11. April 2023 | Interviews
ELMI: „Oft entstehen aus dem Austausch noch ganz andere Ideen und Projekte, an die man vorher gar nicht gedacht hat“
Was hat Sie veranlasst, ein europäisches Netzwerk der Arbeitsmarktforschungsinstitute zu gründen?
Christina Gathmann: Seit ich im Herbst 2020 die Arbeitsmarktabteilung am LISER (Luxembourg Institute of Socio-Economic Research) übernommen habe, war es mir ein großes Anliegen, den internationalen Austausch mit hochrangigen Forschenden zu stärken und so die Forschungsqualität in unserem Team und den internationalen Austausch zu politikrelevanten Themen zu verbessern. LISER ist das einzige sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut in Luxemburg und war kaum am internationalen Diskurs beteiligt. Das hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert. Viele meiner Ideen wurden anfangs durch Corona beeinträchtigt und verschleppt. Daher konnten wir ELMI erst im Herbst 2022 aus der Taufe heben.
Bernd Fitzenberger: Das IAB kooperiert seit langem erfolgreich mit zahlreichen internationalen Partnern. LISER und IAB organisieren seit einigen Jahren eine gemeinsame Forschungstagung. Die Gründung von ELMI erlaubt es, den internationalen Austausch weiter zu systematisieren und zu vertiefen. ELMI ist für mich der logische nächste Schritt, die internationalen Kooperationen des IAB auf europäischer Ebene fortzuentwickeln.
Alle beteiligten Institute profitieren davon, Forschungsergebnisse, Daten und Erkenntnisse für die Politikberatung auszutauschen.
Welche Ziele verfolgt ELMI auf europäischer Ebene und darüber hinaus?
Fitzenberger: Das IAB hat den gesetzlichen Auftrag, den deutschen Arbeitsmarkt einschließlich seiner beruflichen Dimensionen und seiner sozialen Sicherungssysteme zu erforschen und diejenigen, die politisch entscheiden, auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zu beraten. Der deutsche Arbeitsmarkt kann aber nicht isoliert betrachtet werden, weil er in den europäischen Binnenmarkt integriert ist. Die Migration zwischen den Staaten und das Thema Grenzgängerinnen und Grenzgänger spielen eine wichtige Rolle, auch und gerade für Deutschland in seiner zentralen geografischen Lage umgeben von neun Nachbarstaaten. Mit europäischen Kolleginnen und Kollegen arbeiten wir daher schon seit langer Zeit in vielen Fragen der Arbeitsmarktforschung zusammen. Diese Kontakte wollen wir mit dem neuen Netzwerk intensivieren und strukturieren. Alle beteiligten Institute profitieren davon, Forschungsergebnisse, Daten und Erkenntnisse für die Politikberatung auszutauschen und gemeinsame Forschungsprojekte und Publikationen auf den Weg zu bringen.
Welchen Mehrwert versprechen Sie sich von einer Kooperation im Rahmen von ELMI?
Gathmann: Ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit im Netzwerk. Ich habe ein paar konkrete Erwartungen, etwa in Hinblick auf den Austausch innerhalb des wissenschaftlichen Nachwuchses, einen besseren Zugang zu Daten unter den Netzwerkmitgliedern und den Austausch über politikrelevante Themen und Praktiken. Aber ich bin auch einfach gespannt, welche Dynamik sich entwickeln wird. Oft entstehen ja aus dem Austausch noch ganz andere Ideen und Projekte, an die man vorher gar nicht gedacht hat. Das Auftakttreffen im Herbst am IAB war da schon sehr vielversprechend!
Fitzenberger: Wir können viel von den Partnerinstituten lernen, zum Beispiel wie sich die aktuellen Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt und die staatlichen Antworten darauf erforschen lassen. Wir wollen wissen, ob der Fachkräftebedarf in den europäischen Ländern strukturell vergleichbar ist und ob es neue Ideen bei der Fachkräftesicherung gibt, die für die Politikberatung relevant sein können. Der regelmäßige Austausch im Netzwerk wird dieses gegenseitige Lernen deutlich leichter machen als ein punktueller und eher zufälliger Austausch zwischen einzelnen Forschenden. Aus dem Netzwerk können gemeinsame Verbundprojekte entstehen mit einem Mehrwert für die europäische Forschung insgesamt. Auch können sie neue Perspektiven in die noch meist national ausgerichtete Politikberatung der einzelnen Institute einbringen.
Welchen Beitrag leistet LISER zum Aufbau des Netzwerks?
Gathmann: Ich koordiniere das Netzwerk zusammen mit Bernd Fitzenberger, um ihm zu einem guten Start zu verhelfen. LISER hat die Webseite aufgebaut, über die wir das Netzwerk bekannt machen und Informationen unter den Mitgliedern austauschen können. 2023 organisieren wir die erste ELMI-Konferenz in Luxemburg, die am 30. und 31. Oktober 2023 zum Thema “Skills for the Future: Navigating the Digital, Green, and Social Transitions in Europe’s Labour Market” stattfinden wird. Mein besonderer Dank gilt meinem Mitarbeiter Patrick Thill, der mich bei der Organisation dieser Konferenz tatkräftig unterstützt und auf der Arbeitsebene Ansprechpartner am LISER in allen ELMI-Angelegenheiten ist. Weitere Initiativen werden wir im Laufe des Jahres und auf der Konferenz in Luxemburg besprechen.
Gemeinsame Verbundprojekte können auch neue Perspektiven in die noch meist national ausgerichtete Politikberatung der einzelnen Institute einbringen.
Welchen Beitrag leistet das IAB zum Aufbau des Netzwerks?
Fitzenberger: Das IAB und LISER haben ELMI gemeinsam initiiert und die weiteren neun Mitglieder zur Gründungsveranstaltung im Oktober 2022 nach Nürnberg eingeladen. Dort haben wir Ideen für neue Austauschformate entwickelt. So lud das IAB am 16. Februar 2023 zum ersten virtuellen ELMI Policy Round Table mit dem Titel „Labour Market Shortages and Current Policy Responses“ ein. Geplant ist, dass in regelmäßigen Abständen jeweils eins der bisher elf ELMI-Institute ähnliche Veranstaltungen zu diversen Themen der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung organisiert. Im Oktober 2024 planen wir eine ELMI-Konferenz in Brüssel, bei der wir gezielt europäische Institutionen ansprechen wollen, zum Beispiel die Generaldirektion „Arbeit und Soziales“. Im IAB kümmert sich dankenswerterweise Holk Stobbe mit hohem Engagement um die Betreuung von ELMI.
Was zeichnet die Gründungsmitglieder aus?
Gathmann: In der Runde der Gründungsmitglieder haben alle einen ähnlichen forschungsorientierten Ansatz in der Politikberatung, aber natürlich darüber hinaus ihre eigenen thematischen und disziplinären Schwerpunkte. Dies erschien uns am Anfang wichtig, um leichter gemeinsame Interessen ansprechen zu können. Das Echo war so positiv, dass wir uns über mangelnde gemeinsame Interessen keine Sorgen machen müssen.
Welche Disziplinen und methodischen Ausrichtungen sind im Netzwerk vertreten?
Fitzenberger: Im Netzwerk sind natürlich die IAB-Disziplinen vertreten, das heißt es gibt einen Schwerpunkt auf Ökonomie und Soziologie. Aber auch andere sozialwissenschaftliche Disziplinen sowie Mathematik und Statistik sind vertreten. Für die Auswahl der ELMI-Institute ist die disziplinäre und methodische Ausrichtung jedoch nur in zweiter Linie wichtig. Entscheidender ist, dass alle Institute hochkarätige, politikrelevante Forschung betreiben, ihre Forschungsergebnisse regelmäßig in internationalen Journalen veröffentlichen sowie Politik und Gesellschaft zum Arbeitsmarkt und zu unmittelbar damit verbundenen Fragen der sozialen Sicherung beraten.
Es erscheint uns wichtig, in Brüssel näher an die Pläne und Projekte der Europäischen Union und der Europäischen Kommission heranzurücken.
Welche Aktivitäten planen Sie, um das Netzwerk mit Leben zu füllen?
Gathmann: Wir planen eine jährliche ELMI-Konferenz. Die erste wird wie oben angesprochen in Luxemburg stattfinden. Darüber hinaus denken wir über ein European Training Network (ETN) nach, in dessen Rahmen wir gemeinsam Promovierende zu einem zentralen Arbeitsmarktthema ausbilden könnten. Und es erscheint uns auch wichtig, in Brüssel näher an die Pläne und Projekte der Europäischen Union und der Europäischen Kommission heranzurücken, um gemeinsame europäische Forschungsprojekte zu entwickeln und erfolgreich Drittmittel einzuwerben.
Jedes Land arbeitet mit seinen eigenen Daten. Welche Bedeutung könnte ELMI für einen europäischen Datenaustausch haben?
Gathmann: Der Zugang zu Daten und insbesondere die Verbesserung der Dateninfrastruktur auf europäischer Ebene könnte eine wichtige Initiative für ELMI werden. Wir arbeiten ja zumeist mit Daten aus einem Land, während viele EU-geförderte Projekte mit den leider recht aggregierten Daten für alle EU-Länder arbeiten müssen. Es gibt aus anderen Bereichen, etwa der Gesundheit, schon Initiativen, eine europäische Dateninfrastruktur aufzubauen und Hindernisse bei der Verknüpfung von Daten abzubauen – Vorreiter sind etwa der European Health Data Space. Hier müssen wir vonseiten der Arbeitsmarktforschung investieren. Das ELMI-Netzwerk könnte da eine wichtige Rolle spielen.
ELMI ist eine tolle Chance für das IAB und seine Beschäftigten, sich international zu vernetzen, gemeinsame Forschungsprojekte auf den Weg zu bringen und sich zu wichtigen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Themen auszutauschen.
Was begeistert Sie an ELMI?
Fitzenberger: ELMI ist eine tolle Chance für das IAB und seine Beschäftigten, sich international zu vernetzen, gemeinsame Forschungsprojekte auf den Weg zu bringen und sich zu wichtigen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Themen auszutauschen. Wir hoffen, dass wir nach einer ersten Konsolidierungsphase neue Mitglieder aus weiteren Ländern ins Netzwerk einbinden können. Wir streben einen Austausch mit supranationalen Einrichtungen wie der EU-Kommission, dem EU-Parlament, der OECD oder der ILO an, aber auch mit politisch Handelnden in europäischen Grenzregionen auf beiden Seiten der Grenzen. Wir wollen nicht nur mehr Daten und mehr Forschung für nationale Institutionen bereitstellen, sondern auch forschungsbasierte Impulse für politische und gesellschaftliche Entscheidungen auf internationaler Ebene geben.
Weiterführende Informationen:
Mehr Informationen über das Netzwerk und geplante Veranstaltungen finden Sie auf der ELMI-Homepage und im Event-Kalender.
Die Gründungsmitglieder des „European Network of Labour Market Research Instituts“ (ELMI):
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20230411.01
Winters, Jutta (2023): ELMI: „Oft entstehen aus dem Austausch noch ganz andere Ideen und Projekte, an die man vorher gar nicht gedacht hat“, In: IAB-Forum 11. April 2023, https://www.iab-forum.de/elmi-oft-entstehen-aus-dem-austausch-noch-ganz-andere-ideen-und-projekte-an-die-man-vorher-gar-nicht-gedacht-hat/, Abrufdatum: 21. November 2024
Autoren:
- Jutta Winters