27. November 2020 | IAB-Debattenbeiträge
Inklusion ins Erwerbsleben: Niemand darf wegen einer Behinderung benachteiligt werden
Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Dieser entscheidende Satz wurde 1994 in Artikel 3 des Grundgesetzes (GG) aufgenommen. Bereits seit den 1980er Jahren vollzieht sich ein Paradigmenwechsel im Umgang mit Menschen mit Behinderungen, weg von einem reinen Fürsorgesystem für Menschen mit Behinderungen hin zu selbstbestimmter gleichberechtigter Teilhabe, getreu der Devise „Nichts über uns – ohne uns“.
In der Sozialgesetzgebung schlug sich dieser Grundsatz vor allem in der Einführung des Sozialgesetzbuchs Rehabilitation und Teilhabe (SGB IX; 2001) nieder, im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG; 2002), im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG; 2006), in der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK; 2009) und zuletzt in der Einführung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG; Inkrafttreten der ersten Stufe 2017).
Leider ist die Datenlage, die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen betreffend, unzureichend und mit Unschärfen behaftet. So bilden die unterschiedlichsten Statistiken und Befragungen, die es in Deutschland gibt, die Personengruppen nicht deckungsgleich ab; so sind Zahlen zu unterschiedlichen Bereichen zum Beispiel zu Erwerbsquoten und Arbeitslosenquoten nur schwer vergleichbar. Dies gilt allerdings nicht nur für die Teilhabe am Arbeitsleben, sondern betrifft auch andere Lebensbereiche.
Daher hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) eine umfassende Studie in Auftrag gegeben. Sie soll erstmals für Deutschland die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft beschreiben und Bedarfe für die Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten aufzeigen.
Die Studie bezieht dabei, gemäß der UN-BRK, alle Menschen mit Beeinträchtigungen ein, nicht nur Menschen mit einer amtlich anerkannten (Schwer-)Behinderung. Dafür werden 26.000 Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen über ihre Teilhabemöglichkeiten in allen Lebensbereichen befragt – vom Zugang zu Bildung über Teilhabe am Arbeitsleben, Schutz vor Gewalt, Zugänglichkeit von Gebäuden und Infrastruktur bis hin zu Gesundheit und Prävention. Der vierte Zwischenbericht zu dieser Studie erscheint Ende 2020, bevor im Jahr 2021 die Ergebnisse veröffentlicht werden.
Menschen mit Behinderungen in Deutschland
Mit den bereits vorliegenden Daten lässt sich ein, wenn auch relativ oberflächliches, Bild zeichnen: So gab es in Deutschland 2017 laut Mikrozensus etwa 10,2 Millionen Menschen, die mit einer amtlich anerkannten Behinderung in Privathaushalten lebten (siehe Abbildung). Das sind 13 Prozent der Bevölkerung. Fast die Hälfte, nämlich knapp 4,9 Millionen, waren im erwerbsfähigen Alter. 7,5 Millionen der 10,2 Millionen Menschen hatten eine amtlich anerkannte Schwerbehinderung, 3,3 Millionen davon waren im erwerbsfähigen Alter.
Bei Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung im erwerbsfähigen Alter waren 2017 die beiden häufigsten Hauptbehinderungen (hier wurden mehrere Hauptbehinderungsarten zusammengefasst) zerebrale Störungen (zum Beispiel hirnorganische Anfälle mit oder ohne neurologische Ausfallerscheinungen am Bewegungsapparat, etwa in Form einer Spastik)/geistig-seelische Behinderungen (29 %) und eine Beeinträchtigung der Funktion von inneren Organen oder Organsystemen (24 %).
Definition von Menschen mit Behinderungen nach § 2 Sozialgesetzbuch IX
Das Sozialgesetzbuch IX, Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, definiert in § 2:
(1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.
(2) Menschen sind im Sinne des Teils 3 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.
Neben Menschen mit einer anerkannten Behinderung gibt es viele Menschen mit chronischen Erkrankungen oder lang andauernden gesundheitlichen Problemen (siehe Abbildung). Im zweiten Teilhabebericht der Bundesregierung wurde der Anteil dieser Gruppe für das Jahr 2013 auf zusätzliche knapp 8 Prozent der Gesamtbevölkerung geschätzt.
Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf Arbeit
Menschen mit Behinderungen bei der Integration ins Erwerbsleben zu unterstützen, hat in Deutschland eine lange Tradition. Dies zeigt sich nicht zuletzt in einer breiten Palette an entsprechenden Maßnahmen. Auch die von Deutschland ratifizierte UN-BRK schreibt in Artikel 27 das Recht auf Arbeit sowie die staatliche Pflicht fest, dieses durch geeignete Schritte zu sichern und zu fördern.
Gleichwohl gibt es Hinweise darauf, dass die Teilhabe am Arbeitsleben nach wie vor auf große Schwierigkeiten stößt: Menschen mit Behinderungen zwischen 15 und 65 Jahren hatten laut Mikrozensus im Jahr 2017 eine Erwerbsquote von 57 Prozent, bei Menschen ohne Behinderungen lag sie bei 81 Prozent. Diese Ungleichverteilung betrifft auch jüngere Personen. So betrug die Erwerbsquote bei Menschen ohne Behinderungen im Alter zwischen 25 und 44 Jahren 88 Prozent, bei Menschen mit Behinderungen nur 70 Prozent. Allerdings ist diese Lücke in den letzten Jahren kleiner geworden.
Aus Angst vor Vorurteilen verschweigen Menschen mit Behinderungen nicht selten ihre Einschränkung
Für die niedrigeren Erwerbsquoten von Menschen mit Behinderungen dürfte es selbstverständlich auch gesundheitliche Gründe geben, die einer Teilhabe am Erwerbsleben im Wege stehen. Zu bedenken ist aber, dass die Zahlen zur Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Behinderungen insgesamt unscharf sind. Einige haben Angst davor, aufgrund von Vorurteilen bei der Jobsuche benachteiligt zu werden. Sie verschweigen deshalb beispielsweise ihrem Arbeitgeber, aber auch der Arbeitsagentur oder dem Jobcenter, dass sie eine Beeinträchtigung oder sogar eine anerkannte (Schwer-)Behinderung haben.
Damit verzichten sie jedoch im Gegenzug auf besondere Rechte wie zusätzliche Urlaubstage oder Unterstützung durch den Integrationsfachdienst (siehe Infokasten „Was ist eine amtlich anerkannte (Schwer-)Behinderung?“). Sie sind nur dann verpflichtet, den Arbeitgeber über ihre Behinderung zu informieren, wenn sich diese tatsächlich auf die Ausübung der beruflichen Tätigkeit auswirkt und sie sich oder andere dadurch gefährden würden. Das Projekt „Sag ich’s“ der Universität zu Köln entwickelt in diesem Zusammenhang eine Reflexionshilfe für Betroffene, die sich unsicher darüber sind, ob sie ihre Krankheit dem Arbeitgeber gegenüber offenlegen sollen.
Die Arbeitsmarktbeteiligung von Menschen mit chronischen Erkrankungen oder lang andauernden gesundheitlichen Problemen lässt sich bis dato gar nicht quantifizieren.
Einige Vorurteile über Menschen mit Behinderungen
Menschen mit Behinderungen begegnen im Alltag häufig Vorurteilen und Irrtümern, so auch im Erwerbsleben. Solche vielfach kaum hinterfragten Vorstellungen sind leider weit verbreitet, treffen aber häufig gar nicht oder nur zum Teil zu. Fünf prominente Beispiele:
-
„Menschen sind nur dann (schwer-)behindert, wenn sie einen amtlich anerkannten Behindertenausweis vorlegen können“
Viele Menschen lassen sich ihre Behinderung oder Beeinträchtigung nicht amtlich bescheinigen. Sie fühlen sich häufig nicht „behindert“ oder befürchten, dass ihre Beschäftigungschancen aufgrund von Vorurteilen von Kolleginnen und Kollegen oder Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern gegenüber Menschen mit einer Behinderung sinken. Vor allem jungen Menschen bringt die amtliche Anerkennung zudem kaum Vorteile, da sie zum Beispiel Rehabilitationsmaßnahmen zur Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsleben auch ohne eine amtlich anerkannte Behinderung in Anspruch nehmen können.
-
„Menschen mit Behinderungen sind alt“
Behinderungen treten auch bei jüngeren Menschen auf, wenngleich Ältere häufiger betroffen sind: 50 Prozent der behinderten Menschen in einem Privathaushalt sind laut Mikrozensus im Jahr 2017 über 65 Jahre alt. Aber die Hälfte – oder 4,9 Millionen Menschen – ist jünger als 65: Knapp 2 Prozent sind unter 15 Jahre alt, knapp 10 Prozent zwischen 15 und 45 Jahre und 38 Prozent zwischen 45 und 65 Jahre.
-
„Eine Behinderung ist für andere sichtbar“
Manche Behinderungen sind im Alltag durch Außenstehende leicht erkennbar: Menschen etwa, die im Rollstuhl sitzen, oder solche, die Trisomie-21 oder eine starke Sehbehinderung haben. Aber viele Behinderungen sieht man nicht. So sind beispielsweise Lernbehinderungen, psychische Erkrankungen, schwere chronische Erkrankungen wie Diabetes oder Erkrankungen der inneren Organe, zum Beispiel Nierenfunktionseinschränkungen, zumeist nicht sichtbar.
-
„Menschen mit Behinderungen sind nur eingeschränkt oder gar nicht erwerbsfähig“
Manch einer glaubt, dass Menschen mit Behinderungen nur eingeschränkt leistungsfähig oder überhaupt nicht erwerbsfähig seien. Dieses Vorurteil speist sich oftmals daraus, dass viele den „Grad der Behinderung“ (GdB) mit dem früher geläufigen „Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit“ oder einem prozentualen Grad der Einschränkung im Erwerbsleben gleichsetzen. Das führt in die Irre. Denn auch wenn ein GdB von 100 vorliegt, bedeutet dies nicht, dass diese Person zu 100 Prozent im täglichen Leben – und damit auch im Erwerbsleben – eingeschränkt ist.
Wer beispielsweise im Rollstuhl sitzt oder einen Unterarm verloren hat, kann durchaus auf einem Büroarbeitsplatz uneingeschränkt erwerbstätig sein und dennoch einen GdB von 100 aufweisen. Um voll erwerbstätig zu sein, benötigen die Betroffenen zuweilen nur einen entsprechend angepassten Arbeitsplatz. Dieser wird über Rehabilitationsträger wie die Deutsche Rentenversicherung, die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, die Bundesagentur für Arbeit oder das Integrationsamt finanziert oder bezuschusst.
Hinzu kommt: (Schwer-)Behinderte Menschen mit (überstandenen) Erkrankungen wie Krebs, Rheuma, Multipler Sklerose und Diabetes oder einer transplantierten Niere sind oft medikamentös eingestellt und können uneingeschränkt am Arbeitsleben teilhaben.
-
„Menschen mit Behinderungen sind unkündbar“
Mancher Arbeitgeber mag davor zurückschrecken, Menschen mit Behinderungen einzustellen. Einer der Gründe ist die Angst, den Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin anschließend nicht mehr kündigen zu können.
Richtig ist: Einer Kündigung von Menschen mit einer anerkannten Schwerbehinderung, ebenso wie von Menschen, die ihnen gleichgestellt sind (siehe Infokasten „Was ist eine amtlich anerkannte (Schwer-)Behinderung?), muss das Integrationsamt vorher zustimmen (§§ 168 –175 SGB IX).
Aber: Die Einschaltung des Integrationsamtes dient beispielsweise dazu zu prüfen, ob eine Weiterbeschäftigung mit einer Arbeitsplatzanpassung oder eine Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz möglich ist. So konnten im Jahr 2018 bei 22 Prozent aller Verfahren die Beschäftigungsverhältnisse erhalten bleiben. Demgegenüber stimmten bei 78 Prozent der veranlassten Kündigungen die Integrationsämter laut Jahresbericht dem Kündigungsantrag zu.
„In Wirklichkeit ist Behinderung die Form der Verschiedenheit, die benachteiligt wird“ (Richard von Weizsäcker)
Die Definition von Behinderung ist eine stark diskutierte. In den Hintergrund getreten ist in diesem Zusammenhang inzwischen das medizinische Modell, das stark auf die jeweilige Krankheit fokussiert – also auf ein Defizit, das geheilt oder therapiert werden muss. Diese Defizitorientierung wird vor allem von Menschen mit Behinderungen selbst und ihren Interessenvertretungen kritisch gesehen. Denn defizitorientierte Sichtweisen leisten der Stigmatisierung nicht selten Vorschub.
Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen weigern sich aber zu Recht, ihre gesundheitliche Lage als Defizit zu verstehen, nur weil sie nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht. So würde eine Person, die aufgrund fehlender Hände mit den Füßen schreibt, niemals behaupten, dass jemand, der das nicht kann, behindert ist. Wenn Menschen umgekehrt aber nicht mit den Händen schreiben können, wird dies in aller Regel als Defizit wahrgenommen.
Spätestens seit den 1990er Jahren orientiert sich die Diskussion um das Verständnis von Behinderung am bio-psycho-sozialen Modell, auf dem auch die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) basiert. Behinderung wird hier als soziale Konstruktion verstanden und als dynamisch charakterisiert, nicht als statisches Merkmal. Demnach hindern Wechselwirkungen zwischen verschiedensten Barrieren der sozialen Umwelt und Beeinträchtigungen die Menschen an der „vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft“ (siehe Präambel UN-BRK).
Nach diesem Verständnis sind also die Auswirkungen, die eine Erkrankung im Verhältnis zu ihrer Umwelt hat, für die Behinderung entscheidend. Dies wird oft auf die Formel gebracht: „Menschen mit Behinderungen sind nicht durch ihre Krankheit behindert, sondern sie werden durch ihre Umwelt behindert“. Wäre die Umwelt eine andere, läge folglich auch keine Behinderung vor.
Dies wiederum führt zu dem Grundgedanken des „Designs für alle“. Demnach sollten Umgebungen, Produkte oder Systeme so gestaltet sein, dass möglichst viele Menschen sie ohne weitere Anpassung nutzen können. Dazu zählt der Abbau von unterschiedlichsten Barrieren wie hohen Bordsteinen oder Treppen, ein barrierefreier Internetzugang, zum Beispiel durch Texte in „Leichter Sprache“ oder Videos in Gebärdensprache, bis hin zum Abbau von gesellschaftlichen Barrieren. So nützen beispielsweise Niederflurbusse oder abgeflachte Bordsteinkanten nicht nur Rollstuhlfahrern, sondern auch Menschen, die etwa nach einer Knieoperation kurzfristig auf Krücken angewiesen sind, oder der jungen Familie, die mit einem Kinderwagen unterwegs ist.
Fazit
Inklusion beginnt im Kopf jedes Einzelnen. Sie sollte möglichst bereits in der Kita, im Kindergarten und der Schule verwirklicht werden. Das dies möglich ist, zeigt beispielsweise eindrucksvoll der Film „Die Kinder der Utopie“.
Auf dem Arbeitsmarkt setzt sich Inklusion zwar langsam durch. Dennoch ist noch einiges zu tun. Es gilt vor allem, Berührungsängste und Vorurteile abzubauen und die Einsicht zu stärken, dass Vielfalt im Unternehmen für neue Ideen sorgt oder durch die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen Fachkräfte gewonnen werden können. Vor diesem Hintergrund hat die Aktion Mensch zehn gute Gründe formuliert, die für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen sprechen.
Aber auch die Wissenschaft hat einiges nachzuholen – beispielsweise bei der statistischen Erfassung von Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen. Bisher wird eine Einschränkung nur dann als Behinderung gewertet, sofern sie überhaupt erfasst wird, wenn ein amtlich anerkannter Grad der Behinderung vorliegt. Dies gilt sowohl für administrative Daten als auch für Erhebungsdaten. Diese Perspektive ist zu eng. Menschen mit chronischen Erkrankungen oder lang andauernden gesundheitlichen Problemen müssen in Statistiken ebenfalls berücksichtigt werden, wie dies auch die entsprechende UN-Konvention fordert. Nur so lässt sich ein realistisches Bild der Lage von Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen erstellen.
Die Arbeitsmarktforschung im Besonderen sollte verstärkt der Frage nachgehen, inwieweit sich eine Behinderung oder Beeinträchtigung auf die tatsächliche berufliche Tätigkeit auswirkt. Können Personen beispielsweise nicht mehr heben und nur im Sitzen arbeiten, wäre eine gesundheitliche Einschränkung irrelevant und würde nicht zu einer Behinderung führen, wenn sie keine Auswirkungen (mehr) auf die berufliche Tätigkeit hat.
Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn ein Dachdecker nach einem Bandscheibenvorfall zwar seinen Beruf nicht mehr ausüben kann, aber die gesundheitliche Einschränkung in einer anderen Tätigkeit und unter Zuhilfenahme technischer Mittel, etwa durch einen höhenverstellbaren Schreibtisch, gemildert oder irrelevant wird. Ein weiteres Beispiel wären Menschen mit einer chronischen inneren Erkrankung, die so gut medikamentös eingestellt sind, dass sie uneingeschränkt am Erwerbsleben teilhaben können.
Viele Länder, die die UN-BRK unterzeichnet und ratifiziert haben, orientieren sich bereits bei der statistischen Erfassung von Behinderung am bio-psycho-sozialen Modell und damit an den Wechselwirkungen zwischen gesundheitlicher Situation und sozialer Umwelt. So nutzen Länder wie Kanada oder Großbritannien Selbsteinschätzungen über eine etwaige Behinderung und Beeinträchtigung. Es hat sich gezeigt, dass etwa jeder Vierte der jeweiligen Gesamtbevölkerung angibt, eine Behinderung oder Beeinträchtigung zu haben.
Was ist eine amtlich anerkannte (Schwer-)Behinderung?
Als schwerbehindert gelten Personen, denen die Versorgungsämter einen Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 zuerkannt sowie einen gültigen Ausweis ausgehändigt haben. Als behindert gelten Menschen mit einem amtlich anerkannten GdB von 20 bis unter 50. Maximal kann ein GdB von 100 zuerkannt werden.
Eine amtliche Anerkennung der Behinderung kann meist bei den Versorgungsämtern beantragt werden. Ab einem GdB von 30 kann die Agentur für Arbeit feststellen, dass Menschen mit einer Behinderung Schwerbehinderten gleichgestellt sind, wenn aufgrund der Behinderung ohne Gleichstellung kein Beschäftigungsverhältnis entstehen kann oder beibehalten werden kann (§ 2 Abs. 3 SGB IX).
Welche Sonderregelungen gelten für Menschen mit einer amtlich anerkannten Schwerbehinderung?
Mit der Anerkennung einer Schwerbehinderung sind einige Vorteile verbunden, wie Steuerermäßigungen, verbilligte Eintritte in Kunst- und Kulturstätten oder verbilligte Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Parkerleichterungen, aber auch ein besonderer Kündigungsschutz nach § 168 SGB IX oder bezahlte zusätzliche Urlaubstage. Art und Umfang sind dabei jeweils abhängig von der Höhe des GdB sowie möglichen Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis.
Literatur
Aktion Mensch (o.J.): 10 Gründe, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen.
Bundesagentur für Arbeit (2019): Der Arbeitsmarkt in Deutschland 2018.
Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (2019): Jahresbericht 2018/2019.
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2016): Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen.
Kersting, A., Steinwede, J., Harand, J. Schröder, H. (2020): Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. 3. Zwischenbericht. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Forschungsbericht Nr. 541.
Statistisches Bundesamt (2019): Schwerbehinderte Menschen – Fachserie 13 Reihe 5.1 – 2017.
Statistisches Bundesamt (2020): Öffentliche Sozialleistungen. Lebenslagen der behinderten Menschen. Ergebnis des Mikrozensus 2017.
Rauch, Angela; Reims, Nancy (2020): Inklusion ins Erwerbsleben: Niemand darf wegen einer Behinderung benachteiligt werden, In: IAB-Forum 27. November 2020, https://www.iab-forum.de/inklusion-ins-erwerbsleben-niemand-darf-wegen-einer-behinderung-benachteiligt-werden/, Abrufdatum: 17. November 2024
Autoren:
- Angela Rauch
- Nancy Reims