Die Digitalisierung könnte die nächste industrielle Revolution auslösen. Ihre Folgen: kaum absehbar. Gehen Arbeitsplätze verloren? Steigt die Produktivität? Was wird aus den Sozialsystemen? Bei einer gemeinsamen Veranstaltung des IAB mit dem Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg und der Akademie für Politische Bildung Tutzing diskutierten Sozialwissenschaftler und Vertreter aus Wirtschaft und Politik über diese Fragen.

Selbstfahrende Autos, menschenleere Fabriken, vollautomatisierte Logistik: Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt grundlegend. Dr. Jürgen Helmes, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Regensburg für Oberpfalz/Kelheim, sprach auf der Tagung „Arbeitsmarkt und Sozialsysteme im digitalen Wandel“, die am 5. und 6. April dieses Jahres an der Akademie für Politische Bildung Tutzing stattfand, sogar „von der Schicksalsfrage für den Wirtschaftsstandort Deutschland“. Die Veranstaltung hatte die Akademie in Zusammenarbeit mit dem IAB und dem Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg organisiert.

Prof. Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen von der Technischen Universität Dortmund.

Prof. Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen forscht und lehrt an der  Technischen Universität Dortmund.

Einen disruptiven Wandel erwartet Prof. Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen von der Technischen Universität Dortmund jedoch nicht. „Vor allem der Mittelstand ist neuen Technologien gegenüber oft skeptisch, will unkalkulierbare Risiken verhindern und langlebige Investitionsgüter nicht vorzeitig austauschen“, erklärte er. Die sogenannte Industrie 4.0, die Vernetzung von Produktionsanlagen und modernster Informations- und Kommunikationstechnologie, beginnt deshalb mit dem Einbau digitaler Technologien in bereits bestehende Strukturen.

Nicht weniger, aber andere Arbeitsplätze

Viele unserer heutigen Berufe werden aber nach und nach verschwinden – und damit auch Arbeitsplätze. An einen Beschäftigungseinbruch glaubt IAB-Forscher Prof. Dr. Enzo Weber dennoch nicht.

IAB-Forscher Prof. Dr. Enzo Weber.

Prof. Dr. Enzo Weber leitet den Forschungsbereich „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ am IAB.

„Die Bilanz ist natürlich negativ, wenn man nur die eine Seite betrachtet. Aber man darf nicht übersehen, was auf der anderen Seite entsteht: neue Produkte und Dienstleistungen, höhere Anforderungen an den Datenschutz und Möglichkeiten, individuellere Kundenwünsche zu erfüllen. Das alles schafft Arbeitsplätze“, sagte der Wirtschaftswissenschaftler.

Prof. Dr. Holger Bonin ist Forschungsdirektor am IZA Institute of Labor Economics in Bonn.

Prof. Dr. Holger Bonin ist Forschungsdirektor am IZA Institute of Labor Economics in Bonn.

Allerdings entstehen neue Jobs nicht unbedingt auf der gleichen Qualifikationsstufe, auf der die Digitalisierung Arbeitsplätze vernichtet. Prof. Dr. Holger Bonin, Forschungsdirektor am IZA Institute of Labor Economics in Bonn,  sprach von einem „qualifikatorischen Mismatch“. Vor allem unter Facharbeitern könnte die Arbeitslosigkeit steigen – außer sie bilden sich rechtzeitig weiter.

Was wird aus dem Sozialstaat?

Steigende Arbeitslosigkeit, aber auch das Verschwimmen von Länder- und Betriebsgrenzen in der digitalen Welt haben Einfluss auf den Sozialstaat, da seine Finanzierungsgrundlage wegbricht oder nicht mehr nachvollziehbar ist. Laut Prof. Dr. Hans J. Pongratz von der Ludwig-Maximilians-Universität München leben zwar noch kaum Deutsche von Crowdworking auf Online-Plattformen wie Upwork oder Clickworker, ihre Zahl könnte in den kommenden Jahren aber steigen. „So könnte aus prekärer Beschäftigung prekäre Selbstständigkeit werden – und zwar ohne soziale Absicherung.“

Prof. Dr. Hans J. Pongratz von der Ludwig-Maximilians-Universität München

Prof. Dr. Hans J. Pongratz wirkt an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Dennoch birgt die Digitalisierung auch Chancen für den Sozialstaat: eine Verlängerung des Erwerbslebens durch geringere Gesundheitsrisiken und neue Jobs für Menschen mit Behinderung, die nicht mehr zwangsläufig mobil sein müssen.

Prof. Dr. Martina Heßler ist an der Helmut-Schmidt-Universität in Hambrug tätig.

Prof. Dr. Martina Heßler ist an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg tätig.

Und auch Prof. Dr. Martina Heßler von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg sieht in der aktuellen industriellen Revolution einen Vorteil gegenüber früheren Umbrüchen: Es gibt bereits ein soziales Sicherungssystem und dieses lasse sich gestalten. Markus Müller vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales betont, das Ministerium arbeite daran, die Gesetzgebung auf die Arbeitsformen der Zukunft anzupassen.

Smart Cities als Zukunft von Wohnen, Arbeiten und Verwalten

Wie Wohnviertel, Arbeitsplätze und Stadtverwaltung einmal aussehen könnten, stellten Dr. Peter Jakubowski vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt-und Raumforschung in Bonn und Steffen Braun vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart unter der Überschrift „Smart Cities“ vor.

Leiteten die Tagung in Tutzing (von links): Prof. Dr. Jürgen Jerger von der Universität Regensburg, Dr. Wolfgang Quaisser von der Akademie für Politische Bildung und Prof. Dr. Ulrich Walwei, kommissarischer Leiter und Vizedirektor des IAB.

Leiteten die Tagung in Tutzing (von links): Prof. Dr. Jürgen Jerger von der Universität Regensburg, Dr. Wolfgang Quaisser von der Akademie für Politische Bildung und Prof. Dr. Ulrich Walwei, kommissarischer Direktor des IAB.

Alle Fotos: APB Tutzing

Weitere Informationen

Broschüre „Online-Arbeit auf Internet-Plattformen“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung)

Projekt Smarter Together in München-Neuaubing

Projekt digital@bw: Digialisierungsstrategie für Baden-Württemberg.

Lennhoff, Johanna ; Winterer, Beate (2019): Die nächste industrielle Revolution: Chancen und Risiken der Digitalisierung für Arbeitsmarkt und Sozialsysteme, In: IAB-Forum 28. Juni 2019, https://www.iab-forum.de/die-naechste-industrielle-revolution-chancen-und-risiken-der-digitalisierung-fuer-arbeitsmarkt-und-sozialsysteme/, Abrufdatum: 17. November 2024