26. Oktober 2018 | Podium
Nürnberger Gespräche: Fesseln oder Leitplanken? Wie viel Regulierung braucht der Arbeitsmarkt?
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Dass Gewerkschaften Regulierung per se gut finden, und Arbeitgeber diese per se schlecht, gilt geradezu als Gemeinplatz. Doch schon zu Beginn der Diskussion wurde bei den „Nürnberger Gesprächen“ deutlich: Diese Einschätzung springt zu kurz. Moderator Frank Christian Starke, Wirtschaftsredakteur beim Westdeutschen Rundfunk, hatte seine Podiumsgäste gebeten, jeweils ein Beispiel für zu viel und zu wenig Regulierung zu nennen. Die Antworten fielen durchaus differenziert, zum Teil sogar überraschend aus. Und auch der weitere Diskussionsverlauf war weniger durch ideologische Kontroversen als durch das Bemühen geprägt, konsensfähige Lösungen zu skizzieren.
Petra Reinbold-Knape, Vorstandsmitglied der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), sieht in den „permanenten Nachweispflichten“ von Grundsicherungsempfängern ein Beispiel für zu viel Regulierung. Umgekehrt bräuchte es zum Beispiel zum Schutz von Beschäftigten in der digitalen Arbeitswelt deutlich mehr Regulierung. In welcher Weise dies zu geschehen habe, müsse letztlich zwischen den beteiligten Akteuren ausgehandelt werden.
Clever: „Regulierung ist meistens nur die Rückversicherung derer, die die Regulierung gemacht haben“
Demgegenüber nannte Peter Clever, Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), „verrückte Brandschutzregeln“ als ein Paradebeispiel für staatliche Regulierungswut, die aber auch in ganz vielen anderen Bereichen Probleme schaffe. Regulierung sei meistens nur die Rückversicherung derer, die die Regulierung gemacht haben. Ganz selten seien Regulierungen erdacht worden, um sinnvolle Gestaltung zu ermöglichen.
Zugleich betonte Clever, dass er als Sozialpartner für Ordnung, also durchaus für Regulierung sei. Problematisch sei aber häufig die Art der Regulierung. So sehe er etwa bei der sozialen Absicherung von Solo-Selbstständigen, deren Zahl im Zuge der Digitalisierung deutlich zunehmen könnte, einen klaren Bedarf an verstärkter Regulierung.
Detlef Scheele, Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit (BA), führte als Beispiel für überbordende Regulierung die Umsetzung europäischer Beschäftigungsprogramme an. Ein Großteil der Ressourcen werde für deren bloße Abwicklung vergeudet. Hingegen bräuchte es bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse und im Aufenthaltsrecht mehr Transparenz und Klarheit.
Prof. Joachim Möller, vormaliger Direktor des IAB, monierte die zu starke und kleinteilige Regulierung im Bereich der Grundsicherung. Ähnlich wie Reinbold-Knape sieht auch Möller erhöhten Regulierungsbedarf durch die Digitalisierung. So sei etwa im Bereich der Plattformökonomie vieles noch gänzlich ungeregelt.
Regulierung der Arbeitszeit: Arbeitszeitsouveränität stärken oder (Selbst-)Ausbeutung verhindern?
Zugleich ist aber die Digitalisierung für Peter Clever eines der Argumente dafür, das derzeit geltende Arbeitszeitgesetz zu flexibilisieren. In Zeiten von Homeoffice werde es von den Beschäftigten nicht mehr ernst genommen. „Und jedes Recht, das keiner mehr ernst nimmt“, so fügte er hinzu, „schadet mehr, als es nutzt.“
Als Beispiel nannte Clever die Mutter, die am Nachmittag zwei Stunden früher nach Hause gehen möchte, um ihr Kind aus der Kita abzuholen, und diese zwei Stunden spätabends via Homeoffice nachholen will. Würde sie in diesem Fall bis 23 Uhr arbeiten, könnte sie am nächsten Tag nicht wieder um 9 Uhr arbeiten, da das Gesetz zwingend elf zusammenhängende Stunden an Ruhepausen vorschreibt. Für Clever eine Regelung, die es Beschäftigten schwer macht, Arbeit und Familie miteinander zu vereinbaren.
Reinbold-Knape hielt mit anderen Beispielen dagegen: So bräuchten etwa Schichtarbeiter nach harter Arbeit eine längere, zusammenhängende Erholungspause. Dies sei auch arbeitswissenschaftlich belegt. Nicht zuletzt müssten Menschen vor Selbstausbeutung geschützt werden. Flexibilität bedeute vor allem für Geringverdiener meist nicht mehr Zeitsouveränität, sondern werde häufig als Zwang empfunden, für den Arbeitgeber permanent verfügbar sein zu müssen.
Für Joachim Möller besteht der beste Weg, Zeitsouveränität zu erhöhen und zugleich Ausbeutung zu verhindern, in bereichsspezifischen, sozialpartnerschaftlich ausgehandelten Lösungen – ein Weg, für den sich auch Clever und Reinbold-Knape offen zeigten. Dabei, so betonte Petra Reinbold-Knape, müsse es allerdings zwingend übergeordnete Leitplanken geben. Innerhalb des so gesteckten Rahmens sei jedoch vieles denkbar.
Möller: „Nicht alles, was aus wissenschaftlicher Sicht wünschenswert wäre, ist auch politisch durchsetzbar.“
Reichlich Gesprächsstoff bot auch die Frage nach der richtigen Ausgestaltung des gesetzlichen Mindestlohns. Gegenstand der Kontroverse war dabei weniger der Mindestlohn an sich oder die Tatsache, dass es faktisch nicht die Politik ist, die dessen Höhe festlegt, sondern die in der Mindestlohnkommission vertretenen Sozialpartner.
Während aber Reinbold-Knape die lückenhafte Überwachung des Mindestlohns kritisierte („Es gibt in Deutschland immer noch Ecken, da zahlen die Arbeitgeber fünf Euro pro Stunde.“), monierte Clever die aus seiner Sicht zu weit gehenden Dokumentationspflichten, die etwa für Beschäftigte im Außendienst nicht praktikabel seien. Joachim Möller wiederum würde sich aus ökonomischer Sicht eine stärkere regionale Differenzierung des Mindestlohns wünschen. Manchmal sei das, was aus wissenschaftlicher Sicht wünschenswert wäre, politisch schlicht nicht durchsetzbar.
Scheele: „Ohne sachgrundlose Befristungen hätten wir die Flüchtlingskrise personell nicht bewältigt.“
So wurde auch ein Vorschlag des IAB zur besseren Steuerung von befristeter Beschäftigung von der Politik nicht aufgegriffen. Dieser sah, vereinfacht gesagt, höhere Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung für befristet Beschäftigte vor. Nach Auffassung Möllers wäre dies ein eleganter Weg gewesen, befristete Beschäftigung einzudämmen, ohne die Dispositionsfreiheit der Unternehmen über Gebühr einzuschränken.
Clever warnte davor, befristete Beschäftigung zu diskreditieren. Mit einem Anteil befristet Beschäftigter von gut sieben Prozent in der Privatwirtschaft sei diese kein Massenphänomen. Zudem böte sie etwa Langzeitarbeitslosen ein mögliches Sprungbrett in unbefristete Beschäftigung. Ohnehin seien etwa Kettenbefristungen von mehr als zwei Jahren Dauer verboten.
Deutlich höher ist hingegen der Befristungsanteil im öffentlichen Dienst, was laut BA-Vorstand Scheele auch damit zu tun hat, dass dort viele Projekte nur befristet finanziert sind. Die Rahmenbedingungen müssten daher so ausgestaltet werden, dass sich öffentliche Einrichtungen, die Beschäftigte entfristen, keinen unwägbaren Finanzierungsrisiken aussetzten. Scheele machte aber auch deutlich, dass Entwicklungen wie die Flüchtlingskrise ohne die Möglichkeit sachgrundloser Befristungen gar nicht hätten bewältigt werden können.
Reinbold-Knape betonte die negativen Begleiterscheinungen befristeter Beschäftigungen für die Betroffenen. Sie fänden beispielsweise schwerer eine Wohnung, gründeten seltener eine Familie und investierten weniger in die eigene Weiterbildung. Scharf ging sie mit öffentlichen Arbeitgebern ins Gericht, die beispielsweise Lehrer zu Beginn der Sommerferien entlassen und nach Ferienende wieder einstellen.
Reinbold-Knape: Leitplanken gegen die negativen Auswüchse einer Geiz-ist-geil-Mentalität
In gewohnter Manier wurde die Diskussion auch für Fragen und Anmerkungen aus dem Publikum geöffnet. Arndt Bertelsmann, Geschäftsführer eines mittelständischen Medien- und Logistikunternehmens, bat darum, auch die Rolle der Kunden und Auftraggeber (nicht zuletzt aus dem öffentlichen Dienst) in den Blick zu nehmen. Sie hätten vielfach sehr hohe Erwartungen an die Leistungserbringer und verlangten diesen ein hohes Maß an Flexibilität ab. Damit rannte Bertelsmann bei den Diskutanten offene Türen ein. So forderte Reinbold-Knape auch gesetzliche Leitplanken gegen die negativen Auswüchse einer Geiz-ist-geil-Mentalität auf Seiten der Konsumenten.
Zu Wort meldete sich auch eine Studentin, die sich selbst der „Generation Praktikum“ zurechnet. Sie monierte unter Beifall des Auditoriums, dass Praktika von Arbeitgebern häufig deswegen genutzt würden, um den Mindestlohn zu umgehen. Clever räumte ein, dass es in der Tat Bereiche wie Werbeagenturen, Rechtsanwaltskanzleien oder Architekturbüros gebe, in der Praktikanten tatsächlich häufig ausgebeutet würden. Für das Gros der deutschen Wirtschaft gelte dies aber nicht, das Bild einer ganzen „Generation Praktikum“ sei schlicht falsch.
In seinem kurzen Fazit zur Veranstaltung, das Joachim Möller auf Bitten des Moderators zog, lobte er die insgesamt gute Sozialpartnerschaft in Deutschland, die entscheidend zu einer vernünftigen Regulierung des Arbeitsmarkts beigetragen habe. In den Bereichen, wo die Sozialpartnerschaft schwach entwickelt sei, müsse diese gestärkt werden.
Maly: „Die Gesetzgebung läuft der Lebenswirklichkeit häufig hinterher“
In seinem traditionellen Schlusswort lobte Nürnbergs Oberbürgermeister Dr. Ulrich Maly die konstruktive Diskussion, die sich erfreulicherweise nicht in den Schützengräben früherer Zeiten bewegt habe. „Wir geben manchen mehr Freiheit, wenn wir liberalisieren, aber wir nehmen dabei auch anderen die Freiheit, die sich nicht dagegen wehren können“, brachte Maly das Dilemma von Regulierung und Deregulierung auf den Punkt. Zudem laufe die Gesetzgebung der Lebenswirklichkeit, etwa bei der Digitalisierung, häufig hinterher.
Staatliche und sozialpartnerschaftliche Regulierung, zeigte sich das Stadtoberhaupt überzeugt, bleibt auch und gerade in Zeiten des rapiden technologischen Wandels unverzichtbar.
Die Nürnberger Gespräche werden von der Bundesagentur für Arbeit, unter Federführung des IAB, und der Stadt Nürnberg ausgerichtet.
Alle Fotos: Andrea Kargus, IAB
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Autoren:
- Martin Schludi