13. Mai 2020 | Arbeitsmarktpolitik
Ost- und Westdeutschland nähern sich bei der Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung an
Das deutsche System der Arbeitsbeziehungen wird durch die gesetzlichen Bestimmungen zur Tarifautonomie (zur Verbreitung von Tarifverträgen lesen Sie auch den Beitrag „Tarifbindung geht in Westdeutschland weiter zurück“ von Susanne Kohaut im IAB-Forum) und zur betrieblichen Interessenvertretung durch Betriebsräte getragen. Auf betrieblicher Ebene regelt das Betriebsverfassungsgesetz die institutionalisierte Interessenvertretung der Beschäftigten.
Formal herrscht eine klare funktionale Trennung zwischen der Mitbestimmung auf sektoraler (tarifvertraglicher) und betrieblicher Ebene. In der Praxis jedoch greifen beide Ebenen ineinander und beeinflussen sich wechselseitig. So obliegt den Betriebsräten die Umsetzung und Überwachung geltender Tarifverträge, die von Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern ausgehandelt werden.
Daten zur Verbreitung sowohl von Tarifverträgen als auch von Betriebsräten liefert das IAB-Betriebspanel. Dort werden seit 1993 für Westdeutschland und seit 1996 für Ostdeutschland jährlich Informationen zur Existenz eines Betriebsrats erhoben. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die rund 1,2 Millionen Betriebe der Privatwirtschaft. Insgesamt sind in diesen Betrieben etwa 31 Millionen Personen beschäftigt.
41 Prozent der westdeutschen und 36 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten sind in Betrieben mit Betriebsrat tätig
Die Daten des IAB-Betriebspanels zeigen: Die Verbreitung von Betriebsräten ist heute deutlich geringer als noch Anfang der 2000er Jahre. Zumindest bis etwa Mitte der 2010er Jahre ist eine schleichende Erosion zu beobachten.
Der Anteil der Betriebe mit Betriebsrat (erfasst werden nur Betriebe mit mindestens fünf Beschäftigten, da nur diese zur Wahl eines Betriebsrats berechtigt sind) betrug im Jahr 2000, dem Jahr vor der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes, im Westen wie im Osten noch 12 Prozent und sank bis Mitte der 2010er Jahre mit gewissen Schwankungen auf 9 Prozent. Seitdem verharrt er in etwa auf diesem Niveau (siehe Tabelle 7 in „Daten zur Tarifbindung und betrieblichen Interessenvertretung“).
Die insgesamt niedrigen Anteilswerte werden von der großen Zahl der Kleinbetriebe geprägt, in denen die Existenz eines Betriebsrats eher die Ausnahme ist.
Um sich ein aussagekräftiges Bild der tendenziell schwindenden Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung machen zu können, muss der Blick auf den Anteil der Beschäftigten gerichtet werden, die in einem Betrieb mit betrieblicher Mitbestimmung tätig sind. Auch dieser Anteil sank im Westen seit Mitte der 1990er Jahre von 51 auf heute 41 Prozent, im Osten von 43 auf 36 Prozent (siehe Abbildung 1, gefettete Linien). Die Werte für 2019 liegen im Westen nach einer gewissen Erholung 2018 (42% gegenüber 40% im Jahr 2017) wieder etwas unter denen im Vorjahr. Im Osten zeigt sich hingegen seit 2017 ein leichter Anstieg von 33 auf zuletzt 36 Prozent (2018: 35%).
Damit hat sich die quantitative Basis der betrieblichen Mitbestimmung vor allem im Osten in jüngster Zeit wieder etwas stabilisiert. Ob sich hier eine Trendwende ankündigt, wird die weitere Entwicklung zeigen. Der seit Beginn der Datenerhebung im IAB-Betriebspanel zu beobachtende deutliche und relativ stabile Niveauunterschied zwischen beiden Landesteilen hat sich also merklich verringert. Lag dieser 2014 noch bei über 10 Prozentpunkten (43% zu 33%), so halbierte er sich bis 2019 auf 5 Prozentpunkte (41% zu 36%). Von einer Angleichung zu sprechen, wäre derzeit allerdings verfrüht.
Die Bedeutung von Betriebsräten geht vor allem in Betrieben mittlerer Größe stark zurück
Bei der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 2001 ging es dem Gesetzgeber unter anderem darum, die Erosion der betrieblichen Mitbestimmung zu stoppen und das Wahlrecht zu entbürokratisieren, damit gerade in Kleinbetrieben mehr Betriebsräte gegründet werden.
Diese Hoffnungen haben sich jedoch nicht erfüllt: Der Anteil der Beschäftigten in Betrieben zwischen 5 und 50 Beschäftigten (siehe Abbildung, untere zwei Reihen), die einen Betriebsrat haben, ging seit der Jahrtausendwende in Westdeutschland von 14 auf 9 Prozent, in Ostdeutschland von 14 auf 10 Prozent zurück. Er ist also von einem ohnehin niedrigen Ausgangsniveau nochmals gesunken. Für die Gesamtentwicklung spielt dies aber nur eine untergeordnete Rolle, da hiervon vergleichsweise wenig Beschäftigte betroffen sind.
Die Abdeckung der betrieblichen Mitbestimmung in den Großbetrieben mit über 500 Beschäftigten liegt nach wie vor auf sehr hohem Niveau: Die Anteilswerte bewegen sich dort in den letzten Jahren um die 90 Prozent (siehe Abbildung, obere Reihen). Von einer flächendeckenden Erosion kann in diesem Segment keine Rede sein.
Stärkere Aufmerksamkeit verdient die Entwicklung in Betrieben zwischen 51 und 500 Beschäftigten (siehe Abbildung, mittlere Reihen). Dort fielen die Anteilswerte seit dem Jahr 2000 von 67 auf 52 Prozent im Westen und von 63 auf 52 Prozent im Osten und damit stärker als im Durchschnitt aller Beschäftigten.
Der in den Gesamtwerten zu beobachtende Rückgang von 9 Prozentpunkten in West- und 6 Prozentpunkten in Ostdeutschland ist also vor allem der Entwicklung in diesem Segment geschuldet. Die Existenz eines Betriebsrats ist dort weder eine Selbstverständlichkeit noch eine Ausnahme. Offensichtlich verliert gerade hier die betriebliche Mitbestimmung an Boden.
Ohne Berücksichtigung der Kleinbetriebe ergibt sich ein positiveres Bild
Ein Vergleich der Zahlen für Betriebe ab 51 Beschäftigten (siehe Tabelle 1) erlaubt es, sich ein Bild von der Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung ohne die große Masse der kleinen Betriebe machen zu können. Denn vielfach wird argumentiert, dass der geringe Deckungsgrad im kleinbetrieblichen Segment nicht verwunderlich sei, da dort andere, direkte Formen der Partizipation möglich sind. So wäre die Wahl eines Betriebsrats oder Obmanns nur erforderlich, wenn die dort typischerweise vorzufindenden unmittelbaren, nicht institutionalisierten Austauschbeziehungen zwischen Beschäftigten und Geschäftsleitung nicht funktionieren würden.
Ohne Berücksichtigung der Kleinbetriebe zeigt sich ein deutlich positiveres Bild der betrieblichen Mitbestimmung: 44 Prozent der Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten verfügen über einen Betriebsrat, wobei mit 64 Prozent knapp zwei Drittel der Beschäftigten in diesen Betrieben arbeiten. Allerdings muss im Betrachtungszeitraum auch hier ein deutlich rückläufiger Deckungsgrad konstatiert werden. Seit der Jahrtausendwende ist der Anteil der Beschäftigten, deren Interessen durch einen Betriebsrat vertreten werden, in diesen Betrieben um 12 Prozentpunkte gesunken.
Eine genauere Betrachtung für West- und Ostdeutschland zeigt zudem, dass die insgesamt nach wie vor vorhandenen deutlichen West-Ost-Unterschiede insbesondere auf die geringere Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung in Betrieben mit 101 bis 200 Beschäftigten in Ostdeutschland zurückzuführen sind (siehe Tabelle 7 in „Daten zur Tarifbindung und betrieblichen Interessenvertretung“).
Je nach Branche zeigen sich ausgeprägte Unterschiede
Starke Unterschiede zeigen sich ebenfalls von Branche zu Branche (siehe Tabelle 9 in „Daten zur Tarifbindung und betrieblichen Interessenvertretung“). Die größte quantitative Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung besteht im traditionell stark mitbestimmten Bereich „Energie- und Wasserversorgung/Abfallwirtschaft/Bergbau“, bei den Finanz- und Versicherungsdienstleistungen, im Verarbeitenden Gewerbe und im Bereich „Gesundheitswesen/Erziehung und Unterricht“. Das untere Ende bilden die vorwiegend kleinbetrieblich strukturierten Branchen des „Sonstigen Dienstleitungsbereichs“ (inklusive Gastgewerbe) und der Bauwirtschaft.
Branchenspezifische Entwicklungen lassen sich leider wegen der im Jahr 2009 erfolgten Umstellung auf eine neue Wirtschaftszweigsystematik nur für einen relativ kurzen Zeitraum verfolgen. Klar identifizierbar sind für die vergangenen neun Jahre Rückgänge in den Bereichen „Finanz- und Versicherungsdienstleistungen“, „Verkehr/Lagerei“ und bei den „Sonstigen Dienstleistungen“. Dies gilt auch für den Bereich „Information und Kommunikation“ in Westdeutschland und den Bereich „Gesundheitswesen/Erziehung und Unterricht“ in Ostdeutschland.
Betriebliche und überbetriebliche Ebene greifen ineinander
Auf das enge Ineinandergreifen der beiden formal unabhängigen Institutionen des bundesdeutschen Systems der Interessenvertretung – Tarifautonomie und betriebliche Mitbestimmung – mit ihren wechselseitigen Abhängigkeiten und der daraus resultierenden Fähigkeit zur kooperativen Konfliktverarbeitung wurde in der einschlägigen Literatur, beispielsweise in einem bereits 1991 erschienenen Aufsatz von Rudi Schmidt und Rainer Trinczek, immer wieder hingewiesen. Das Verhältnis von tarifvertraglicher und betrieblicher Regulierung bleibt auch politisch virulent – nicht nur zu Wahlkampfzeiten.
Abschließend soll daher die Relevanz beider Ebenen der Interessenvertretung in der Zusammenschau aufgezeigt werden. Hierbei interessieren namentlich Betriebe, die zwar tarifgebunden sind, aber über keinen Betriebsrat verfügen, und Betriebe, bei denen weder das eine noch das andere zutrifft.
Nur eine Minderheit der Beschäftigten arbeitet in tariflich organisierten Betrieben mit Betriebsrat
Nur eine Minderheit der in der Privatwirtschaft (ab 5 Beschäftigte) tätigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeitet in Betrieben, die zur Kernzone des dualen Systems der Interessenvertretung gehören – in Betrieben also, die sowohl einen Betriebsrat haben als auch einem Branchentarifvertrag angehören. Diese Zone umfasst nur ein knappes Viertel (24%) der Beschäftigten in Westdeutschland und gerade noch ein Siebtel (14%) in Ostdeutschland (siehe Tabelle 2).
Von einer betrieblichen Vertretungslücke – der Betrieb ist an einen Branchentarif gebunden, verfügt aber über keinen Betriebsrat – sind 18 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland und 15 Prozent in Ostdeutschland betroffen. Die besondere Problematik dieser Betriebe ist, dass dort keine Institution existiert, die für die Umsetzung von Regelungen zuständig ist, die durch Tarifverträge explizit auf die betriebliche Ebene delegiert wurden.
Die vermeintlich günstigere Situation in den neuen Bundesländern ist nur der geringeren Reichweite der Tarifbindung in Ostdeutschland geschuldet, die sich in deutlicher ausgeprägten weißen Flecken der Tarif- und Mitbestimmungslandschaft äußert. Denn während in Westdeutschland 40 Prozent der Beschäftigten weder Branchentarif noch Betriebsrat aufweisen, sind es in Ostdeutschland 48 Prozent.
Lücken in der institutionalisierten Interessenvertretung sind im Osten deutlich größer als im Westen
Für Westdeutschland lässt sich feststellen: Die Kernzone des dualen Systems der institutionalisierten Interessenvertretung im Verarbeitenden Gewerbe umfasst gut vier von zehn Beschäftigten (43%) und reicht damit weit über den Durchschnitt der Privatwirtschaft hinaus (siehe Tabelle 2). Insbesondere die Bauwirtschaft mit nur jedem elften und der Dienstleistungsbereich mit gut jedem fünften Beschäftigten fallen demgegenüber deutlich ab.
Im Baugewerbe haben vor allem die betrieblichen Vertretungslücken (59%) einen beträchtlichen Umfang. Der Dienstleistungsbereich tut sich hingegen mit ausgedehnten weißen Flecken (42%) hervor, in denen weder Tarifverträge gelten, noch ein Betriebsrat existiert. Im Verarbeitenden Gewerbe trifft dies dagegen nur auf 27 Prozent der Beschäftigten zu.
In Ostdeutschland fallen die Lücken in der institutionalisierten Interessenvertretung nochmals deutlich größer aus als im Westen. In den neuen Ländern unterscheidet sich das Verarbeitende Gewerbe weit weniger von der restlichen Privatwirtschaft, als dies in den westlichen Bundesländern der Fall ist. Die Kernzone der Interessenvertretung im ostdeutschen Verarbeitenden Gewerbe ist mit 14 Prozent sogar kleiner als im Dienstleistungsbereich und fällt im Vergleich zum Verarbeitenden Gewerbe Westdeutschlands mit 43 Prozent stark ab. Im Dienstleistungsbereich hingegen ist der Abstand zwischen beiden Landesteilen deutlich geringer, was sich alleine schon aus der Tatsache ergibt, dass der Anteil der Beschäftigten mit institutionalisierter Interessenvertretung auch im Westen mit 21 Prozent bereits sehr niedrig ist.
Fazit
In der Gesamtschau der letzten 25 Jahre zeigt sich eine Erosion auf beiden Ebenen der institutionalisierten Interessenvertretung – betriebliche Mitbestimmung und Tarifbindung. Dabei wechseln sich Phasen relativer Stabilität und weiteren Rückgangs immer wieder ab. Für die jüngste Entwicklung ergibt sich ein eher uneinheitliches Bild. Zum einen scheint die Tarifbindung in Westdeutschland weiter zu erodieren, zum anderen könnte sich in Ostdeutschland eine Trendwende abzeichnen. Festzuhalten ist, dass inzwischen nur noch ein kleiner Teil der Beschäftigten in Betrieben der Kernzone des dualen Systems der Interessenvertretungen arbeitet. Zudem ist in den jüngsten Zahlen eine gewisse Annäherung zwischen Ost- und Westdeutschland zu erkennen.
Naheliegend ist die Frage, inwieweit diese Entwicklung strukturellen Veränderungen der Betriebslandschaft geschuldet ist, insbesondere dem wachsenden Dienstleistungsbereich, und damit gleichsam ein Nebenprodukt des Strukturwandels ist. Eine 2016 erschienene Untersuchung, die von Peter Ellguth und Rainer Trinczek durchgeführt wurde, hat allerdings zumindest für die betriebliche Mitbestimmung gezeigt, dass der beobachtbare Rückgang nur zu einem kleinen Teil durch solche Strukturveränderungen erklärbar ist.
Zum Tabellenanhang „Daten zur Tarifbindung und betrieblichen Interessenvertretung“
Literatur
Bellmann, Lutz; Ellguth, Peter (2006): Verbreitung von Betriebsräten und ihr Einfluss auf die betriebliche Weiterbildung. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 226 (5), S. 487–504.
Ellguth, Peter; Kohaut, Susanne; Möller, Iris (2017): Das IAB-Betriebspanel: (Analyse-)Potenzial und Datenzugang. In: S. Liebig, W. Matiaske & S. Rosenbohm (Hrsg.), Handbuch empirische Organisationsforschung, Wiesbaden: Springer Gabler, S. 75-94.
Ellguth, Peter; Trinczek, Rainer (2016): Erosion der betrieblichen Mitbestimmung: Welche Rolle spielt der Strukturwandel? In: WSI-Mitteilungen 69 (3), S. 172–182.
Kohaut, Susanne (2020): Tarifbindung geht in Westdeutschland weiter zurück. In: IAB-Forum, 13. Mai 2020.
Schmidt, Rudi; Trinczek, Rainer (1991): Duales System: Tarifliche und betriebliche Interessenvertretung. In: Müller-Jentsch, W. (Hrsg.): Konfliktpartnerschaft. Akteure und Institutionen der industriellen Beziehungen. München und Mering: S. 167–199.
Ellguth, Peter (2020): Ost- und Westdeutschland nähern sich bei der Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung an, In: IAB-Forum 13. Mai 2020, https://www.iab-forum.de/ost-und-westdeutschland-naehern-sich-bei-der-reichweite-der-betrieblichen-mitbestimmung-an/, Abrufdatum: 19. November 2024
Autoren:
- Peter Ellguth