24. Mai 2018 | Betriebliche Arbeitswelt
Die betriebliche Mitbestimmung verliert an Boden
Das deutsche System der Arbeitsbeziehungen wird durch die gesetzlichen Bestimmungen zur Tarifautonomie (zur Verbreitung von Tarifverträgen finden Sie hier im Magazin den Beitrag „Tarifbindung – der Abwärtstrend hält an“ von Susanne Kohaut) und zur betrieblichen Interessenvertretung durch Betriebsräte getragen. Auf betrieblicher Ebene regelt das Betriebsverfassungsgesetz die institutionalisierte Interessenvertretung der Beschäftigten.
Formal herrscht eine klare funktionale Trennung zwischen der Mitbestimmung auf sektoraler (tarifvertraglicher) und betrieblicher Ebene. Die Praxis jedoch ist geprägt von einem vielfältigen Ineinandergreifen beider Ebenen und wechselseitigen Abhängigkeiten. So obliegt den Betriebsräten die Umsetzung und Überwachung geltender Tarifverträge, die von Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern ausgehandelt werden.
Daten zur Verbreitung sowohl von Tarifverträgen als auch von Betriebsräten liefert das IAB-Betriebspanel. Dort werden seit 1993 für Westdeutschland und seit 1996 für Ostdeutschland jährlich Informationen zur Existenz eines Betriebsrats erhoben. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die rund 1,2 Millionen Betriebe der Privatwirtschaft (siehe Infokasten „Geltungsbereich der Betriebsverfassung“). Insgesamt sind in diesen Betrieben etwa 31 Millionen Personen beschäftigt.
40 Prozent der westdeutschen Beschäftigten sind noch in Betrieben mit Betriebsrat tätig
Die Daten des IAB-Betriebspanels zeigen deutlich: Die Verbreitung von Betriebsräten geht zurück. Der Anteil der Betriebe mit Betriebsrat (erfasst werden nur Betriebe mit mindestens fünf Beschäftigten, da nur diese zur Wahl eines Betriebsrats berechtigt sind) nimmt seit Anfang der 2000er-Jahre – nach bis dato uneinheitlichem Verlauf – deutlich ab. Betrug dieser Anteil im Jahr 2000, dem Jahr vor Einführung des Betriebsverfassungsgesetzes, im Westen wie im Osten noch 12 Prozent, so sank er bis 2017 – wenn auch mit gewissen Schwankungen – auf 9 Prozent (siehe Tabelle 6 in „Daten zur Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung„). Die insgesamt niedrigen Anteilswerte werden von der großen Zahl der Kleinbetriebe geprägt, in denen die Existenz eines Betriebsrats eher die Ausnahme ist (siehe unten).
Um sich ein aussagekräftiges Bild der (schwindenden) Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung machen zu können, muss der Blick auf den Anteil der Beschäftigten gerichtet werden, die in den Genuss der betrieblichen Mitbestimmung kommen. Auch dieser Anteil sank im Westen seit Mitte der 1990er Jahre von 51 auf heute 40 Prozent, im Osten von 43 auf 33 Prozent (siehe Abbildung).
Vor allem in kleinen und mittleren Betrieben hat die Verbreitung von Betriebsräten stark abgenommen
Bei der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 2001 ging es dem Gesetzgeber unter anderem darum, den Erosionsprozess der betrieblichen Mitbestimmung zu stoppen und durch eine Entbürokratisierung des Wahlrechts die Neugründung von Betriebsratsgremien gerade in Kleinbetrieben zu forcieren.
Diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt: Der Anteil der Beschäftigten in Betrieben mit 5 bis 50 Beschäftigten (untere zwei Reihen in Abbildung 1), die einen Betriebsrat haben, sank seit dem Jahr 2000 in Westdeutschland von 14 auf 9 Prozent, in Ostdeutschland von 14 auf 11 Prozent. Er ist also von einem ohnehin niedrigen Ausgangsniveau nochmals zurückgegangen. In der Gesamtschau spielt dies aber nur eine untergeordnete Rolle, da hiervon nur vergleichsweise wenig Beschäftigte betroffen sind.
Relativ in Ordnung scheint die Welt der betrieblichen Mitbestimmung nach wie vor in den Großbetrieben mit über 500 Beschäftigten zu sein. Dort beliefen sich die Anteilswerte über viele Jahre hinweg auf über 90 Prozent. Erst in den letzten Jahren ist der Anteil in Westdeutschland auf etwa 85 Prozent gesunken (siehe Abbildung 1, obere Reihen). Von einer flächendeckenden Erosion (zumindest in quantitativer Hinsicht) kann hier jedoch (noch) keine Rede sein.
Stärkere Aufmerksamkeit verdient die Entwicklung in Betrieben mit 51 bis 500 Beschäftigten (mittlere Reihen in Abbildung 1). Denn dort fielen die Anteilswerte zwischen 2000 und 2017 von 67 auf 53 Prozent im Westen und 63 auf 48 Prozent im Osten – und damit stärker als im Durchschnitt aller Beschäftigten.
Der in den Gesamtwerten zu beobachtende Rückgang von 11 Prozentpunkten in West- und 10 Prozentpunkten in Ostdeutschland ist also vor allem der Entwicklung in diesem Segment geschuldet, in dem ein Betriebsrat traditionell weder eine Selbstverständlichkeit noch die Ausnahme ist. Offensichtlich verliert gerade hier die betriebliche Mitbestimmung an Boden. Bemerkenswert ist auch, dass dieser Trend in beiden Landesteilen weitgehend parallel verläuft und insoweit keinerlei Konvergenz zwischen Ost und West erkennbar ist.
Ohne Berücksichtigung der Kleinbetriebe ergibt sich ein positiveres Bild
Die Zahlen für Betriebe ab 21 und ab 51 Beschäftigte (siehe Tabelle 1) erlauben es, sich ein Bild von der Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung ohne die große Masse der klein(er)en Betriebe zu machen. Vielfach wird argumentiert, dass der geringe Deckungsgrad im kleinbetrieblichen Segment nicht verwunderlich sei, da dort andere (direkte) Formen der Partizipation möglich sind. Die Wahl eines Betriebsrats oder Obmanns wäre hier nur erforderlich, wenn die dort typischerweise vorzufindenden unmittelbaren, nicht institutionalisierten (Austausch-)Beziehungen zwischen Beschäftigten und Geschäftsleitung nicht (mehr) funktionieren würden.
Ohne Berücksichtigung der Kleinbetriebe zeigt sich ein deutlich positiveres Bild der betrieblichen Mitbestimmung: 45 Prozent der Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten verfügen über einen Betriebsrat, wobei knapp zwei Drittel der Beschäftigten (63 %) in diesen Betrieben arbeiten. Allerdings sind im Betrachtungszeitraum auch hier deutliche Verluste im Deckungsgrad zu konstatieren. Seit der Jahrtausendwende ist der Anteil der Beschäftigten in Betrieben dieser Größe, deren Interessen durch einen Betriebsrat vertreten werden, um 13 Prozentpunkte gesunken.
Eine genauere Betrachtung für West- und Ostdeutschland zeigt zudem, dass die insgesamt nach wie vor vorhandenen deutlichen West-Ost-Unterschiede auf die geringere Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung in Betrieben mit 101 bis 500 Beschäftigten im Osten zurückzuführen sind (siehe Tabelle 7 in „Daten zur Tarifbindung und betrieblichen Interessenvertretung„).
Je nach Branche zeigen sich ausgeprägte Unterschiede
Starke Unterschiede zeigen sich auch von Branche zu Branche (siehe Tabelle 8 in „Daten zur Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung„). Die größte quantitative Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung besteht im traditionell stark mitbestimmten Bereich „Energie- und Wasserversorgung/Abfallwirtschaft/Bergbau“, bei den Finanz- und Versicherungsdienstleistungen, im Verarbeitenden Gewerbe und im Bereich „Gesundheitswesen/Erziehung und Unterricht“. Das untere Ende bilden die vorwiegend kleinbetrieblich strukturierten Branchen des „Sonstigen Dienstleitungsbereichs“ (inklusive Gastgewerbe) und der Bauwirtschaft.
Branchenspezifische Entwicklungen lassen sich leider wegen der im Jahr 2009 erfolgten Umstellung auf eine neue Wirtschaftszweigsystematik nur für einen relativ kurzen Zeitraum verfolgen. Klar identifizierbar sind für die vergangenen acht Jahre Rückgänge in den Bereichen „Finanz- und Versicherungsdienstleistungen“, „Verkehr/Lagerei“ und bei den „Sonstigen Dienstleistungen“. Dies gilt auch für den Bereich „Information und Kommunikation“ in Westdeutschland und den Bereich „Gesundheitswesen/Erziehung und Unterricht“ in Ostdeutschland.
Betriebliche und überbetriebliche Ebene greifen ineinander
Auf das enge Ineinandergreifen der beiden formal unabhängigen Institutionen des bundesdeutschen Systems industrieller Beziehungen – Tarifautonomie und betriebliche Mitbestimmung mit ihren wechselseitigen Abhängigkeiten und der daraus resultierenden Fähigkeit zur kooperativen Konfliktverarbeitung – wurde in der einschlägigen Literatur immer wieder hingewiesen. Das Verhältnis von tarifvertraglicher und betrieblicher Regulierung bleibt auch politisch virulent – nicht nur zu Wahlkampfzeiten.
Abschließend soll die Relevanz beider Ebenen der (gesetzlich legitimierten) Interessenvertretung in der Zusammenschau aufgezeigt werden. So gibt es Betriebe, die zwar tarifgebunden sind, aber über keinen Betriebsrat verfügen, sowie Betriebe, bei denen weder das eine noch das andere zutrifft.
Nur eine Minderheit der Beschäftigten in der Privatwirtschaft arbeitet in Betrieben mit Branchentarif und Betriebsrat
Nur eine Minderheit der in der Privatwirtschaft (ab fünf Beschäftigte) tätigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeitet in Betrieben, die zur Kernzone des dualen Systems der Interessenvertretung gehören – in Betrieben also, die sowohl einen Betriebsrat haben als auch einem Branchentarifvertrag angehören. Diese Zone umfasst nur knapp ein Viertel (24 %) der Beschäftigten in Westdeutschland und gerade noch ein Siebtel (14 %) in Ostdeutschland (siehe Tabelle 2).
Von einer betrieblichen Vertretungslücke – der Betrieb ist an einen Branchentarif gebunden, verfügt aber über keinen Betriebsrat – sind 20 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland, aber nur 14 Prozent in Ostdeutschland betroffen. Die besondere Problematik dieser Betriebe ist, dass dort keine Institution existiert, die für die Umsetzung von Regelungen zuständig ist, die durch Tarifverträge explizit auf die betriebliche Ebene delegiert wurden.
Die vermeintlich günstigere Situation in den neuen Bundesländern ist nur der geringeren Reichweite der Tarifbindung in Ostdeutschland geschuldet, die sich in deutlicher ausgeprägten „weißen Flecken der Tarif- und Mitbestimmungslandschaft“ äußert. Denn während in Westdeutschland 39 Prozent der Beschäftigten ohne Branchentarif und ohne Betriebsrat auskommen müssen, sind es in Ostdeutschland mit 51 Prozent über die Hälfte.
Lücken in der institutionalisierten Interessenvertretung sind im Osten deutlich größer als im Westen
Für Westdeutschland lässt sich feststellen: Die Kernzone des dualen Systems im Verarbeitenden Gewerbe umfasst gut vier von zehn Beschäftigten (41 %) und reicht damit weit über den Durchschnitt der Privatwirtschaft hinaus (siehe Tabelle 4). Insbesondere die Bauwirtschaft mit nur jedem neunten Arbeitnehmer und der Dienstleistungsbereich mit gut jedem fünften Arbeitnehmer fallen dagegen deutlich ab.
Im Baugewerbe haben vor allem die betrieblichen Vertretungslücken (51 %) einen beträchtlichen Umfang, was wohl in erster Linie den dort geltenden Allgemeinverbindlichkeitsregelungen geschuldet ist. Der Dienstleistungsbereich tut sich hingegen mit ausgedehnten „weißen Flecken“ (42 %) hervor, in denen weder Tarifverträge gelten noch ein Betriebsrat existiert. Im Verarbeitenden Gewerbe trifft dies dagegen nur auf 26 Prozent der Beschäftigten zu.
In Ostdeutschland fallen die Lücken in der institutionalisierten Interessenvertretung nochmals deutlich größer aus als im Westen. In den neuen Ländern unterscheidet sich das Verarbeitende Gewerbe weit weniger von der restlichen Privatwirtschaft, als das in den westlichen Bundesländern der Fall ist. Die Kernzone der Interessenvertretung im ostdeutschen Verarbeitenden Gewerbe ist mit 19 Prozent nur etwas größer als im Dienstleistungsbereich und fällt im Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe Westdeutschlands mit 41 Prozent stark ab. Im Dienstleistungsbereich hingegen ist der Abstand zwischen beiden Landesteilen relativ gering.
Fazit
Die betriebliche Mitbestimmung befindet sich seit geraumer Zeit auf dem Rückzug, wobei sich Phasen relativer Stabilität und weiteren Rückgangs abwechseln. Ein Ende dieser Entwicklung scheint derzeit nicht in Sicht. Zudem ist keinerlei Angleichung zwischen Ost- und Westdeutschland zu erkennen. In der Gesamtschau zeigt sich ein Bild der Erosion auf beiden Ebenen der institutionalisierten Interessenvertretung, der betrieblichen Mitbestimmung wie der Tarifbindung. Mithin arbeitet inzwischen nur noch ein kleiner Teil der Beschäftigten in Betrieben der Kernzone des deutschen dualen Systems.
Es stellt sich die Frage, inwieweit diese Entwicklung strukturellen Veränderungen der Betriebslandschaft geschuldet ist, insbesondere dem wachsenden Dienstleistungsbereich, und damit gleichsam ein Nebenprodukt des Strukturwandels ist. Entsprechende Untersuchungen für die betriebliche Mitbestimmung haben allerdings gezeigt, dass der beobachtbare Rückgang nur zu einem kleinen Teil durch solche Faktoren erklärbar ist.
Geltungsbereich der Betriebsverfassung
Die Betrachtung der Betriebe ab fünf Beschäftigte ergibt sich aufgrund der Gesetzeslage, die erst ab dieser Betriebsgröße die Wahl eines Betriebsrats zulässt. Damit sind immerhin rund 38 Prozent der privatwirtschaftlichen Betriebe im Westen und 43 Prozent im Osten per se ohne eine gesetzlich legitimierte Interessenvertretung. Allerdings stellt sich die Situation weniger dramatisch dar, wenn wir von der Betriebs- zur Beschäftigtenperspektive wechseln und die entsprechenden Anteilswerte betrachten. Da in der großen Anzahl Kleinstbetriebe nur ein relativ kleiner Teil der Gesamtbeschäftigten arbeitet, ergibt sich ein Anteil an Arbeitnehmern von 6 Prozent im Westen und 9 Prozent im Osten, die qua Gesetz ohne einen Betriebsrat bleiben.
Geltungsbereich der Betriebsverfassung
Die Betrachtung der Betriebe ab fünf Beschäftigte ergibt sich aufgrund der Gesetzeslage, die erst ab dieser Betriebsgröße die Wahl eines Betriebsrats zulässt. Damit sind immerhin rund 38 Prozent der privatwirtschaftlichen Betriebe im Westen und 43 Prozent im Osten per se ohne eine gesetzlich legitimierte Interessenvertretung. Allerdings stellt sich die Situation weniger dramatisch dar, wenn wir von der Betriebs- zur Beschäftigtenperspektive wechseln und die entsprechenden Anteilswerte betrachten. Da in der großen Anzahl Kleinstbetriebe nur ein relativ kleiner Teil der Gesamtbeschäftigten arbeitet, ergibt sich ein Anteil an Arbeitnehmern von 6 Prozent im Westen und 9 Prozent im Osten, die qua Gesetz ohne einen Betriebsrat bleiben.
Literatur
Bellmann, Lutz; Ellguth, Peter (2006): Verbreitung von Betriebsräten und ihr Einfluss auf die betriebliche Weiterbildung. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 226 (5), S. 487–504.
Ellguth, Peter; Kohaut, Susanne; Möller, Iris (2016): Das IAB-Betriebspanel: (Analyse-) Potenzial und Datenzugang. In: Liebig, S.; Matiaske, W.; Rosenbohm, S. (Hrsg.), Handbuch empirische Organisationsforschung, (Springer Reference Wirtschaft), Wiesbaden: Springer VS.
Kohaut, Susanne (2018): Tarifbindung – der Abwärtstrend hält an. IAB-Forum 24. Mai 2018.
Schmidt, Rudi; Trinczek, Rainer (1991): Duales System: Tarifliche und betriebliche Interessenvertretung. In: Müller-Jentsch, W. (Hrsg.): Konfliktpartnerschaft. Akteure und Institutionen der industriellen Beziehungen. München und Mering: S. 167–199.
Ellguth, Peter (2018): Die betriebliche Mitbestimmung verliert an Boden, In: IAB-Forum 24. Mai 2018, https://www.iab-forum.de/die-betriebliche-mitbestimmung-verliert-an-boden/, Abrufdatum: 21. November 2024
Autoren:
- Peter Ellguth