Verödende Ortskerne hier, Wohnungsmangel und Verkehrsinfarkt dort: Die Kluft zwischen strukturschwachen ländlichen Regionen und boomenden Großstädten scheint unaufhörlich zu wachsen. Inwieweit spiegelt diese Einschätzung die reale Lage wider? Und was kann die Politik den wachsenden regionalen Unterschieden entgegensetzen? Oder sollte sie manche Regionen besser ganz aufgeben? Über diese Fragen diskutierten Expertinnen und Experten bei den Nürnberger Gesprächen.

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https://youtu.be/fxFTjnJ24N4

„Woanders is‘ auch scheiße.“ So beschrieb vor einigen Jahren der Schriftsteller Frank Goosen das fatalistische Selbstgefühl der Menschen im Ruhrpott. Wie berechtigt ist dieser Fatalismus? Fallen ökonomisch abgehängte Regionen immer weiter zurück, während strukturstarke Regionen ihren Vorsprung noch ausbauen? Sind gleichwertige Lebensverhältnisse eine Illusion? Diese und weitere Fragen standen im Mittelpunkt der Nürnberger Gespräche am 6. Mai dieses Jahres.

Tatsächlich scheint es eine Art regionalen Matthäus-Effekt zu geben („Wer hat, dem wird gegeben.“), wie IAB-Vizedirektor Prof. Ulrich Walwei zu Beginn am Beispiel boomender Großstädte aufzeigte. Diese zeichneten sich durch eine gute Infrastruktur aus, die gerade junge Menschen anzieht. Damit aber, so Walwei, werden diese Städte auch attraktiver für ansiedlungswillige Unternehmen. Ganz anders die strukturschwachen ländlichen Regionen mit schrumpfender und alternder Bevölkerung, die von der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung abgehängt zu werden drohten.

Walwei: „Die großen Zukunftstrends könnten die regionale Kluft verschärfen“

Zugleich warnte Walwei davor, dass die sich abzeichnenden Zukunftstrends die regionale Kluft vertiefen könnten: Städte profitierten mehr von der Digitalisierung als das Land, der demografische Wandel treffe ländliche Gegenden härter als die Ballungsräume, und auch bei der Energiewende – Stichwort: Braunkohleausstieg – zähle vielfach der ländliche Raum zu den Verlierern.

Die Teilnehmer der Podiumsdiskussion, die von WDR-Wirtschaftsredakteur Frank Christian Starke ebenso sachkundig wie schlagfertig moderiert wurde, teilten Walweis eher pessimistisches Szenario indes nur bedingt. So warnte Nürnbergs Oberbürgermeister Dr. Ulrich Maly davor, aktuelle Trends einfach fortzuschreiben, und verwies auf seine eigene Stadt, die in der Vergangenheit die Schwelle von 500.000 Einwohnern mehrfach über- wie unterschritten hat. Dass Menschen vom Land in die Städte strömen, müsse daher keineswegs auch in Zukunft so bleiben.

Dr. Ulrich Maly, Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg und Vizepräsident des Deutschen Städtetags

Dr. Ulrich Maly, Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg und Vizepräsident des Deutschen Städtetags

Pahl-Weber: „So wie bisher kann es nicht weitergehen“

Auch Prof. Elke Pahl-Weber, Professorin am Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin, hält das Bild vom „ausblutenden Land“ für übertrieben. Eher habe sich im Laufe der letzten Jahrzehnte ein Stadt-Land-Kontinuum herausgebildet, das nicht zuletzt in der Bildung von Metropolregionen und Regionen um die Mittelstädte ihren Ausdruck findet. Historisch nicht unbekannt, aber in dieser Zeit neu sei allerdings, dass „einige wenige Orte nicht mehr existenzfähig sind“. Beim Zuzug in die Städte diagnostiziert sie zugleich eine anhaltende Suburbanisierung, gerade in der Familiengründungsphase zögen junge Menschen in die die Stadt umgebende Region.

Prof. Elke Pahl-Weber, Professorin für Bestandsentwicklung und Erneuerung von Siedlungseinheiten am Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin

Prof. Elke Pahl-Weber, Professorin für Bestandsentwicklung und Erneuerung von Siedlungseinheiten am Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin

Auch die globale Erderwärmung könne dazu führen, dass immer mehr Menschen dicht bebaute Großstädte, in denen sich schon jetzt Hitze-Inseln bilden, künftig nicht mehr als besonders lebenswert ansehen. Die Grünstruktur habe nicht nur für Flora und Fauna sondern auch für Luftqualität und Schattenbildung, und damit für die Senkung von Temperaturen in diesem Bereich, existenzielle Bedeutung. Die aktuelle Trockenheit in verschiedenen Regionen kann Pahl-Weber zufolge auch hierzulande zu Wassermangel führen. So wurde gerade bekannt, dass Hamburg nach großen privaten Grundstücken sucht, auf denen der Bau von Brunnen möglich ist, da die städtischen Wasserreserven für den steigenden Bedarf nicht mehr ausreichten. Für Pahl-Weber klare Signale dafür, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann.

Dr. Klaus-Peter Potthast, Abteilungsleiter im bayerischen Wirtschaftsministerium, hielt die Problembeschreibung ebenfalls für etwas überzeichnet und warb für eine differenzierte Analyse. Ähnlich wie seine Mitdiskutanten relativierte er die Vorstellung einer klaren Zweiteilung zwischen prosperierenden Ballungsräumen einerseits und strukturschwachem ländlichen Raum andererseits: Weder sind Ballungsräume per se Boomregionen, wie sich am Beispiel des Ruhrgebiets zeigt, noch sind ländliche Regionen zwangsläufig strukturschwach und unweigerlich von Landflucht bedroht. Allerdings zeigt sich etwa für das „Zuwanderungsland“ Bayern, dass der Zuzug von außen sich sehr stark auf die Städte konzentriert, wie Potthast betonte.

Dr. Klaus-Peter Potthast, Leiter der Abteilung „Wirtschaftspolitik, Koordination, Industrie“ im Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie

Dr. Klaus-Peter Potthast, Leiter der Abteilung „Wirtschaftspolitik, Koordination, Industrie“ im Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie

Aufschlussreich ist auch der Blick auf die Entwicklung der Beschäftigung. So wies Prof. Uwe Blien, Leiter des Forschungsbereichs „Regionale Arbeitsmärkte“ am IAB, darauf hin, dass in Westdeutschland die Beschäftigung auf dem Land sogar stärker wächst als in den Städten – auch wenn letztere die deutlich besser bezahlten Jobs bieten.

Gerade die Dörfer im Umland von Großstädten sind kaum von Auszehrung bedroht. Denn sie sind attraktiv für junge Familien, weil die Kinder im Grünen aufwachsen können und der Arbeitsplatz in der Stadt trotzdem in Reichweite liegt. Deutlich problematischer ist die Situation in ländlichen Regionen, die nicht mehr im Dunstkreis prosperierender Städte liegen – obschon auch hier durchaus Erfolgsbeispiele zu verzeichnen sind.

Prof. Dr. Uwe Blien, Leiter des Forschungsbereichs „Regionale Arbeitsmärkte“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und Professor für Arbeitsmarkt- und Regionalforschung an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Prof. Dr. Uwe Blien, Leiter des Forschungsbereichs „Regionale Arbeitsmärkte“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und Professor für Arbeitsmarkt- und Regionalforschung an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Die These, dass der ländliche Raum beim digitalen Wandel oder bei der Energiewende gegenüber den Städten den Kürzeren zieht, stieß auf dem Podium ebenfalls nicht auf uneingeschränkte Zustimmung.

Ulrich Maly führte zwei Beispiele ins Feld: So sei der ländliche Raum um Nürnberg im Zuge des Ausbaus der regenerativen Energien vom Stromkonsumenten zum Stromproduzenten geworden, der perspektivisch die Stadt Nürnberg zu einem erheblichen Anteil mit Strom versorgen werde.

Auch bei der Digitalisierung bieten sich laut Maly durchaus Chancen für den ländlichen Raum. Wenn etwa der 3-D-Drucker dazu führe, dass Klein- und Kleinstserien zu immer geringeren Kosten gefertigt werden können, würden auch ländliche Gegenden als Produktionsstandorte möglicherweise attraktiver.

Schließlich wurden auf dem Podium einige Regionen genannt, die früher als strukturschwach galten und mittlerweile dennoch gut dastehen, die Küstenregionen an der Nordsee etwa oder die Oberpfalz in Bayern. Dies zeigt: Dass Regionen ökonomisch abgehängt sind, ist nicht notwendigerweise ein Dauerzustand.

Gleichwohl: Die Kluft zwischen strukturstarken und strukturschwachen Regionen ist in Deutschland erheblich und sie nimmt bislang eher zu als ab. Besonders eklatant schlägt dies bei der kommunalen Finanzkraft zu Buche, wie Ulrich Maly an folgendem Beispiel verdeutlichte: Während bayerische Städte im Schnitt jährlich 500 Euro pro Einwohner investieren, liegt dieser Betrag in Nordrhein-Westfalen nur bei gut 100 Euro – eine Kluft, die sich wiederum auf die relative Attraktivität von Kommunen etwa für junge Menschen auswirkt.

Auch bei den Löhnen bleibt der Abstand zwischen den ländlichen Regionen und den Zentren groß. Er ist, wie Uwe Blien betont, seit der Jahrtausendwende sogar nochmals gewachsen. Die Lohnkluft besteht neueren Daten zufolge selbst bei den Reallöhnen – also auch dann, wenn man die deutlich höheren Lebenshaltungskosten in den Städten berücksichtigt.

Maly: „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist der Maßstab für politisches Handeln“

Es besteht also Handlungsbedarf. Denn dass sehr strukturschwache Regionen nicht sich selbst überlassen werden sollten, war auf dem Podium weitgehend unstrittig. So stieß der Vorschlag des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), staatliche Fördergelder in Ostdeutschland auf die Städte zu konzentrieren und die abgehängten ländlichen Regionen nicht zu fördern, nur auf wenig Gegenliebe.

Uwe Blien räumte zwar ein, dass es durchaus Sinn ergebe, Städte zu fördern, weil diese in ihr Umland ausstrahlten. Dies könne aber die Förderung der Randzonen fernab der Wachstumspole nicht ersetzen. Auch Ulrich Maly widersprach der Analyse des IWH und erklärte: „Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse muss der Maßstab für politisches Handeln bleiben.“

Die Frage ist nur: In welcher Form soll dieses politische Handeln zweckmäßigerweise erfolgen? Der Staat kann nicht einfach private Firmen in abgehängten Regionen ansiedeln, weil in einer Marktwirtschaft wie der deutschen Investitionsentscheidungen nun mal nach unternehmerischen Gesichtspunkten gefällt werden, wie Uwe Blien deutlich macht. Was also bleibt dem Staat an Möglichkeiten, Regionen gezielt zu fördern?

Für Pahl-Weber und Potthast geht es nicht zuletzt darum, Eigeninitiative und bürgerschaftliches Engagement vor Ort durch gute staatliche Rahmenbedingungen zu fördern. Der Staat kann aus Sicht von Pahl-Weber schon aus finanziellen Gründen nicht für alle Bürgerinnen und Bürger gleich optimale Lebensbedingungen sicherstellen. Vielmehr müssten sich Staat und Bürger vor Ort auf Augenhöhe begegnen und gemeinsame Lösungen entwickeln. Eine „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ könne unter diesen Umständen auf dem Dorf ganz anders aussehen als etwa in der Großstadt – aber eben so, wie es die daran beteiligten Menschen gestalten wollen, so Pahl-Weber. Als Beispiel für solch kooperative Modelle auf kommunaler Ebene nannte die Professorin die im 7. Altenbericht der Bundesregierung dargelegten und von ihr mitentwickelten Vorschläge für die Bildung von „sorgenden Gemeinschaften“. Es gehe dabei nicht zuletzt darum, die Fundamente unserer Demokratie zu stärken.

Blien: „Grenzregionen müssen sich besser mit ihren Nachbarländern vernetzen“

Um gerade strukturschwache Regionen etwa an der Grenze zu Polen oder Tschechien zu fördern, regte Arbeitsmarktforscher Blien eine stärkere Vernetzung mit diesen Ländern an, zumal diese Länder deutlich höhere Wachstumsraten aufweisen als Deutschland. Ansatzpunkte seien etwa eine stärkere Förderung einschlägiger Sprachkenntnisse oder der Ausbau grenzüberschreitender Verkehrswege.

Eine weitere Option, die auf dem Podium erörtert wurde, um dem Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse näher zu kommen, ist die Verlagerung staatlicher Behörden. So hat die bayerische Staatsregierung beispielsweise das Statistische Landesamt von München nach Fürth verlagert.

Die Auswirkungen auf die Region sind nach Ansicht von Uwe Blien allerdings deutlich geringer als bei Firmenverlagerungen, da hier keine Produktionsverflechtungen mit Unternehmen aus der Region bestehen. Auch Maly hält Behördenverlagerungen nicht für das erste Mittel der Wahl, mag aber deren symbolische Bedeutung durchaus nicht geringschätzen.

Erfolgversprechender scheint eine De-Zentralisierung wissenschaftlicher Einrichtungen zu sein, weil diese auch als Kristallisationskeime für entsprechende Unternehmensansiedlungen dienen können. So lobte SPD-Oberbürgermeister Maly die von der CSU-Staatsregierung Anfang der 1990er-Jahre beschlossene Gründung neuer Fachhochschulen auf dem Lande. Die Gründung kleiner Forschungsinstitute im ländlichen Raum, beispielsweise eines Glasforschungszentrums im Bayerischen Wald, ist für Maly ebenfalls vielfach eine Erfolgsgeschichte.

Klaus-Peter Potthast: „Politik muss nicht nur Fakten berücksichtigen, sondern auch  Befindlichkeiten“

Abschließend stellte Moderator Frank Christian Starke die etwas ketzerische Frage, ob auch die starke Präsenz der AfD insbesondere in einigen ostdeutschen Regionen einen Einfluss darauf habe, wie die Politik Regionalförderung betreibt – ob sie also Regionen mit einem hohen Anteil an AfD-Wählern stärker fördert, um diese Wähler für die etablierten Parteien zurückzugewinnen.

An dieser Frage schieden sich dann doch die Geister in der bis dato eher harmonisch geführten Diskussion. Mit seiner Meinung, dass Politik sich legitimer Weise nicht nur an Fakten, sondern auch an „Gefühlsstrukturen“ orientiert, erntete Klaus-Peter Potthast den Widerspruch von Elke Pahl-Weber. Die Entscheidung über die Verteilung von Fördermitteln sollte stets sachbasiert sein, betonte sie. Andernfalls könnten sich AfD-Politiker sogar damit brüsten, dass der Erhalt höherer regionaler Fördermittel letztlich ihr Verdienst gewesen sei.

Die Nürnberger Gespräche werden von der Bundesagentur für Arbeit, unter Federführung des IAB, und der Stadt Nürnberg ausgerichtet.

Fotos: Andrea Kargus, IAB