.
Weber, Enzo (2016): Industrie 4.0: Wirkungen auf den Arbeitsmarkt und politische Herausforderungen. In: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Jg. 65, H. 1, S. 66-74.
Mein Dank gilt Gesine Stephan, Martin Schludi, Ulrich Walwei, Kerstin Bruckmeier, Ekkehard Ernst, Hermann Gartner, Tobias Hellwagner, Thomas Kruppe, Michael Oberfichtner, Uma Rani Amara, Christina Schildmann sowie den Teilnehmern des 2018 Policy Dialogue der ILO Global Commission on the Future of Work, der 2018 LABOR.A , der Jahrestagung 2018 des Vereins für Socialpolitik, und der IAB-DiskAB-Reihe für ihre Unterstützung und ihre Anregungen. Für die in diesem Text geäußerten Meinungen und etwaige Fehler trage ich selbstverständlich die alleinige Verantwortung.
Eine englische Fassung des Beitrags finden Sie hier.
Weber, Enzo (2018): Digitale soziale Sicherung – ein Schritt in die Zukunft, In: IAB-Forum 13. September 2018, https://www.iab-forum.de/digitale-soziale-sicherung-ein-schritt-in-die-zukunft/, Abrufdatum: 21. November 2024
Autoren:
- Enzo Weber