17. Februar 2020 | Podium
Nürnberger Gespräche: Markt oder Moral? Brauchen wir eine neue Wirtschaftsethik?
Seien es fragwürdige Machenschaften in der Finanzbranche, seien es Abgasmanipulationen deutscher Automobilhersteller: Das Vertrauen der Menschen in weite Teile unserer Wirtschaft scheint mittlerweile erschüttert. Mit dieser kritischen Zustandsbeschreibung konfrontierte Professor Ulrich Walwei, Vizedirektor des IAB, das Publikum bei den Nürnberger Gesprächen am 10. Februar dieses Jahres. Auch die Politik nahm er keineswegs von seiner Kritik aus: „Man hat den Eindruck, dass es im politischen Raum einen Unterschied macht, wer die Fehler begeht und wer dafür am Ende wie belangt wird.“
Um Unternehmen zu verantwortlichem Handeln zu bewegen, bedürfe es einer geeigneten gesetzlichen Flankierung und eines entschiedenen Durchgreifens bei Regelverstößen, so Ulrich Walwei. Dazu braucht es nach seiner Einschätzung keinen allmächtigen Staat, sondern einen klugen, mutigen und transparenten Staat, der sich nicht von Lobbyarbeit beeinflussen lässt. Doch auch die Verbraucherinnen und Verbraucher müssten sich selbstkritisch fragen, ob ihr konkretes Kaufverhalten ethischen Standards entspricht.
Walwei: „Wir brauchen einen klugen, mutigen und transparenten Staat, der sich nicht von Lobbyarbeit beeinflussen lässt“
Gegen Ende seines Einführungsvortrags richtete Walwei einige persönliche Worte an den scheidenden Nürnberger Oberbürgermeister Dr. Ulrich Maly. Dieser hatte die Nürnberger Gespräche im Jahr 2004 gemeinsam mit dem IAB und der Bundesagentur für Arbeit aus der Taufe gehoben. Walwei pries die „geradezu legendären“ traditionellen Schlussworte des Stadtoberhaupts ebenso wie das „besondere Verhältnis zum IAB“, das Maly schon als Student und Doktorand pflegte.
Walwei erinnerte an Malys Aufforderung an das IAB, seine Unabhängigkeit zu bewahren und auch in Zeiten gefühlter Wahrheiten den harten Fakten treu zu bleiben (sehen Sie hierzu auch das Video „Ein Wissenschaftsspaziergang mit Nürnbergs Oberbürgermeister Dr. Ulrich Maly“). Dieser Aufforderung, versprach Walwei, werde das IAB auch in Zukunft nachkommen. Als Dank überreichte er Maly, der in seiner Freizeit leidenschaftlicher Koch ist, ein Buch, in dem 50 Politikerinnen und Politiker aus dem Deutschen Bundestag ihre persönlichen Rezepte vorstellen.
Lessenich: „Wir brauchen eine neue Wirtschaftsweise“
Bevor Maly sein letztes Schlusswort hielt, stand indes ein anderer Mann im Mittelpunkt der Diskussion, auch wenn er weder auf dem Podium noch im Publikum saß: Siemens-Chef Joe Kaeser. Dieser war jüngst ins Fadenkreuz der öffentlichen Kritik geraten, weil Siemens eine Zug-Signalanlage für ein Kohleprojekt in Australien liefern will – just zu einer Zeit, als verheerende Buschbrände auch dort die Diskussion um einen Ausstieg aus der Kohle befeuern.
Hätte sich Siemens, das nach eigenen Angaben bis zum Jahr 2030 klimaneutral werden will, im konkreten Fall anders entscheiden müssen? Als Moderator Uwe Ritzer, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, diese Frage in die Runde warf, fiel die Kritik an Kaeser überraschend verhalten aus. „Joe Kaeser ist nicht der böse Bub, zu dem er jetzt gemacht wird“, meinte Stephan Lessenich, Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Vielmehr sei er ein Produkt der Verhältnisse, die ihn und uns zu bestimmten Verhaltensweisen veranlassten. Denn das derzeitige Wirtschaftssystem zwinge Unternehmen zur Gewinn- und Wachstumsorientierung – und damit zur Überproduktion. Dieser grundlegende Webfehler des Systems lasse sich nicht mit kapitalistischen Bordmitteln beheben. Für Lessenich liegt die Lösung demnach auch nicht in einer neuen Wirtschaftsethik, sondern in einer neuen Wirtschaftsweise – ein Ziel, dass er sich als Mitbegründer der Kleinpartei MUT auch politisch auf die Fahnen geschrieben hat.
von Vopelius: Die Macht der Verbraucher und der Mangel an Fachkräften verstärken den Druck auf die Unternehmen, ihre Geschäftsmodelle stärker an ethischen Grundsätzen auszurichten
Widerspruch kam von Unternehmer Dirk von Vopelius, dem Präsidenten der Industrie- und Handelskammer (IHK) Nürnberg für Mittelfranken. Von Vopelius möchte das „Leitbild des ehrbaren Kaufmanns“ wieder stärker ins Bewusstsein rücken. Seiner Initiative ist es zu verdanken, dass die IHK-Mitglieder eine Verpflichtungserklärung abgeben können, um öffentlich ein Zeichen zu setzen für die Tugenden, ethischen Grundsätze und die Verantwortung, die mit dem „Ehrbaren Kaufmann“ verbunden sind. Um diese Selbstverpflichtung zu dokumentieren, können diese zudem eine spezielle Urkunde anfordern.
Der Fall Siemens ist für von Vopelius ein Lehrstück dafür, dass auch innerhalb des bestehenden Wirtschaftssystems ein heilsamer Veränderungsdruck greift. Denn die massive Kritik an Siemens sei mit einem enormen Reputationsschaden für den Konzern verbunden. Von Vopelius verwies in diesem Zusammenhang auch auf die wachsende Macht der Verbraucher und den sich verschärfenden Fachkräftemangel. Denn junge Leute interessierten sich heute immer stärker dafür, womit Unternehmen ihr Geld verdienen.
Beckmann: „Unternehmen nicht als Teil des Problems, sondern als Teil der Lösung begreifen“
Sowohl Verständnis als auch Kritik für Kaesers Entscheidung bekundete Professor Markus Beckmann, Inhaber des Lehrstuhls für Corporate Sustainability Management – also unternehmerische Nachhaltigkeit – an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Verständnis, da andernfalls Siemens hohe Vertragsstrafen hätte zahlen müssen. Eine andere Entscheidung hätte dem Klima zudem nicht genutzt, da in diesem Fall ein anderes Unternehmen den Auftrag ausgeführt hätte. Kritik übte Beckmann hingegen daran, dass Siemens überhaupt einen solchen Vertrag eingegangen ist und dadurch seine eigene Nachhaltigkeitsstrategie konterkariert hat.
Auch eine neue Wirtschaftsordnung, wie Lessenich sie fordert, hält Beckmann nicht für zielführend. Allerdings brauche es dringend „globale Regeln für eine globale Wirtschaft“, so der Professor. Viele Produkte könnten nur deswegen so billig hergestellt werden, weil sich in den Preisen nicht die gesellschaftlichen Kosten von unfairer Bezahlung, Tierleid und Umweltverschmutzung widerspiegeln. Mit einem CO2-Preis könne der Staat dazu beitragen, dass Unternehmen ihre Innovationskraft nutzen, um klimafreundlichere Geschäftsmodelle zu entwickeln. In diesem Sinn plädierte Beckmann dafür, Unternehmen nicht als Teil des Problems, sondern als Teil der Lösung zu begreifen.
Trinkwalder: „Es geht nicht um weniger Umsatz, sondern um weniger Ressourcen“
Auch Sina Trinkwalder, Inhaberin der ökosozialen Textilfirma Manomama in Augsburg, kann nachvollziehen, dass Siemens den bereits geschlossenen Vertrag nicht kündigen wollte. Allerdings hätte Kaeser aus ihrer Sicht mit der Erklärung reagieren müssen, künftig keine klimaschädlichen Verträge mehr abzuschließen. Man müsse den Konzernen außerdem Zeit geben, sich anzupassen.
Mit Beckmann wusste sie sich einig, dass Familienunternehmen wie ihres flexibler agieren könnten als etwa Aktiengesellschaften, die sich den mitunter sehr kurzfristigen Renditeerwartungen ihrer Aktionäre ausgesetzt sehen. Trinkwalder plädierte für eine „Postwachstumswirtschaft“ ohne Wegwerfartikel. Dabei gehe es nicht um weniger Umsatz, sondern um weniger Ressourcen – ein Ansatz, den Trinkwalder auch in ihrem eigenen Unternehmen praktiziert: „Auch wir machen mehr Umsatz, aber ohne dass der Ressourcenverbrauch steigt.“
Maly: „Stimmung und Haltung klaffen auseinander“
Auch in seinem letzten Schlusswort für die Nürnberger Gespräche enttäuschte Oberbürgermeister Dr. Ulrich Maly die hochgesteckten Erwartungen des Publikums nicht. „Wer behauptet, dass eine Ökonomie ohne Wachstum nicht funktioniert, hätte früher auch gesagt: Ökonomie ohne Zinsen funktioniert nicht. Jetzt zeigt sich: Es geht doch.“ Es brauche dazu keine neue Wirtschaftsethik, aber neue Mechanismen. Deren Umsetzung setze aber die entsprechenden politischen Mehrheiten voraus. Diese wiederum werden nach Malys Einschätzung dadurch erschwert, dass Stimmung und Haltung der Bevölkerung gerade in ökologischen Fragen vielfach auseinanderklaffen. So bekundeten etwa 80 Prozent der Deutschen in Umfragen ihre Sympathie für Fridays for Future, aber etwa ebenso viele lehnten höhere Parkgebühren in den Innenstädten ab.
Die meisten Menschen, so Maly, seien abstrakt für Klimaschutz, aber empirisch gebe es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Phänomene wie Kreuzfahrtscham, Flugscham oder Avocadoscham zu konkreten Verhaltensänderungen geführt hätten. Daher muss für Maly vor allem die „Spaltung in den Köpfen“ überwunden werden.
Fotos: Wolfram Murr, Photofabrik
Ein Video zur Veranstaltung finden Sie im IAB-Kanal auf YouTube.
Autoren:
- Martin Schludi