25. Oktober 2021 | Interviews
„Für die Zukunft erwarte ich eine noch schnellere und bessere Integration“: Herbert Brücker über die Fluchtmigration aus Afghanistan
Herr Brücker, Sie haben unter die Lupe genommen, wie sich die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan auf die Fluchtmigration auswirken wird. Was ist für Sie die wichtigste Nachricht?
Durch Verfolgung, politische Gewaltausübung und Terror sowie durch die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage sind die Anreize für Flucht und Migration erheblich gestiegen. Allerdings verfügen weite Teile der Bevölkerung nicht über die notwendigen Mittel, um das Land zu verlassen. Die Krise des Bankensystems trägt hierzu ebenfalls bei. Vor allem aber sind die Chancen für eine Flucht sehr gering: Die beiden wichtigsten Zielländer der Fluchtmigration, Pakistan und der Iran, werden aufgrund ihrer geostrategischen Interessen und einer zunehmenden Feindseligkeit gegenüber den afghanischen Minderheiten keine geflüchteten und vertriebenen Afghanen aufnehmen. Gleiches gilt für die zentralasiatischen Nachbarstaaten der früheren Sowjetunion, China und die Türkei. Schließlich sind die Fluchtrouten nach Europa fast vollständig geschlossen. Die von dem Taliban-Regime verfolgten und bedrohten Afghaninnen und Afghanen werden darum weder in der Region noch in den Ländern, die den Afghanistan-Einsatz getragen haben, in einem größerem Umfang Schutz erhalten können.
Weite Teile der Bevölkerung verfügen nicht über die notwendigen Mittel, um das Land zu verlassen.
Mit welcher Größenordnung an Geflüchteten rechnen Sie in den nächsten Monaten?
Quantitative Schätzungen sind seriös nicht möglich, weil zu viele politische Parameter nicht bekannt sind. Der Umfang der Fluchtmigration wird neben der Bereitschaft der Taliban, die Flucht in das Ausland zu tolerieren, von der Aufnahmebereitschaft der Länder abhängen, die wie die USA, Deutschland und andere NATO-Staaten den Afghanistaneinsatz getragen haben. Ich rechne damit, dass dies kurzfristig nur einige zehntausend Menschen sein werden. Allerdings können sich die politischen Bedingungen auch schnell verändern.
Welche Personengruppen werden bevorzugt Afghanistan verlassen?
Es werden diesmal überwiegend Personen sein, die über deutlich mehr materielle Ressourcen und Bildung verfügen als der Durchschnitt der Bevölkerung in Afghanistan. Schon in der Vergangenheit beliefen sich die durchschnittlichen Fluchtkosten aus Afghanistan auf über 8.000 Euro bei einem Bruttoinlandsprodukt von gut 500 Euro pro Kopf und Jahr. Aufgenommen werden jetzt bevorzugt Menschen, die die alliierten Truppen und die Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit unterstützt haben oder die herausgehobene Stellungen in Öffentlichkeit, Politik, Wissenschaft, Bildungswesen, Menschenrechtsorganisationen und ähnlichen Bereichen eingenommen haben. Diese Gruppen verfügen über eine sehr viel höhere Bildung, bessere Fremdsprachenkenntnisse und höhere Einkommen als der Durchschnitt der afghanischen Bevölkerung.
Sie schreiben, sowohl die Fluchtrouten nach Europa als auch die Grenzübergänge in die Nachbarstaaten seien für Flüchtende nahezu geschlossen. Wohin werden sie sich überhaupt wenden können?
Wir wissen nicht, in welchem Umfang Flucht und Migration auf irregulären Routen in die Nachbarstaaten möglich ist und wie effektiv die Nachbarstaaten dies verhindern werden. Die Lebensbedingungen der Menschen, denen dies gelingt, werden schlecht sein. Mit zunehmender Entfernung von Afghanistan steigen die Risiken und Kosten der Flucht, sodass hier die Migration für Personen ohne gültige Visa noch geringere Erfolgsaussichten hat. Man kann die Grenzen niemals vollständig schließen, aber es besteht der Eindruck, dass die Nachbarstaaten alles versuchen werden, die Fluchtwege weitgehend zu schließen.
Wo sehen Sie für die Staaten der Europäischen Union den dringendsten Handlungsbedarf, um flüchtenden Afghaninnen und Afghanen zu helfen?
Sie müssen legale Fluchtwege öffnen. Instrumente hierfür sind Resettlement-Programme, die Vergabe von humanitären Visa an besonders bedrohte Gruppen, die Gewährung von Aufenthaltsrechten für Ortskräfte und ähnliche Maßnahmen. Einige Nachbarländer haben sich bereit erklärt, ihre Grenzen für die Transitmigration in die EU zu öffnen. Je größer der humanitäre Beitrag der EU und anderer Hocheinkommensländer wie der USA, Kanada und Australien, desto größer sind auch die Chancen, dass sich die Nachbarländer zu einem gewissen Grad an der Aufnahme von Geflüchteten aus Afghanistan beteiligen werden.
Die EU muss legale Fluchtwege öffnen.
Welche Herausforderungen erwarten Sie für die deutsche Integrationspolitik?
Eine erfolgreiche Integrationspolitik kann die Kosten der Fluchtmigration und der Gewährung von Schutz wirksam senken. In der Vergangenheit haben sich die Geflüchteten aus Afghanistan ähnlich gut wie Geflüchtete aus anderen Ländern, zum Beispiel aus Syrien, in den Arbeitsmarkt integriert. Da ihr durchschnittliches Bildungsniveau in Deutschland schlechter und ihr rechtlicher Status prekärer war als bei anderen Geflüchteten, ist das ein Erfolg. Allerdings ist das Gendergefälle in den Arbeitsmarktchancen noch stärker als bei anderen Geflüchteten. Für die Zukunft erwarte ich allerdings eine schnellere und bessere Integration als in der Vergangenheit.
Warum?
Erstens ist das durchschnittliche Niveau der Bildung und der Sprachkenntnisse höher als das der Afghaninnen und Afghanen, die beispielsweise 2015 zu uns gekommen sind. Dies dürfte auch für die geflüchteten Frauen gelten, die sehr viel häufiger als früher aus Gruppen mit einem höheren Bildungsniveau stammen dürften. Zweitens verfügen die Afghaninnen und Afghanen heute über bessere soziale Netzwerke in Deutschland, die die Integration unterstützen können. Drittens erhalten die Geflüchteten aus Afghanistan heute entweder sofort eine Aufenthaltserlaubnis oder schneller einen gesicherten Schutzstatus, wodurch sich die rechtlichen Voraussetzungen für die Integration verbessern. Viertens schließlich verfügen wir heute über eine ausgebaute Infrastruktur, die Integration und Teilhabe einer vergleichsweise kleinen Zahl von Schutzsuchenden erleichtern wird. Ansonsten bleiben die Herausforderungen die gleichen wie in der Vergangenheit: schnelle Herstellung von Rechts- und Planungssicherheit über den Aufenthaltsstatus, schnelle Unterstützung des Erwerbs guter deutscher Sprachkenntnisse, Förderung von Bildung, Aus- und Weiterbildung und eine gute Arbeitsvermittlung.
Literatur
Brücker, Herbert; Deuster, Christoph; Fendel, Tanja; Jaschke, Philipp; Keita, Sekou; Freitas-Monteiro, Teresa (2021): Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan: Erfahrungen aus der Vergangenheit und erste Einschätzungen der Folgen für Migration und Integration. IAB-Forschungsbericht Nr. 9.
Keitel, Christiane; Schludi, Martin (2021): „Für die Zukunft erwarte ich eine noch schnellere und bessere Integration“: Herbert Brücker über die Fluchtmigration aus Afghanistan, In: IAB-Forum 25. Oktober 2021, https://www.iab-forum.de/fuer-die-zukunft-erwarte-ich-eine-noch-schnellere-und-bessere-integration-herbert-bruecker-ueber-die-fluchtmigration-aus-afghanistan/, Abrufdatum: 18. December 2024
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Autoren:
- Christiane Keitel
- Martin Schludi