24. Februar 2021 | Bildung vor und im Erwerbsleben
Bildungswege nach dem Abitur: Warum die Bildung der Eltern noch immer einen Unterschied macht
In den 1950er Jahren setzte in Deutschland die sogenannte Bildungsexpansion ein. Seit Jahrzehnten steigt die Zahl der Menschen mit einer Hochschulzugangsberechtigung ebenso wie die der Studierenden. Dies forcierte die Politik durch den Aufbau und die Öffnung von weiterführenden Bildungseinrichtungen, um die Chancengleichheit im Bildungssystem zu verbessern. Damit sollten insbesondere soziale Ungleichheiten abgebaut werden und Jugendliche aus nicht akademischen Haushalten verstärkt für tertiäre Bildungswege gewonnen werden. Dank der Bildungsexpansion wurde dieses Ziel teilweise erreicht, denn die Aufnahme eines Studiums hängt heutzutage weniger von der Bildung der Eltern ab als noch in den 1950er Jahren. Gleichwohl entscheiden sich Kinder aus nicht akademischen Haushalten auch bei gleichen Schulleistungen noch immer seltener für ein Hochschulstudium als Akademikerkinder.
Ob sich die Bildungsexpansion künftig fortsetzen wird, ist indes offen. Zwischen 1999 und 2018 stieg der Anteil eines Schülerjahrgangs, der die allgemeine Hochschulreife erwarb, deutschlandweit von knapp 28 auf knapp 40 Prozent. Allerdings verzeichnen einige wenige Bundesländer einen gegensätzlichen Trend. Dort nahm im gleichen Zeitraum der Anteil der Schulabsolventinnen und -absolventen mit Abitur sogar leicht ab. Auch in vielen anderen Bundesländern nehmen die Abiturientenanteile seit einigen Jahren nur noch sehr langsam oder gar nicht mehr zu (ausführliche Daten hierzu finden Sie im Datenportal des Bundesministeriums für Bildung und Forschung).
Höhere Bildungsabschlüsse führen im Lebensverlauf im Schnitt zu deutlich höheren Einkommen
Unverändert gilt, dass höhere Bildungsabschlüsse im Durchschnitt mit höheren beruflichen Positionen und damit deutlich höheren Löhnen im Lebensverlauf einhergehen (siehe Abbildung). So verdienen Abiturientinnen und Abiturienten mit Universitätsabschluss im Schnitt deutlich besser als solche mit beruflicher Bildung und auch besser als Menschen mit einer abgeschlossenen Meister- oder Technikerausbildung. Diese Einkommenskluft wächst mit zunehmendem Lebensalter.
Knapp 30 Prozent der Studienberechtigten beginnen eine Ausbildung
Die Bildungsentscheidung nach dem Abitur ist eine grundlegende Weichenstellung für die weitere berufliche Karriere – und damit auch eine wichtige Frage für die Bildungsforschung. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang Daten des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW). Demnach planten 63 Prozent der Schülerinnen und Schüler des Abschlussjahrgangs 2018 ein halbes Jahr vor dem Abschluss, unmittelbar nach dem Abitur ein Studium aufzunehmen. 23 Prozent strebten im direkten Anschluss an das Abitur eine Ausbildung an. Der Rest wollte die Zeit unmittelbar nach dem Abitur erst einmal anderweitig nutzen und zum Beispiel für ein Jahr ins Ausland gehen oder ein „soziales Jahr“ absolvieren (das sogenannte Gap Year).
Laut Berufsbildungsbericht liegt der Anteil der Studienberechtigten, die eine Ausbildung beginnen, aktuell bei knapp 30 Prozent. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Bundesländern. So nehmen in Bayern etwa vier Fünftel der Studienberechtigten ein Studium auf, in Nordrhein-Westfalen dagegen drei Fünftel. Ein Grund dafür liegt beispielsweise in der unterschiedlichen Selektivität der Schulsysteme beim Übergang von der Grundschule in weiterführende Schultypen. So werden in einigen Bundesländern Grundschülerinnen und Grundschüler schon nach der vierten Klasse in Abhängigkeit von ihren Schulleistungen in unterschiedliche Schultypen eingeteilt. In anderen Bundesländern erfolgt diese leistungsbezogene Einteilung dagegen später und weniger differenziert. So schaffen in Nordrhein-Westfalen auch mehr leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler das Abitur als in Bayern. Sie schrecken aber eher vor einem Studium zurück als die leistungsstärkeren.
Eine Studie von Marcel Helbig und Koautorinnen aus dem Jahr 2015 verweist auf zwei weitere Einflussfaktoren, die ebenfalls zu entsprechenden Unterschieden zwischen den Bundesländern beitragen. Zum einen wächst mit einem steigenden Angebot an Hochschulen in einer Region auch die Studierneigung von Abiturientinnen und Abiturienten. Zum anderen ist eine Art „Herdeneffekt“ zu beobachten: Je mehr junge Erwachsene eines Abiturjahrganges ein Studium beginnen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch junge Menschen ein Studium beginnen, die es zum Ende ihrer schulischen Laufbahn eigentlich gar nicht vorhatten.
Einer der wichtigsten Einflussfaktoren für die Bildungsentscheidung nach dem Abitur ist die soziale Herkunft
Die soziale Herkunft hat ebenfalls einen Einfluss darauf, welche Alternative junge Menschen nach dem Abitur für ihren Bildungsweg auswählen. In der Bildungsforschung wird die soziale Herkunft von jungen Menschen oft über den Bildungsstand der Eltern abgebildet. Denn es zeigt sich das typische Muster, dass die Bildung der Eltern Bildungsentscheidungen junger Menschen beeinflusst. Darüber hinaus zeigen Forschungsarbeiten, dass das Einkommen der Familie und die Berufe der Eltern einen Einfluss auf Bildungsentscheidungen haben. Nichtsdestotrotz hängen Bildungsentscheidungen junger Menschen am stärksten von den schulischen und beruflichen Abschlüssen der Eltern ab. Die Begriffe „Bildungsherkunft“ und „soziale Herkunft“ werden deswegen häufig – so auch hier – synonym verwendet.
Insgesamt beginnen Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern seltener ein Hochschulstudium als Jugendliche aus Familien mit akademischem Hintergrund. Dies zeigen Daten des DZHW. Die Gründe dafür sind vielfältig, wie einschlägige Forschungsarbeiten zeigen. So haben Jugendliche aus akademischen Elternhäusern im Schnitt die besseren Abiturnoten. Und je besser diese Noten, desto höher ist die Studierneigung.
Doch auch bei gleichen Schulleistungen werden die Kosten eines Studiums oftmals unterschiedlich eingeschätzt, was ebenfalls die Studienentscheidung beeinflusst. So überschätzen Abiturientinnen und Abiturienten aus Elternhäusern mit niedrigerem Bildungsstatus meist die Kosten eines Studiums. Zugleich sind sie weniger gut informiert über das Spektrum an Finanzierungsmöglichkeiten, etwa über Stipendien oder Studienkredite. Zu diesem Ergebnis kommen Rolf Becker und Anna Etta Hecken in einer 2008 erschienenen Studie.
Was die Studie ebenfalls zeigt: Jugendliche aus nicht akademischen Haushalten schätzen ihre Chancen, das Studium erfolgreich zu beenden, geringer ein als Akademikerkinder – auch wenn sie vergleichbare Schulleistungen aufweisen. Dies verstärkt ebenfalls bestehende Vorbehalte gegen ein Studium.
Aus den genannten Gründen hat die soziale Herkunft einen starken Einfluss auf den Übergang von der Schule in weiterführende Bildungsgänge. Natürlich spielen Geschlecht oder Migrationshintergrund hier ebenfalls eine wichtige Rolle. Doch auch bei geschlechts- und migrationsspezifischen Unterschieden in Bildungsentscheidungen kommt dem Elternhaus, etwa aufgrund unterschiedlicher Erziehungsmethoden, eine gewichtige Rolle zu.
Ein besseres Informationsangebot könnte die Studierneigung erhöhen
Die im Jugendalter getroffene Entscheidung für einen bestimmten Bildungsweg hat also langfristige Folgen, die sich nicht zuletzt in unterschiedlichen Löhnen über den gesamten Erwerbsverlauf niederschlagen kann. Die Entscheidung wird stark durch die soziale Herkunft der Jugendlichen beeinflusst. Es kann also durchaus einen Unterschied machen, ob deren Eltern selbst studiert haben oder nicht. So zeigt sich beispielsweise, dass die Informiertheit der Schülerinnen und Schüler über verschiedene Bildungswege stark mit deren sozialer Herkunft zusammenhängt. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die im DIW-Wochenbericht 26/2016 erschienen ist.
Eine Möglichkeit, dieser Ungleichheit entgegenzuwirken, besteht darin, die betroffenen Jugendlichen möglichst umfassend darüber zu informieren, welche Bildungsoptionen sich ihnen durch ein Abitur eröffnen. Dabei geht es unter anderem um die Kosten und den zeitlichen Aufwand für ein Studium, um die Zukunftspotenziale bestimmter Ausbildungsberufe und Studienfächer, um mögliche finanzielle Hilfen (zum Beispiel Stipendien) und um die Anforderungen, die mit spezifischen Bildungswegen verbunden sind.
Neben den Schulen selbst sind hier auch externe Institutionen wie die Bundesagentur für Arbeit (BA) gefordert. Indem Schulen und Bundesagentur eng zusammenarbeiten, können sie ein breites Informations- und Beratungsangebot sicherstellen, das so viele Jugendliche wie möglich erreicht.
Für Deutschland lässt sich beispielsweise auf Basis der Daten aus dem Berliner Studienberechtigtenpanel zeigen, dass „bereitgestellte Informationen zum Nutzen und zur Finanzierung eines Studiums insbesondere bei Jugendlichen ohne akademischen Bildungshintergrund der Eltern dafür sorgen, dass sie eher ein Studium anstreben“, wie in einem DIW-Wochenbericht (26/2016) argumentiert wird.
Eine 2017 erschienene Studie von Martin Ehlert und Koautorinnen, die sich ebenfalls auf diese Daten stützt, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Demnach erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Bewerbung für ein Studium für Jugendliche, deren Eltern keine akademischen Abschlüsse aufweisen, um rund 12 Prozentpunkte, wenn entsprechende Informationen bereitgestellt werden.
Die Ergebnisse einer 2017 erschienenen italienischen Experimentalstudie von Giovanni Abbiati und Koautoren deuten allerdings darauf hin, dass entsprechende Informationen je nach Schichtzugehörigkeit der Jugendlichen unterschiedlich interpretiert werden und die Entscheidung für ein Studium nicht zwangsläufig begünstigen. Die gleiche Informationsbereitstellung führte in dieser Studie zwar dazu, dass alle betrachteten Gruppen sich eher gegen ein Studium mit ungünstigeren Zukunftsaussichten entschieden. Allerdings tendierten Jugendliche aus nicht akademischen Familien in diesem Fall eher zu einer Ausbildung, während Kinder aus akademischen Elternhäusern in der Folge eher andere Studienfächer wählten, von denen sie sich bessere Berufsperspektiven versprachen.
Um die Auswirkungen einer intensivierten Berufsberatung und Informationsbereitstellung geht es auch in dem aktuellen Projekt „Berufliche Orientierung: Studien- und Berufswahl – eine Wirkungsanalyse intensivierter Berufsberatung an Gymnasien“ des IAB. Es handelt sich dabei um eine auf mehrere Jahre angelegte Experimentalstudie, bei der Schülerinnen und Schüler von insgesamt 210 Gymnasien wiederholt befragt werden.
Fazit
Auch heute hängt die Studierneigung zumindest teilweise noch vom Bildungsstand des Elternhauses ab. Bessere Informationen über zukünftige Bildungswege und Berufsoptionen können dieser Schieflage entgegenwirken. So verstärkt beispielsweise die BA zurzeit ihr Berufsorientierungs- und Berufsberatungsangebot an Schulen in ganz Deutschland, um Schülerinnen und Schüler gezielt über post-schulische Bildungswege zu informieren.
Weiterhin könnten Jugendliche aus nicht akademischen Familien noch stärker als bisher über Mentorenprogramme angesprochen werden. Aktuellen Forschungsbefunden zufolge profitieren gerade Kinder aus benachteiligten Familien von solchen Programmen sehr. Auch eine vertiefte Berufsorientierung an Schulen, die praktische Einblicke in bestimmte Berufsfelder ermöglicht, könnte hilfreich sein, um Bildungsentscheidungen weniger abhängig vom Elternhaus zu machen. Dasselbe gilt für duale Studiengänge, denn sie bieten eine praxisnahe und zugleich theoretisch fundierte Ausbildung mit guten Einstiegsmöglichkeiten in den Arbeitsmarkt. Diese Kombination könnte gerade für Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern die Hemmschwellen für die Aufnahme eines Studiums senken.
Literatur
Abbiati, Giovanni; Argentin, Gianluca; Barone, Carlo; Schizzerotto, Antonio (2017): Information barriers and social stratification in higher education: evidence from a field experiment. In: The British Journal of Sociology, 69 (2).
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2020): Bildung in Deutschland kompakt 2020. Zentrale Befunde des Bildungsberichts, zuletzt geprüft am 26.11.2020.
Becker, Rolf; Hecken, Anna Etta (2008): Warum werden Arbeiterkinder vom Studium an Universitäten abgelenkt? Eine empirische Überprüfung der „Ablenkungsthese“ von Müller und Pollak (2007) und ihrer Erweiterung durch Hillmert und Jacob (2003). In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 60, 1, S. 3-29. zuletzt geprüft am 26.11.2020.
Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.) (o.J.): Datenportal des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, zuletzt geprüft am 24.11.2020.
Ehlert, Martin; Finger, Claudia; Rusconi, Alessandra; Solga, Heike (2017): Applying to college: Do information deficits lower the likelihood of college-eligible students from less-privileged families to pursue their college intentions? Evidence from a field experiment. In: Social Science Research, Volume 67, S. 193-212, zuletzt geprüft am 26.11.2020.
Helbig, Marcel; Jähnen, Stefanie; Marczuk, Anna (2015): Bundesländerunterschiede bei der Studienaufnahme. WZB Discussion Paper, Nr. P 2015-001, zuletzt geprüft am 26.11.2020.
Peter, Frauke H.; Rusconi, Alessandra; Solga, Heike; Spieß, C. Katharina; Zambre, Vaishali (2016): Informationen zum Studium verringern soziale Unterschiede bei der Studienabsicht von AbiturientInnen. In: DIW Wochenbericht 26, S. 555-565, zuletzt geprüft am 26.11.2020.
Woisch, Andreas; Mentges, Hanna; Schoger, Laura Isabel (2019): Bildungsintentionen und Informationsverhalten von Studienberechtigten des Abschlussjahrgangs 2018. DZHW Brief 5, zuletzt geprüft am 26.11.2020.
Drobner, Antje; Patzina, Alexander (2021): Bildungswege nach dem Abitur: Warum die Bildung der Eltern noch immer einen Unterschied macht, In: IAB-Forum 24. Februar 2021, https://www.iab-forum.de/bildungswege-nach-dem-abitur-warum-die-bildung-der-eltern-noch-immer-einen-unterschied-macht/, Abrufdatum: 18. November 2024
Autoren:
- Antje Drobner
- Alexander Patzina