26. Juli 2017 | Serie „Mindestlohn“
Neueinstellungen zum Mindestlohn: Höhere Anforderungen, schwierigere Personalsuche
Hannah Busshoff , Nicole Gürtzgen , Alexander Kubis , Martina Rebien , Enzo Weber
Nach der Einführung des Mindestlohns sind die betrieblichen Anforderungen an die Bewerber bei neu zu besetzenden Stellen im Mindestlohnbereich zum Teil deutlich gestiegen. Dies jedenfalls legen Befragungen der Betriebe im Rahmen der IAB-Stellenerhebung nahe. Damit haben sich auch die Besetzungsprobleme in diesem Lohnsegment verschärft. Dies zeigt eine aktuelle Studie von Nicole Gürtzgen, Alexander Kubis, Martina Rebien und Enzo Weber, deren ausführliche Fassung als IAB-Kurzbericht 12/2016 erschienen ist.
Weniger Neueinstellungen im Mindestlohnbereich, mehr Neueinstellungen im oberen Niedriglohnbereich
Grundsätzlich hat sich die allgemeine positive Beschäftigungsentwicklung in Deutschland auch nach der Einführung des Mindestlohns fortgesetzt. Allerdings gibt es Hinweise auf eine leicht ungünstigere Beschäftigungsentwicklung in vom Mindestlohn betroffenen Betrieben, die hauptsächlich auf zögerlicheren Neueinstellungen beruht. Dies zeigt eine Studie von Mario Bossler und Hans-Dieter Gerner aus dem Jahr 2016.
Laut IAB-Stellenerhebung haben Betriebe und Verwaltungen im Jahr 2015 rund 122.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte zum Mindestlohn eingestellt. Das sind 13.000 weniger als im Vorjahr, als der Mindestlohn noch keine Gültigkeit hatte. Allerdings kumulierten sich 2014 auffällig viele Neueinstellungen auf Stellen im Mindestlohnbereich. Dies legt nahe, dass die Betriebe den Mindestlohn zum Teil vorweggenommen haben. Zum Vergleich: Im restlichen Niedriglohnbereich (8,51 bis 10,38 Euro/Stunde) lag die Zahl der Neueinstellungen mit 531.000 um 115.000 höher als im Vorjahr.
Zahl der geeigneten Bewerber ist gesunken
Mit der Lohnsteigerung durch den gesetzlichen Mindestlohn steigt für potenzielle Bewerberinnen und Bewerber der Anreiz, sich auf entsprechende Stellen zu bewerben. Aus betrieblicher Sicht sollte sich dadurch die Bewerberlage verbessern. Allerdings zeigt sich, dass es im Jahr 2015 im Mindestlohnbereich aus Sicht der Betriebe nur noch drei geeignete Bewerber pro neu zu besetzender Stelle gab – im Jahr davor waren es noch neun. Demgegenüber blieb die Zahl bei den anderen Lohngruppen konstant beziehungsweise nahm sogar leicht zu (siehe Tabelle 1).
Für die sinkende Zahl geeigneter Bewerber im Mindestlohnsegment kommen unterschiedliche Erklärungen infrage:
- Erstens könnte die Zahl geeigneter Bewerber gesunken sein, da mit der Einführung des Mindestlohns das Anforderungsniveau der Betriebe gestiegen ist.
- Zweitens gilt zu berücksichtigen, dass die im Jahr 2014 beobachteten Neueinstellungen auf Mindestlohnniveau zum Teil auf Vorzieheffekten beruhten. Stellen, die schon vor der gesetzlichen Bindung des Mindestlohns nahe am Mindestlohnniveau lagen, könnten sich hinsichtlich des Tätigkeitsprofils und des Bewerberpools sehr von deutlich niedriger bezahlten Stellen unterscheiden.
- Drittens könnte sich die absolute Zahl der Bewerber reduziert haben, falls das Label „Mindestlohn“ unter ansonsten gleichen Bedingungen mit einer geringeren Attraktivität der Stelle verbunden wird und sich aus diesem Grunde weniger Personen bewerben.
Dauer der Personalsuche hat sich bei Mindestlohn-Stellen fast verdoppelt
Hinweise auf eine veränderte Bewerberlage ergeben sich auch aus der Dauer der Personalsuche. Diese ist bei Mindestlohn-Stellen im Vorjahresvergleich deutlich gestiegen. Betrug die durchschnittliche Suche im Jahr 2014 noch 27 Tage, so hat sie sich 2015 auf 51 Tage fast verdoppelt (siehe Abbildung 1). Bei keiner anderen Lohngruppe war ein ähnlicher Anstieg zu verzeichnen. Im höheren Niedriglohnbereich ist die Dauer der Personalsuche sogar leicht gesunken. Damit liegt die Dauer der Personalsuche im Mindestlohnbereich nunmehr oberhalb der des restlichen Niedriglohnbereichs.
Schwierigkeiten bei der Personalsuche im Mindestlohnbereich haben stark zugenommen
Direkt nach Problemen bei der Personalsuche gefragt, berichten die Betriebe, dass im Niedriglohnsektor 37 bzw. 38 Prozent der Neueinstellungen mit Schwierigkeiten verbunden sind (siehe Tabelle 2). Im Mindestlohnbereich hat sich der betreffende Anteil zwischen 2014 und 2015 mehr als verdoppelt, während für andere Lohngruppen sogar ein leichter Rückgang der Besetzungsschwierigkeiten zu beobachten war. Insgesamt erreicht der Mindestlohnbereich im Jahr 2015 diesbezüglich das Niveau des übrigen Niedriglohnbereichs.
Höhere Qualifikationsanforderungen erschweren Neueinstellungen im Mindestlohnbereich
Als konkrete Gründe für die gestiegenen Besetzungsprobleme bei Mindestlohn-Stellen nennen die Betriebe vor allem unzureichende berufliche Qualifikationen, die fehlende Bereitschaft der Bewerber, die Arbeitsbedingungen zu erfüllen, und die gesunkene Zahl an Bewerbern (siehe Abbildung 2).
Im übrigen Niedriglohnbereich sieht das Bild insofern etwas anders aus, als sich die Bedeutung der beruflichen Qualifikation als Ursache für Besetzungsschwierigkeiten dort gegenüber 2014 nicht verändert hat. Der höhere Anteil der Einstellungsschwierigkeiten aufgrund zu hoher Lohn- und Gehaltsforderungen, nicht akzeptierter Arbeitsbedingungen und suboptimaler Bewerberlage deuten aber darauf hin, dass Besetzungsprobleme auch in diesem Lohnsegment immer öfter auf mehrere Hindernisse zugleich zurückgehen.
Anforderungen an Bewerber im Mindestlohnbereich steigen
Einstellungsschwierigkeiten im Mindestlohnbereich gehen nicht nur mit einem Anstieg bei den erforderlichen formalen Qualifikationen einher. Auch die Stellenanforderungen, die darüber hinausgehen, haben sich überproportional erhöht: Wurden im Jahr 2014 nur bei zehn Prozent der Neueinstellungen zum Mindestlohn zusätzliche Kenntnisse und Fertigkeiten gefordert, so war dies im Jahr 2015 bereits bei 19 Prozent der Fall (siehe Abbildung 3).
Im betrachteten Zeitraum weisen diese Anforderungen im gesamten Niedriglohnsektor höhere Steigerungsraten auf als bei den höher dotierten Stellen. Dennoch gilt weiterhin, dass spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten außerhalb des Niedriglohnbereichs eine größere Bedeutung haben. Dort werden sie für gut die Hälfte der Stellen gefordert.
Welche Mechanismen stecken hinter dieser Entwicklung? Grundsätzlich sind Betriebe daran interessiert, mit der Produktivität der Beschäftigten mindestens deren Entlohnung zu erwirtschaften. Da der Mindestlohn die Personalkosten erhöht, dürften Betriebe versuchen, diese Lohnsteigerung durch Neueinstellungen von entsprechend produktiverem Personal zu kompensieren.
Auch gibt es Hinweise darauf, dass längerfristige Überlegungen bei Neueinstellungen im Mindestlohnbereich an Bedeutung gewonnen haben. So ist hier der Anteil der längerfristig zu besetzenden Stellen zwischen 2014 und 2015 von 57 auf 81 Prozent gestiegen. Dies erhöht einmal mehr die Herausforderung, geeignete Personen für diese Stellen zu finden – denn je länger eine Stelle besetzt werden soll (und je höher die Qualifikationsanforderungen sind), desto relevanter wird eine gute Personalentscheidung.
Betriebe zeigen Kompromissbereitschaft bei Besetzungsschwierigkeiten
Wenn sich die Personalsuche schwierig gestaltet, besteht eine mögliche Reaktion von Betrieben darin, trotz prinzipiell höherer Ansprüche an die Stellenbewerber Abstriche bei der Einstellung von Personal zu machen, wenn diese Ansprüche nicht erfüllt werden können. Rund 16 Prozent aller eingestellten Bewerber im gesamten Niedriglohnsektor (einschließlich Mindestlohnbereich) weichen im Jahr 2015 bei mindestens einem ihrer persönlichen Charakteristika vom geforderten Stellenprofil ab.
Vergleicht man diese Entwicklung mit dem Vorjahr, so kam es bei einzelnen Merkmalen teilweise zu deutlichen Verschiebungen: So haben Arbeitgeber im Jahr 2015 in Bezug auf die geforderte Qualifikation und die Berufserfahrung deutlich öfter Zugeständnisse gemacht als im Vorjahr. Der Anteil der neueingestellten Personen mit einem geringeren Qualifikationsniveau als ursprünglich vom Betrieb gewünscht stieg gegenüber 2014 um 18 Prozent. Kompromisse sind dabei immer relativ zu dem gestiegenen grundsätzlichen Anforderungsniveau zu sehen.
Anders verhält es sich im Hochlohnsektor: Dort ist der Anteil der neu eingestellten Personen, die ein geringeres Qualifikationsniveau aufweisen als eigentlich gewünscht, um 17 Prozent gesunken.
Fazit
Mit der Einführung des flächendeckenden Mindestlohns für gering entlohnte Tätigkeiten hat sich das betriebliche Such- und Besetzungsverhalten offenbar verändert. So werden zusätzliche Kenntnisse und Fertigkeiten gefordert. Gleichzeitig sind die Betriebe stärker als bislang bestrebt, Stellen im Mindestlohnbereich längerfristig zu besetzen. Damit ist die Zahl der in diesem Lohnsegment erfolgten Neueinstellungen, die nach Angaben der Betriebe mit Schwierigkeiten verbunden waren, deutlich gestiegen. Da die Betriebe ihre höheren Ansprüche an die Bewerber offenbar nicht vollständig durchsetzen konnten, machten sie bei Stellenbesetzungen wiederum größere Kompromisse.
Insgesamt spiegelt sich in der gestiegenen Zahl an betrieblichen Kompromissen sowie den zusätzlich nachgefragten Kenntnissen und Fertigkeiten ein geändertes Suchverhalten der Betriebe wider. Die zunehmenden Besetzungsschwierigkeiten sind allerdings kein Indiz für einen drohenden Arbeitskräftemangel in diesem Lohnsegment, denn die Arbeitslosigkeit unter Ungelernten ist nach wie vor sehr hoch. Sie sind aber sehr wohl ein Indiz für eine schlechtere Passung zwischen dem Angebot an Bewerbern und den aufgrund des Mindestlohns gestiegenen betrieblichen Anforderungen an das gesuchte Personal. Diese Passung wieder zu verbessern, ist eine wichtige Herausforderung für die Arbeitsmarktpolitik.
Die IAB-Stellenerhebung
Im Rahmen der repräsentativen IAB-Stellenerhebung werden Betriebe mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zum letzten Fall einer sozialversicherungspflichtigen Neueinstellung befragt. Neben Informationen zur neu eingestellten Person, den Merkmalen der besetzten Stelle und dem Verlauf des Suchprozesses werden seit dem vierten Quartal 2014 auch detaillierte Informationen zum Stundenlohn auf der besetzten Stelle erhoben, anhand derer Analysen für unterschiedliche Lohngruppen möglich sind.
Literatur
Bossler, Mario; Gerner, Hans-Dieter (2016): Employment effects of the new German minimum wage. Evidence from establishment-level micro data. IAB-Discussion Paper Nr. 10.
Gürtzgen, Nicole; Kubis, Alexander; Rebien, Martina; Weber, Enzo (2016): Neueinstellungen auf Mindestlohnniveau: Anforderungen und Besetzungsschwierigkeiten gestiegen. IAB-Kurzbericht Nr. 12.
Beitragsbild: Thomas Schreiber, psbrands
Diese Publikation ist unter folgender Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht: Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International (CC BY-SA 4.0): https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
Autoren:
- Hannah Busshoff
- Nicole Gürtzgen
- Alexander Kubis
- Martina Rebien
- Enzo Weber