Zum mittlerweile 15. Mal fand am 8. und 9. Oktober 2018 der Workshop zur Arbeitsmarktpolitik am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) an der Saale statt. Die Veranstaltung, die traditionell gemeinsam mit dem IAB organisiert wird, stand diesmal unter der Überschrift „Regionale Ungleichheit: Gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland im Fokus“.
Ziel des Workshops war es, die vielen Dimensionen der Ungleichheit zu beleuchten und aufzuzeigen, wodurch sie zustande kommen. Dabei wurden gesellschaftliche, regionale, wirtschaftliche und demografische Ungleichheiten sowie Aspekte wie Entlohnung, Vermögen und Zugang zu Erwerbstätigkeit näher betrachtet und im Hinblick auf das Spannungsverhältnis zwischen Ungleichheit und gleichwertigen Lebensverhältnissen aus verschiedenen Blickwinkeln bewertet.
Ursachen regionaler Ungleichheit und Implikationen für die Regionalpolitik
Prof. Dr. Tobias Seidel von der Universität Duisburg-Essen sprach in seiner Keynote über Ursachen regionaler Ungleichheit und Implikationen für die Regionalpolitik. Der Ökonom hob hervor, dass regionale Ungleichheit durch Unterschiede in Produktivität, Attraktivität, sogenannten Amenities, also standortgebundenen Attributen der Lebensqualität wie Klima oder Landschaft, und Friktionen, zum Beispiel Migrationskosten, verursacht werden. So bestimmt zum einen die historisch gegebene geografische Lage, wo Agglomerationen mit Standortvorteilen entstehen. Zum anderen versprechen attraktive Regionen ein höheres Nutzenniveau und ziehen dadurch vermehrt Menschen an. Attraktivität, Amenities und Friktionen können jedoch nicht direkt gemessen werden.
Allein ungleiche Einkommen widersprechen also nicht per se dem Konzept eines räumlichen Gleichgewichts. Ungleiche Löhne und Friktionen können durch Amenities und Attraktivität ausgeglichen werden. Ob gleichwertige Lebensverhältnisse vorliegen, sollte deshalb nicht allein an Einkommen und Beschäftigung festgemacht werden.
Seidel gab zu bedenken, dass viele Ökonomen die Regionalpolitik kritisch sehen, da es durch die Umverteilung der Regionalförderung zu Ineffizienzen kommen kann. Als Beispiel führte er die Zonenrandpolitik an: Sie habe zu steigenden Bodenpreisen, nicht aber zu mehr Beschäftigung geführt, da Produktion verlagert wurde, nicht aber neu entstanden ist. Seidel schlug daher eine stärkere Umverteilung der Einkommen vor.
Wie ungleich ist Deutschland?
An einer Podiumsdiskussion, die von Ralf Geißler vom Mitteldeutschen Rundfunk moderiert wurde, nahmen neben Tobias Seidel auch Prof. Dr. Ulrich Walwei, Vizedirektor und zugleich kommissarischer Leiter des IAB, Dr. Cordelius Ilgmann, Abteilungsleiter für Wirtschaftspolitik, Tourismus und Digitale Gesellschaft im Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft, sowie Kay Senius, Vorsitzender der Geschäftsführung der Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen der Bundesagentur für Arbeit, teil.
Auf die Frage, wo Deutschland am ärmsten ist, nannte Tobias Seidel die Uckermark, aber auch hoch verschuldete Regionen in Nordrhein-Westfalen als Beispiele. Dies zeige, so Seidel, dass es nicht nur Probleme in strukturschwachen ländlichen Räumen, sondern auch in Städten gebe.
In seiner Antwort auf die Frage, warum sich die ostdeutschen Regionen wie Jena, Dresden, Leipzig oder Eisenach so gut entwickelt haben, wies Kay Senius auf die unterschiedlichen Startbedingungen im Osten zur Zeit der Wende hin. So gab es dort bereits Industriekerne wie Jenoptik in Jena und den Automobilstandort Eisenach.
Senius betonte, dass dabei nicht die Regionen vieles richtig oder falsch gemacht hätten, sondern viel von der individuellen Situation der Städte abhänge. Als Beispiele hierfür nannte er die Städte Gera und Suhl, die auf die wirtschaftliche Größe vor der DDR zurückschrumpfen würden. Auf der anderen Seite würden sich Regionen, die bereits in der historischen Vergangenheit prosperierten, auch weiterhin gut entwickeln. Vor allem in Ostdeutschland spiele zudem die demografische Entwicklung eine wichtige Rolle beim Abbau der Arbeitslosigkeit, so Senius.
Zu der Frage, wie ungleich Deutschland ist, stellte Ulrich Walwei fest, dass es im Gegensatz zu den im Workshop vorgestellten Ergebnissen zur Konvergenz des regionalen Bruttoinlandsproduktes pro Kopf durchaus wachsende Ungleichheiten beim Pro-Kopf-Einkommen gebe. Dies gilt vor allem dann, wenn man die Reallöhne vergleicht, also regionale Unterschiede der Kaufkraft berücksichtigt. Für ihn ist Bildung der entscheidende Faktor bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeitsrisiken und Ungleichheiten.
Seidel entgegnete, dass das Auseinanderdriften der Vermögen die Spreizung der Einkommen noch übertreffen würde, und dass man bei Betrachtung der Ungleichheiten auch die Vermögen im Blick haben sollte. Senius bestätigte, dass Ungleichheit nicht nur am Einkommen festzumachen sei, sondern Ungleichheiten im Bildungssystem und in den Lebensverhältnissen bestünden. Im Osten gebe es je nach Personengruppe eine „empfundene Ungerechtigkeit“ im Hinblick auf noch nicht angepasste Löhne, Renten, Bildungsstruktur und kommunale Finanzstruktur. Ilgmann ergänzte, dass ein Verlust an gesellschaftlichem Prestige, verursacht durch Strukturbrüche der Vergangenheit, von den Betroffenen vielfach als Ungerechtigkeit empfunden würde.
Fest steht, dass Ungleichheit unzufrieden macht. Offen bleibt jedoch die Frage, wie Ungleichheit und Zufriedenheit korrelieren. Ulrich Walwei fragte in diesem Zusammenhang, warum es gerade Unzufriedenheit in Boom-Regionen wie in Dresden gebe, was rational nicht nachvollziehbar sei. Als mögliche Erklärungsansätze sind seiner Ansicht nach sowohl die historische Entwicklung als auch Offenheit für Zuwanderung zu berücksichtigen.
Tobias Seidel wies in diesem Zusammenhang auch auf die starken Agglomerationskräfte hin, wodurch prosperierende Regionen viele Personen anziehen. Und Cordelius Ilgmann zog eine Parallele zu den 1968er Jahren, die ebenfalls politisch unruhig waren, obwohl es Deutschland gut ging. Er empfahl der Politik, ehrlich zu sein, dass sich das Leben im ländlichen Raum verändern werde, und Wandel zu gestalten statt zu verhindern.
Auswirkungen des Mindestlohns
Der zweite Schwerpunkt der Podiumsdiskussion lag auf den Auswirkungen des Mindestlohns. Ulrich Walwei hob hervor, dass der Mindestlohn denjenigen Regionen am meisten gebracht hat, die am stärksten davon betroffen waren. Die Lohnverteilung wurde somit nach unten abgeschnitten, wobei der Verteilungseffekt des Mindestlohns laut Walwei nicht überbewertet werden darf. Zudem sei auch die sekundäre Einkommensverteilung, also staatliche Maßnahmen der Umverteilung, zu diskutieren.
Tobias Seidel hob hervor, dass der Mindestlohn nicht zu negativen Beschäftigungseffekten geführt hat, und schlug vor, regionale Mindestlöhne wie in den USA einzuführen. Auf seine Frage, wie viele Personen von ihren Jobs trotz Einführung des Mindestlohns nicht leben können, nannte Kay Senius für Sachsen und Thüringen eine Zahl von 8.000 Personen. Seiner Ansicht nach ist es wichtig, die Ungleichheit von Vermögen zu verringern, zum Beispiel durch eine stärkere Besteuerung. Senius räumte jedoch gleichzeitig ein, dass zum Beispiel die Erhöhung der Erbschaftssteuer ein geeignetes Mittel sei, aber gleichzeitig ein so emotional aufgeladenes Thema, dass es dafür vermutlich keine politischen Mehrheiten geben wird.
Vier Sessions befassten sich mit verschiedenen Aspekten
In insgesamt vier Sessions befassten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit der Bestimmung des Ausmaßes und der Entwicklung regionaler Ungleichheit, mit den Ursachen der Entstehung regionaler Ungleichheit, mit Ausgleichsmechanismen des Marktes wie Beschäftigtenmobilität, mit Auswirkungen regionaler Ungleichheit auf unterschiedlichen Ebenen, etwa auf Erwerbsverläufe, sowie mit der Wirkung und Effizienz von regional- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen.
Die Beiträge machten deutlich, dass es verschiedene Konzepte zur Messung regionaler Ungleichheit gibt, die zu recht unterschiedlichen Ergebnissen führen. Es stellt sich daher die Frage, ob es für die Messung der regionalen Ungleichheit und deren Bewertung überhaupt „ein richtiges Maß“ gibt und inwieweit regionale Preisunterschiede mitberücksichtigt werden sollten.
Als ein weiteres Ergebnis zeigte sich, dass die regionalen Disparitäten in Deutschland im Gegensatz zu der politischen Debatte über dieses Thema nicht zwingend zugenommen haben. Regionale Ungleichheiten sind häufig historisch und zufällig bedingt und werden durch eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren beeinflusst. Somit sollte die Politik regionale Ungleichheiten nur bei Marktversagen korrigieren, da sie die Kräfte des Strukturwandels nicht aufhalten kann. Statt des Einkommens sollten Disparitäten im Vermögen künftig stärker in den Fokus rücken.
Die Effekte der Regionalpolitik lassen sich mit Wirkungsanalysen für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW), die „Aktive Arbeitsmarktpolitik“ (AAMP) und die Steuerpolitik untersuchen.
Als Resümee des Workshops lässt sich festhalten, dass eine Versachlichung der Debatte über regionale Ungleichgewichte angeraten ist.
Schwengler, Barbara (2018): Regionale Ungleichheit hat viele Facetten, In: IAB-Forum 30. November 2018, https://www.iab-forum.de/regionale-ungleichheit-hat-viele-facetten/, Abrufdatum: 17. November 2024
Autoren:
- Barbara Schwengler