Macht Bürgergeld Arbeit unattraktiv?

In der öffentlichen und medialen Debatte wird vielfach unterstellt, dass Menschen, die Bürgergeld beziehen, häufig gar nicht arbeiten wollen. Das Bürgergeld, so wird behauptet, mache Arbeit unattraktiv. Eine genauere wissenschaftliche Analyse zeigt indes, dass die Realität deutlich komplexer und vielschichtiger ist, als es diese generalisierenden Behauptungen nahelegen. Tatsächlich lohnt sich ein näherer Blick auf die Zahlen und Fakten. Wir haben für Sie die wichtigsten einschlägigen Befunde und Erkenntnisse in komprimierter Form zusammengestellt.

Das IAB betreibt umfangreiche Forschung zum Themenkomplex „Bürgergeld und Arbeitsanreize“. Im Folgenden bieten wir Ihnen einen Überblick über ausgewählte Befunde zu diesem Forschungsfeld.

Rückgang der Beschäftigungsaufnahmen hat mehrere Ursachen

• Beschäftigungsaufnahmen aus der Grundsicherung sind seit 2019 nach einer kurzen Erholung zwischen Mitte 2021 und Mitte 2022 zurückgegangen.
• Erste Befunde legen nahe, dass der Rückgang seit 2023 zu größeren Teilen nicht mit dem Bürgergeld, sondern mit anderen Faktoren wie dem Wirtschaftsabschwung zusammenhängt.
• Ob und inwieweit die veränderte Sanktionspraxis oder die Bürgergeldreform ursächlich für den Rückgang sind, lässt sich noch nicht abschließend bewerten.
• Offen ist ebenfalls, ob die Bürgergeldreform einen Einfluss auf die Stabilität der Beschäftigung hat.

Quellen: Fitzenberger (2024), Weber (2024).

Beschäftigungsaufnahmen sind häufig nicht nachhaltig

• Nur rund die Hälfte der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsaufnahmen geht mit einer Beendigung des Leistungsbezugs in der Grundsicherung einher.
• Mehr als die Hälfte der aufgenommenen Beschäftigungen endet innerhalb eines Jahres.
• Der Wirtschaftszweig und die persönlichen Arbeitsmarktressourcen (etwa die formale Qualifikation) beeinflussen die Stabilität der Beschäftigung.
• Da das Bürgergeld nachhaltige Übergänge fördern soll, kann dies zu Lasten einer schnellen Integration gehen.

Quellen: Bruckmeier & Hohmeyer 2018, Dengler et al 2021.

Bei der überwiegenden Mehrheit der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bestehen multiple Arbeitsmarkthemmnisse

• Bei 79 Prozent der Männer und 89 Prozent der Frauen liegen multiple Arbeitsmarkthemmnisse vor, zum Beispiel fehlende Berufsausbildung, höheres Lebensalter, gesundheitliche Einschränkungen, Langzeit-Nichterwerbstätigkeit oder mangelnde Deutschkenntnisse.
• Mit jedem zusätzlichen Hemmnis halbieren sich in etwa die Abgangswahrscheinlichkeiten für erwerbsfähige Leistungsberechtigte aus dem Leistungsbezug in Erwerbstätigkeit innerhalb eines Jahres. [/callout]

Wer arbeitet, hat grundsätzlich mehr Geld

• Erwerbseinkommen wird beim Bürgergeld nicht vollständig auf die Leistung angerechnet. Erwerbstätige mit ergänzenden Leistungen haben daher grundsätzlich ein höheres Einkommen als nicht Erwerbstätige.
• Für Niedriglohnbeziehende mit hohen Wohnkosten oder Kindern stellen das Wohngeld und der Kinderzuschlag einen Abstand zum Bürgergeld her.
• Ein höheres Einkommen bei geringeren Verdiensten als im Bürgergeld hängt allerdings davon ab, ob die ergänzenden Sozialleistungen auch in Anspruch genommen werden.  [/callout]

Bürgergelderhöhungen reduzierten Arbeitsanreize, Lohnerhöhungen und Entlastungspakete wirkten dagegen

• Die starken Erhöhungen des Regelsatzes 2023 und 2024 reduzierten für sich genommen die monetären Arbeitsanreize.
• Allerdings gibt es gegenläufige Effekte durch weitere Maßnahmen wie dem dritten Entlastungspaket der Bundesregierung, von dem insbesondere Geringverdienende außerhalb des Bürgergelds profitierten.
• Auch die starke Erhöhung des Mindestlohns wirkte einer Reduzierung des Arbeitsangebots entgegen.
• Trotz Bürgergeldreform 2023 gab es keinen Anstieg der Übergänge aus Erwerbstätigkeit in den Leistungsbezug.

Quelle: Bruckmeier & Wiemers (2023).

Reformbedarf bei Hinzuverdienstregeln:

• Das System der einkommensabhängigen Sozialleistungen (Bürgergeld, Wohngeld, Kinderzuschlag) ist derzeit von hohen effektiven Grenzbelastungen geprägt (siehe Abbildung 4), die in bestimmten Bereichen über 90 Prozent betragen. Dadurch führt in einigen Einkommensbereichen selbst eine erhebliche Erhöhung der Arbeitszeit nur zu einem vergleichsweise geringen Anstieg des verfügbaren Haushaltseinkommens.
• Hohe effektive Grenzbelastungen liegen nicht nur beim Bezug von Bürgergeld, sondern auch beim Bezug der vorrangigen Leistungen Wohngeld und Kinderzuschlag vor.
• Das Nebeneinander von konkurrierenden Leistungen – Bürgergeld einerseits, Wohngeld und Kinderzuschlag andererseits – macht das System der Sozialleistungen komplex und für die Betroffenen intransparent.
• Reformen, die einerseits die effektiven Grenzbelastungen auf ca. 70 Prozent begrenzen, und andererseits die Transparenz des Systems durch Integration von Leistungen erhöhen, sind daher sinnvoll.
• Die Nebenwirkungen müssen jedoch beachtet werden: So würde die Zahl der Leistungsberechtigten steigen und in einem bestimmten höheren Arbeitseinkommensbereich der Anreiz zur Arbeitszeitausweitung sinken.

Quelle: Bruckmeier & Weber (2024).

Literatur

Beste, Jonas; Coban, Mustafa; Trappmann, Mark (2023): Zahlreiche Faktoren verringern die Erfolgsaussichten von Grundsicherungsbeziehenden. In: Wirtschaftsdienst, Jg. 103, H. 2, S. 123-129.

Bruckmeier, Kerstin; Hohmeyer; Katrin (2018): Arbeitsaufnahmen von Arbeitslosengeld-II-Empfängern: Nachhaltige Integration bleibt schwierig. IAB-Kurzbericht Nr. 2.

Bruckmeier, Kerstin; Weber, Enzo (2024): Geringverdienende im Leistungsbezug: monetäre Anreize und aktive Unterstützung für eine bessere Arbeitsmarktintegration. In: IAB-Forum ,  2.4.2024. DOI:10.48720/IAB.FOO.20240402.01.

Bruckmeier, Kerstin; Wiemers, Jürgen (2023): Energiepreiskrise: Die geplanten finanziellen Entlastungen dürften das Arbeitsangebot nur wenig beeinflussen. In: IAB-Forum, 16.1.2023.

Dengler, Katharina; Hohmeyer, Katrin; Zabel; Cordula (2021): Erwerbslose in der Grundsicherung: Welche Faktoren begünstigen die Aufnahme stabiler Beschäftigungsverhältnisse? In: IAB-Forum, 13.1.2021.

Fitzenberger, Bernd (2024): Warum die aktuelle Bürgergelddebatte nicht die richtigen Schwerpunkte setzt. In: IAB-Forum, 11.3.2024.

Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Strukturen der Grundsicherung SGB II (Zeitreihe Monats- und Jahreszahlen ab 2005), Nürnberg, Mai 2024.

Weber, Enzo (2024): The Dovish Turnaround: Germany’s Social Benefit Reform and Job Findings. IAB-Discussion Paper Nr. 7. DOI:10.48720/IAB.DP.2407.

Bild: taa22/stock.adobe.com

DOI: 10.48720/IAB.FOO.20250317.01