15. November 2018 | Serie „Leben und Arbeiten in der Zukunft“
„Forschung und Unternehmen drängen nach räumlicher Nähe“. Ein Gespräch mit Erlangens Oberbürgermeister Florian Janik.
Dass ökonomischer Erfolg gleichermaßen Fluch und Segen sein kann, zeigt sich am Beispiel der mittelfränkischen Universitätsstadt Erlangen. Denn ein boomender Arbeitsmarkt hat auch seine Schattenseiten: Die Verkehrsbelastung wächst, es fehlt an bezahlbarem Wohnraum und Fachkräfte werden zusehends knapp. Wie Erlangen mit diesen Herausforderungen umgeht, erläutert Oberbürgermeister Dr. Florian Janik im Interview. Bis zu seinem Amtsantritt im Mai 2014 war Janik wissenschaftlicher Mitarbeiter am IAB.
Das Rathaus der Hugenottenstadt, ein klobiger Betonbau, steht in schroffem Gegensatz zum dynamischen Auftreten von Florian Janik. Selbst die Miniaturplastik in der Glasvitrine, die den 38-jährigen Sozialdemokraten neben seinen Vorgängern Siegfried Balleis und Dietmar Hahlweg zeigt, scheint von Janiks Tatendrang zu künden. Im Büro des Stadtoberhaupts von Erlangen setzt ein rot lackierter Gartenzwerg mit despektierlicher Handhaltung einen optischen Kontrapunkt zum schwarzgetäfelten Interieur. Ob dies rote Widerständigkeit im schwarz regierten Bayern symbolisieren soll, bleibt indes der Phantasie des Besuchers überlassen.
Die Digitalisierung wird den Arbeitsmarkt umkrempeln. Viele Jobs werden wegfallen, viele entstehen neu – aber nicht zwingend in der gleichen Region. Wird Erlangen eher zu den Gewinnern oder zu den Verlierern gehören?
Janik: Erlangen ist ökonomisch geprägt durch Siemens, die Universität und viele kleine und mittlere Unternehmen. Die drei Säulen der Erlanger Wirtschaft stehen in engem Austausch. Alle Bereiche investieren in die Zukunft und berücksichtigen dabei auch sehr stark die Digitalisierung. Insofern hat Erlangen gute Ausgangsvoraussetzungen.
Wie können die Kommunen den digitalen Wandel der Arbeitswelt politisch begleiten?
Zum einen ist die Kommune ja selbst Anbieter von Dienstleistungen. Die Stadt Erlangen hat hier schon viel gemacht. Allerdings fehlt noch ein großer Schritt, den die Stadt Erlangen allerdings nicht im Alleingang vollziehen kann. Denn die Bürgerinnen und Bürger müssen rechtssicher mit öffentlichen Behörden kommunizieren können. Das ist technisch kein Wunderwerk, aber es braucht dazu eine bundesweit einheitliche Lösung. Die Umsetzung dürfte erfahrungsgemäß dauern. Erst dann könnten wir noch eine ganze Reihe an weiteren Dienstleistungen digitalisieren.
Zum anderen geht es um die Infrastruktur. Der wesentliche Punkt ist schnelles Internet. Auch hier ist die Stadt Erlangen bereits sehr weit. Unsere Stadtwerke verlegen Glasfaserkabel. Das ist betriebswirtschaftlich noch nicht oder nur in Ausnahmefällen rentabel, aber gleichwohl eine volkswirtschaftlich sinnvolle Investition.
Drittens geht es um die Möglichkeit, vernetzte Informationen für Bürger und Unternehmen anzubieten. Da haben wir noch einen weiten Weg zu gehen, aber darin steckt auch sehr viel Potenzial, beispielsweise im Bereich vernetzter Mobilität.
Wie wirkt sich die Digitalisierung auf die städtische Personalpolitik aus?
Hierfür gibt es ebenfalls verschiedene Strategien. Eine von ihnen betrifft die IT-Infrastruktur, die wir benötigen. Wir haben gemeinsam mit den Städten Fürth und Schwabach ein IT-Unternehmen gegründet (KommunalBIT), das sich um die Hardwareversorgung unserer Kommunen kümmert, etwa mit Computern und Telefonen. Die gehören nicht mehr der Stadt, sondern die Stadt least dieses Equipment von ihrem eigenen Unternehmen.
Warum machen Sie das?
Wir sind zu klein, um das selbst wirtschaftlich betreiben zu können. Zugleich wollen wir das nicht privatisieren, um diese kritische Infrastruktur in der eigenen Hand zu behalten.
„Der Schlüssel, um qualifiziertes Personal für den öffentlichen Dienst zu gewinnen, sind gute Arbeitsbedingungen.“
Ist es schwierig, die dafür qualifizierten Leute zu bekommen?
Das ist insgesamt im öffentlichen Dienst schwierig. Denn wenn man nur die Bezahlung in den Blick nimmt, können wir nicht mithalten. Ein Schlüssel sind deshalb gute Arbeitsbedingungen. Und da kommt wieder die IT mit ins Spiel. Wir setzen dort, wo es möglich ist, sehr stark auf Formen mobilen Arbeitens. Wir wollen privaten Unternehmen nicht nachstehen.
Die Arbeitslosenquote in Erlangen liegt heute bei 3,7 Prozent, Tendenz weiter fallend. Das ist nahe an dem, was unter Ökonomen als Vollbeschäftigung gilt. Ist Arbeitslosigkeit bald ein Problem, das unsere Kinder und Enkel nur noch aus den Geschichtsbüchern kennen werden?
Zunächst einmal ist es schön, dass es so ist. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, wo die Arbeitslosigkeit sehr viel höher war – auch hier in Erlangen. Trotzdem muss man differenziert hinschauen. Es gibt einen relativ stabilen Anteil an Langzeitarbeitslosen, deren Beschäftigungschancen derzeit nicht steigen. Um die müssen wir uns stärker kümmern. Deshalb bin ich sehr froh, dass uns die Bundesregierung mit dem neuen Teilhabegesetz die Möglichkeit gibt, diesen Personen längerfristige Perspektiven in geförderter Beschäftigung zu eröffnen. Die Stadt Erlangen ist schon vorangegangen und hat selbst kürzlich ein entsprechendes Programm aufgesetzt – mit ersten guten Erfahrungen.
Worum geht es bei diesem Programm?
Es geht in der Fahrradstadt Erlangen ums Fahrradfahren. Wir ermöglichen Langzeitarbeitslosen, unter städtischem Dach in einer Fahrradwerkstatt zu lernen, wie man Fahrräder repariert. Fahrradmechaniker ist auch in Erlangen ein Mangelberuf. Es ist ein Projekt, das Qualifikationen vermittelt und perspektivisch vielleicht auch wieder den Weg in reguläre Beschäftigung ebnet.
Was sagen die Fahrradhändler in Erlangen dazu?
Das Programm ist aus deren Sicht kein Problem. Wie gesagt: Fahrradmechaniker ist hier ein Mangelberuf. Auf einen Werkstatttermin muss man in Erlangen genauso lange warten wie auf einen Termin beim Facharzt. Das Projekt ist auch mit der Industrie- und Handelskammer abgestimmt. Es wirkt sich also in keiner Weise negativ auf den regionalen Arbeitsmarkt aus.
Seit Jahren blutet der ländliche Raum immer mehr aus, umgekehrt ziehen immer mehr Menschen in städtische Boom-Regionen wie München oder auch Erlangen – in der Folge drohen dort Verkehrsüberlastung und Mietpreisexplosion. Rechnen Sie damit, dass diese Entwicklung sich auch in Zukunft fortsetzen wird? Und kann die Digitalisierung helfen, diesen Trend umzukehren oder abzumildern?
Ich sehe im Augenblick nicht, dass die Spitze dieser Entwicklung bereits erreicht ist. Die Vorstellung, dass dieser Prozess durch die Digitalisierung umgekehrt wird, weil dann mehr Menschen von zu Hause aus arbeiten, greift zu kurz. Denn in einer Welt, in der die Probleme komplexer werden – das sieht man gerade in einer Wissenschaftsstadt wie Erlangen – drängen Forschung und Unternehmen nach Nähe, also danach, dass die Menschen, die diese komplexen Probleme lösen sollen, sich wirklich physisch treffen können, und sich auch zufällig treffen können.
„Agglomerationsvorteile werden durch die Digitalisierung nicht obsolet.“
Können Sie ein Beispiel nennen?
Wir siedeln in Erlangen gerade ein neues Zentrum für Physik und Medizin an (Anmerkung der Redaktion: Ein Informationsvideo finden Sie auf YouTube). Es gibt weltweit mehrere dieser Zentren und es gibt Statistiken über deren wissenschaftlichen Output, die tatsächlich belegen: Je größer deren räumliche Nähe zu Kliniken ist, desto erfolgreicher sind sie. Da geht es am Schluss darum, dass sich Wissenschaftler und Ärzte mittags treffen können, und eben auch zufällig treffen können. Dann funktioniert es. Deswegen glaube ich nicht, dass solche Agglomerationsvorteile durch die Digitalisierung obsolet werden. Deswegen investieren in Erlangen beispielsweise Siemens und die Universität in verdichtete Arbeitsstrukturen – am liebsten an einem Ort. In einer wissenschaftsnahen Ökonomie ist diese räumliche Nähe erforderlich.
Sollte die Politik hier überhaupt gegensteuern?
Zunächst einmal gilt: Städte wie Erlangen stehen vor großen Herausforderungen. Bezahlbarer Wohnraum muss geschaffen und Verkehrsströme müssen gelenkt werden. Wir müssen uns darum bemühen, Lebensqualität zu erhalten und auszubauen und neue Räume für Miteinander schaffen. Aber natürlich profitieren wir auch sehr davon, dass gut ausgebildete Menschen zu uns kommen und unsere Stadtgesellschaft bereichern. Wenn man das Land als Ganzes sieht, muss man auch die ländlichen Räume im Blick behalten. Doch gegenzusteuern ist extrem schwierig. Denn um gegenzusteuern, müsste man in anderen Gegenden eine Agglomeration schaffen, die eine gewisse Größe hat, damit es attraktiv ist, sich dort anzusiedeln. Es genügt eben nicht, dort einen Leuchtturm oder ein Werk zu errichten und dann darauf zu vertrauen, dass sich quasi von selbst neue Strukturen entwickeln. Sondern man müsste wirtschaftliche Räume schaffen, in denen solche Kreativprozesse möglich sind – und das ist eine verdammt große Herausforderung, denn das setzt ganz häufig das Vorhandensein von wissenschaftlichen Strukturen voraus.
Was kann die Politik also tun?
Die Agglomeration fußt ja auf Bedürfnissen, die tatsächlich vorhanden sind. Innovative Prozesse funktionieren eben in Agglomerationsräumen. Vielleicht ist das auch ganz normal. Denn wir sehen: Die Welt wird komplexer, es wird immer schwieriger für einzelne Menschen und einzelne Unternehmen, die ganze Bandbreite der Herausforderungen abzudecken. Es braucht Kooperation, Austausch, räumliche Nähe. Die Mensch-zu-Mensch-Kommunikation lässt sich nicht vollständig digitalisieren.
Politisch kann und muss man versuchen, die negativen Folgen dieser Agglomerationsprozesse abzufedern: eine gute, vernetzte Verkehrsinfrastruktur schaffen und für bezahlbaren Wohnraum innerhalb und außerhalb der Zentren sorgen. Daran arbeitet auch die Stadt Erlangen.
„Erlangen ist eine stark segregierte Stadt. Da müssen wir dringend gegensteuern.“
Ausländische Arbeitsmigranten und Geflüchtete streben ja ebenfalls überproportional stark in die Städte. Führt das zu einer stärkeren sozialen Entmischung der Stadtteile?
Erlangen ist in vielerlei Hinsicht besonders. Wir haben derzeit ungefähr 110.000 Einwohner. Und Erlangen tauscht jedes Jahr ungefähr 10.000 Menschen aus, es kommen also etwa 10.000 Menschen pro Jahr hinzu und 10.000 ziehen wieder weg. Das ist im Vergleich sehr viel. Wir sind zugleich eine sehr internationale Stadt mit Menschen aus über 140 Nationen. Der Grund sind die Universität und die großen Unternehmen, die viele Arbeitskräfte anziehen, welche aber häufig nur vorübergehend bleiben. Wir haben also sehr viel Dynamik in der Stadt – das war schon ohne Flüchtlinge so. Natürlich ist dadurch der Druck auf den Wohnungsmarkt extrem hoch. Denn angesichts der Dynamik kommt es sehr häufig zu Neuvermietungen, und die Eigentümer passen sich dadurch schneller an den aktuellen Mietmarkt an als in anderen Städten. Erlangen gehört zu den teuersten Städten Deutschlands.
Und was tut Erlangen, um dem entgegenzuwirken?
Die Herausforderung ist, für breite Teile der Bevölkerung Wohnraum zu schaffen, der finanzierbar ist und der möglichst nicht konzentriert in dem Sinne ist, dass in einem Stadtteil nur ärmere, im anderen Stadtteil nur wohlhabende Menschen wohnen. Überall dort, wo wir neues Baurecht schaffen, egal ob bei neuen Baugebieten oder im Bestand, setzen wir daher eine entsprechende Durchmischung durch, indem wir Quoten von gefördertem Wohnraum festlegen. Trotzdem wissen wir, dass Erlangen Studien zufolge eine sehr stark segregierte Stadt ist. Da müssen wir dringend gegensteuern.
„Wir haben in Erlangen wieder mehr Geburten als Todesfälle.“
Die Bevölkerung wird in den kommenden Jahrzehnten stark altern. Was bedeutet das für eine Stadt wie Erlangen?
Interessanterweise haben wir in Erlangen einen neuen und überaus positiven demografischen Trend: Wir haben nämlich wieder mehr Geburten als Todesfälle in unserer Stadt. Es gibt also wieder Bevölkerungswachstum durch Geburten. Die demografische Herausforderung in Erlangen besteht deshalb darin, mehr Infrastruktur für ältere Menschen und zugleich noch mehr Kitaplätze zu schaffen. Wir dachten noch vor drei Jahren, dass wir den Ausbau der Kindertagesstätten abschließen können und brauchen jetzt doch nochmal 800 neue Kitaplätze. Das ist eine riesige, aber zugleich eine tolle Herausforderung. Denn sie zeigt: Das politische Umsteuern in der Familienpolitik – etwa mit dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz oder dem Elterngeld – hat gewirkt. Die Menschen bekommen wieder mehr Kinder.
Findet die Stadt Erlangen auch das Personal dafür?
Das ist nicht immer einfach. Wir gehen auch da neue Wege, indem wir Menschen gezielt umschulen und die Ausbildungszeit für Erzieherinnen und Erzieher verkürzen, um mehr Personal zu bekommen. Noch gelingt es, aber es wird zunehmend schwierig.
Wenn Sie einen Blick in die Zukunft wagen: Was werden die wichtigsten Herausforderungen sein, mit denen Erlangen in 20 Jahren zu tun haben wird?
Ich glaube, dass wir in 20 Jahren immer noch vor der Frage stehen, wie wir bezahlbaren Wohnraum für alle Menschen in Erlangen schaffen können. Die zweite Herausforderung sehe ich darin, nachhaltige Mobilität in der Einpendlerstadt Erlangen zu organisieren: Wie schaffen wir es, die Belastung sowohl der Pendler als auch der Umwelt möglichst gering zu halten?
„Ich vermisse die Zeit, intensiv mit Kolleginnen und Kollegen diskutieren zu können.“
Abschließend eine persönliche Frage: Sie waren bis vor ein paar Jahren selbst Forscher am IAB, haben also Praktiker wissenschaftlich beraten. Jetzt sitzen Sie auf der anderen Seite des Tisches. Hat sich dadurch Ihre Perspektive auf bestimmte Sachfragen geändert?
Mit Sicherheit ist das so. Aber ich schätze nach wie vor die fundierte wissenschaftliche Beratung bei Prozessen, die in der Stadt ablaufen. Ich habe daher auch die Statistikabteilung der Stadt ins Bürgermeisteramt geholt, also ganz nah zu mir. Denn ich sehe: Dort ist die Expertise, die kennen die Fakten und die Entwicklungen. Und meistens gibt es ja durchaus einen Unterschied zwischen den gefühlten und den tatsächlichen Fakten. Mit dem Bewusstsein, das ich mir als Wissenschaftler erarbeitet habe, greife ich heute auf solche fundierte Beratung zurück – auch in dem Vertrauen darauf, dass diese Art von Beratung gut und qualitativ hochwertig ist.
Wünschen Sie sich eigentlich manchmal zurück ans IAB?
(lacht). In jedem Job, beim IAB genauso wie hier, gibt es Tage, die kein Vergnügen sind. Was ich manchmal wirklich vermisse: die Zeit, intensiv mit Kolleginnen und Kollegen diskutieren zu können, ohne unter dem Druck zu stehen, sofort eine Entscheidung treffen zu müssen. Denn die Zeit, auch mal länger über ein Problem nachzudenken, hat man als Oberbürgermeister manchmal nicht.
Herr Janik, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Fotos: Jutta Palm-Nowak, IAB
Autoren:
- Martin Schludi