6. August 2019 | Podium
Der Wandel der Arbeitswelt stellt die Zeitarbeitsbranche vor Herausforderungen
„Zeitarbeit im Wandel ist doppeldeutig – im Sinne einer sich wandelnden Wirtschaft, aber auch im Sinne eines Wandels der Branche selber.“ Mit diesen Worten begrüßte Prof. Dr. Ulrich Walwei, kommissarischer Direktor des IAB, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 8. interdisziplinären Forums zur Zeitarbeit. Walwei sprach zunächst die Gründe dafür an, dass die Inanspruchnahme der Zeitarbeit nach einer langen Phase des Aufwuchses zuletzt wieder rückläufig ist.
Nach einem aktuellen Bericht der Statistik der Bundesagentur für Arbeit waren im Jahresdurchschnitt 2018 eine Million Leiharbeitnehmer in Deutschland sozialversicherungspflichtig oder ausschließlich geringfügig beschäftigt – das sind fast 32.000 weniger als im Vorjahreszeitraum. Aktuell liegt ihre Zahl bei 924.000.
Hierzu beigetragen hat sicherlich die zum 1. April 2017 in Kraft getretene Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes. Sie beinhaltet eine Begrenzung der Höchstüberlassungsdauer auf 18 Monate, die seit dem 1. Oktober 2018 greift, sowie seit dem 1. Januar 2018 wirksame Regelungen zum „Equal Pay“ nach einer ununterbrochenen Einsatzdauer von neun Monaten.
Außerdem weitet sich der Mangel an geeigneten Arbeitskräften aus. Damit wird es schwieriger, offene Stellen in der Zeitarbeit zu besetzen. Die Branche hat zudem die ersten Auswirkungen einer konjunkturellen Eintrübung zu spüren bekommen.
Zu den Treibern von Strukturwandel und Arbeitswelt gehört unter anderem die Diffusion digitaler Technologien
Ulrich Walwei zeigte auf, dass die heutige Struktur der Leiharbeit und die Trends in der modernen Arbeitswelt teilweise auseinanderlaufen. Er nannte als Treiber von Strukturwandel und Arbeitswelt die Globalisierung, die Diffusion digitaler Technologien, Klima- und Umweltpolitik, Demografie und den Wertewandel.
Vor diesem Hintergrund formulierte Walwei drei Thesen zu den Herausforderungen und Handlungsfeldern für die Zeitarbeitsbranche:
- Erstens wird die Arbeitgeberattraktivität in einem engen und anspruchsvollen Arbeitsmarkt wichtiger. Reputation und Seriosität werden daher zum zentralen Gradmesser, wobei die Entwicklungsperspektiven von Beschäftigten im Zentrum stehen.
- Zweitens kann der heutige Marktanteil der Zeitarbeit dauerhaft wahrscheinlich nur durch Expansion in wachsenden Marktsegmenten gehalten werden. Wissens- und Dienstleistungstätigkeiten werden daher laut Walwei vermutlich weiter an Bedeutung gewinnen.
- Drittens kann die Zeitarbeit sich mit spezifischen Angeboten zur Überwindung von Fachkräfteengpässen am Markt positionieren. Dies gilt insbesondere in Berufen, in denen Tarifverträge nicht mit der Marktentwicklung Schritt halten, so Walwei. In europäischen Nachbarländern zeigten sich ähnliche Tendenzen, nannte er als Beispiel den Gesundheitssektor in Dänemark.
Unternehmen nutzen Zeitarbeit aus unterschiedlichen Gründen
Christian Baumann, Bundesvorsitzender des Interessensverbands Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e. V. und Gesellschafter der Firma pluss Personalmanagement, stellte Ergebnisse einer eigenen qualitativen Studie zu den Motiven der Nutzung von Zeitarbeit aus unternehmerischer Sicht vor. Danach erfüllt die Zeitarbeit für verschiedene Stakeholder unterschiedliche Funktionen. Dazu gehört aufgrund weltweiter Zulieferstrukturen und Kostendruck sowie wechselseitiger Abhängigkeiten zwischen Produzenten- und Konsumentenmärkten insbesondere das Bedürfnis nach personeller Flexibilität, um auf Nachfrage- und Angebotsschwankungen ökonomisch reagieren zu können.
Die Mehrheit der Betriebe nutzt neben der Zeitarbeit weitere interne Instrumente zur Flexibilisierung der Arbeitszeit, wobei laut den Ergebnissen der Studie die Auffassung überwiegt, dass diese Instrumente die Zeitarbeit nicht ersetzen können.
Aufgrund der von Ulrich Walwei beschriebenen Trends in der Arbeitswelt ergibt sich, dass die Mehrheit der in der Studie befragten Betriebe Zeitarbeit als Rekrutierungsinstrument nutzen. Unternehmen, die diese Funktion nennen, verfügen über Personalabteilungen, die eher nicht strategisch aufgestellt sind. Die Hälfte der Befragten wünscht sich zudem, dass die Integration und das Onboarding der Zeitarbeitnehmer besser funktioniert, um einen potenziellen Übergang in ein Stammarbeitsverhältnis sicherzustellen.
Mehrheitlich gehen die Befragten davon aus, dass Zeitarbeit in Zukunft nicht durch webbasierte Dienstleistungen ersetzt wird. Gleichwohl zeigen sie sich offen für die Nutzung entsprechender digitaler Plattformen, wenn zuvor eine persönliche Erstberatung durch den Personaldienstleister stattgefunden hat und ein grundsätzliches Vertrauensverhältnis besteht.
Die Bedeutung von Werkverträgen nimmt in bestimmten Bereichen zu
Dr. Birgit Apitzsch vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen befasste sich mit dem Verhältnis der Leiharbeit zu anderen Flexibilitätsstrategien wie Werkverträgen. Deren Bedeutung nehme in bestimmten Bereichen wie der Buchhaltung zu, so Apitzsch. Bei hochkomplexen Tätigkeiten komme es verstärkt zu Insourcing.
Im Gegensatz zu manch anderen Studien kommt die Soziologin in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass externe Erwerbstätige in der Medizin und Informationstechnologie angesichts des Fachkräftemangels mitnichten zur Randbelegschaft gehören.
Motive für den Wechsel in eine Solo-Selbstständigkeit, wie etwa bei Honorarärzten oder anderen hochqualifizierten Selbstständigen in wissensbasierten Tätigkeitsfeldern, sind der Wunsch nach einer freien Wahl der Aufgaben, eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Hinblick auf die Vergütung und Einfluss auf die Arbeitszeit. Apitzsch hob in diesem Zusammenhang neben IT-Dienstleistungen und Medizin auch die Filmwirtschaft besonders hervor.
Der Einsatz externer Selbstständiger werde von Festangestellten als Belastung und Entlastung zugleich gesehen. So finde einerseits durchaus Wissenstransfer statt. Andererseits sei die Vertrautheit von Externen mit organisationsspezifischen Standards gering.
Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 4. Juni dieses Jahres (Aktenzeichen B 12 R 11/18 R) sind Honorarärzte und Pflegekräfte wegen ihrer Weisungsgebundenheit und fehlenden eigenen Infrastruktur nicht als Selbstständige zu betrachten. Infolgedessen wird die Anzahl dieser Arbeitskräfte sinken, weil die Rentenversicherungsträger in diesen Fällen zukünftig von einer abhängigen Beschäftigung ausgehen.
Zeitarbeit unterstützt die betriebliche Reorganisation
Für Hugo Schmitt, Vizepräsident des Bundesarbeitgeberverbands der Personaldienstleister und Inhaber der Firma Schmitt GmbH in Erlangen, übernimmt die Zeitarbeit wesentliche Funktionen bei der betrieblichen Reorganisation. Schmitt kritisierte, dass im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz durch die Begrenzung der Höchstüberlassungsdauer alles über einen Kamm geschoren werde. Helfer und Experten müssten jedoch unterschiedlich behandelt werden. Christian Baumann hält es für entscheidend, dass Zeitarbeit durch die Rekrutierung von Experten Mehrwert für Unternehmen schaffen müsse.
Betriebsräte versuchen, den Anteil der Zeitarbeitskräfte auf der Betriebsebene zu begrenzen
Lutz Bellmann, Leiter des Forschungsbereichs „Betriebe und Beschäftigung“ am IAB und Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Arbeitsökonomie, an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), knüpfte in seinem Vortrag an die internationale Diskussion zum Zusammenhang von atypischer Beschäftigung und industriellen Beziehungen an.
Die von ihm präsentierten Ergebnisse einer Studie mit Daten des IAB-Betriebspanels zeigen, dass die Bindung von Betrieben an Branchentarifverträge die Wahrscheinlichkeit einer Beschäftigung von Zeitarbeitskräften auf der betrieblichen Ebene signifikant erhöht. Der Anteil der Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer an der Gesamtbelegschaft ist geringer, wenn es einen Betriebsrat gibt. Er steigt in diesem Fall aber, wenn es zu Umsatzschwankungen kommt.
Die Betriebsräte versuchen also, den Anteil der Zeitarbeitskräfte auf der Betriebsebene zu begrenzen, um die Stammbelegschaft vor Entlassungen zu schützen, Konflikte in der Belegschaft zu vermeiden sowie die Zufriedenheit und das Commitment der Leiharbeitnehmer mit dem Verleihbetrieb zu sichern. Stefanie Burandt von der Firma I. K. Hofmann Zeitarbeit in Nürnberg ergänzte, dass auf diese Weise Unruhe in der Belegschaft vermieden werden könne, wenn Arbeitsplätze in Gefahr gerieten.
Die Beziehungen der Sozialpartner in der Leiharbeit haben sich versachlicht
An der Podiumsdiskussion, die Prof. Dr. Werner Widuckel von der FAU moderierte, nahmen Valerie Holsboer, Vorstand Ressourcen der Bundesagentur für Arbeit, Ingrid Hofmann, Geschäftsführende Alleingesellschafterin der I. K. Hofmann GmbH, Johannes Jakob, Abteilungsleiter Arbeitsmarktpolitik beim Deutschen Gewerkschaftsbund, und Ulrich Walwei teil.
Valerie Holsboer hob hervor, dass durch Zeitarbeit Personen, die nicht so arbeitsmarktnah seien, wie zum Beispiel Geflüchtete, integriert werden sollen. Sie ergänzte damit die Beiträge von Christian Baumann, der die betrieblichen Determinanten der Zeitarbeit angesprochen hatte, und Birgit Apitzsch, die auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmermotive im Bereich der hochqualifizierten Selbstständigkeit eingegangen war. Aus Sicht von Valerie Holsboer übernimmt die Zeitarbeit auf diese Weise auch eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe.
Nach Ansicht von Ingrid Hofmann kann die Bedeutung der Novellierung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes für den Beschäftigungsrückgang in der Zeitarbeit nicht wegdiskutiert werden. In der letzten Pressekonferenz der Bundesagentur für Arbeit war berichtet worden, dass in allen Bereichen die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gestiegen sei – außer bei der Zeitarbeit sowie im Wirtschaftsbereich Finanzdienstleistungen und Versicherung. Dahinter verbergen sich bei der Zeitarbeit aber wie beschrieben sehr differenzierte Entwicklungen.
Werner Widuckel merkte an, dass sich die Beziehungen der Sozialpartner in der Leiharbeit versachlicht hätten. Johannes Jakob bestätigte, dass die Debatte deutlich unaufgeregter sei und Tarifverträge weiterentwickelt worden seien. Der seiner Ansicht nach zu große Lohnabstand zwischen Zeitarbeitskräften und Stammbelegschaft solle nochmals angegangen werden. Unter bestimmten Bedingungen sollten die Verleihbetriebe aber die Möglichkeit bekommen, Kurzarbeit für ihre Beschäftigten anzumelden.
Das Geschäftsmodell der Zeitarbeit sollte angesichts der Digitalisierung überdacht werden
Ulrich Walwei wies mit Blick auf seinen Einführungsvortrag darauf hin, dass die Zeitarbeitsbranche ihre Potenziale ausschöpfen müsse. In der ersten Stufe sei für die Integration von am Arbeitsmarkt benachteiligten Personen bereits sehr viel erreicht worden. In der zweiten Stufe sollten sich die Betriebe besser aufstellen, um als Arbeitgeber attraktiv zu bleiben. Es sei außerdem schwierig, so Walwei, Älteren, wenn sie ihren Arbeitsplatz in einem Entleihbetrieb verlören, Anschlussbeschäftigungen in einem anderen Entleihbetrieb anzubieten. Hier könne das Instrument des Transferkurzarbeitergeldes Zeit verschaffen.
Volker Homburg, Geschäftsführer von ZIP Zeitarbeit + Personalentwicklung GmbH Bremen, entgegnete in der Diskussion, dass die Zeitarbeitsunternehmen keine Schwierigkeiten hätten, erfahrene Arbeitskräfte wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Norbert Maul, Geschäftsführer der Start NRW GmbH, schlug vor, im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz zielgruppenspezifische Höchstüberlassungsdauern festzulegen, um die Erwerbstätigkeit bestimmter Personengruppen zu erhöhen.
Ingrid Hofmann regte an, das Geschäftsmodell der Zeitarbeit zu überdenken, um den Herausforderungen der Digitalisierung zu begegnen und deren Chancen zu nutzen. Für Valerie Holsboer liegt ein großes Problem darin, dass der Wandel der Arbeitswelt sehr schnell vorangeht. Weiterbildung zur Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit sei daher absolut notwendig. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssten begleitet werden, frühzeitig in ihre Weiterbildung zu investieren. Johannes Jakob sieht eine Herausforderung darin, neue Tätigkeiten zu finden, die den alten möglichst nahekommen. Er regte an, neue Ideen im Zusammenhang mit dem zu Beginn des Jahres in Kraft getretenen Qualifizierungschancengesetz zu entwickeln.
Fotos: Kurt Pogoda, IAB
Bellmann, Lutz (2019): Der Wandel der Arbeitswelt stellt die Zeitarbeitsbranche vor Herausforderungen, In: IAB-Forum 6. August 2019, https://www.iab-forum.de/der-wandel-der-arbeitswelt-stellt-die-zeitarbeitsbranche-vor-herausforderungen/, Abrufdatum: 5. November 2024
Autoren:
- Lutz Bellmann