10. Dezember 2019 | Podium
Sozialpartnerschaft und soziale Sicherung stehen unter Druck
Für Karl Marx stand fest: Die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit stehen in einem natürlichen Widerspruch zueinander. Dass dennoch eine Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern möglich ist, zeigte indes schon das Stinnes-Legien-Abkommen aus dem Jahr 1918.
Heute findet die sozialpartnerschaftliche Kooperation in Deutschland im Wesentlichen auf drei Ebenen statt. Zum einen handeln die Sozialpartner Löhne und Arbeitsbedingungen aus und halten diese in Tarifverträgen fest. Zum anderen kooperieren Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf Firmenebene. Über Aufsichts- und vor allem Betriebsräte ist die Arbeitnehmerseite an Entscheidungen in Unternehmen beteiligt. Sie wird aber zugleich auch in die Pflicht genommen, zum Wohlergehen und Erfolg des Unternehmens beizutragen. Schließlich kooperieren beide Seiten im Rahmen der Selbstverwaltung in den Systemen der Sozialversicherung.
Doch wie ist es heute um die Sozialpartnerschaft in Deutschland bestellt? Und was sind die zentralen Herausforderungen, denen sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gegenübersehen, etwa mit Blick auf neue Beschäftigungsformen, die im Zuge der Digitalisierung an Bedeutung gewinnen? Diesen Fragen widmete sich die diesjährige Fachtagung „Wissenschaft trifft Praxis“ am 22. und 23. Oktober in Nürnberg. Die Veranstaltungsreihe wird vom IAB gemeinsam mit der Zentrale der Bundesagentur für Arbeit ausgerichtet.
Fitzenberger: „Gerade im tarifgebundenen Bereich sind die Löhne stark auseinandergegangen“
In seinem Einführungsvortrag zeigte IAB-Direktor Professor Bernd Fitzenberger einige Probleme auf, denen sich die Sozialpartner heute, gut 100 Jahre nach dem Stinnes-Legien-Abkommen, gegenübersehen. So verzeichnen Gewerkschaften wie Arbeitgeberverbände seit den 1990er Jahren erhebliche Mitgliederverluste. Auch die Tarifbindung schwindet. Zwischen 1996 und 2018 ist der Anteil der Beschäftigten, für die ein Flächentarifvertrag gilt, laut Fitzenberger um etwa ein Drittel gesunken. Die Zahl der Beschäftigten, die in Betrieben mit Betriebsrat arbeiteten, ging in diesem Zeitraum ebenfalls leicht zurück. „Die mitbestimmungsfreie Zone, in der weder ein Tarifvertrag gilt, noch ein Betriebsrat existiert, wächst“, resümierte der IAB-Direktor.
Besondere Aufmerksamkeit widmete Fitzenberger der Frage, wie sich die sinkende Tarifbindung volkswirtschaftlich auswirkt. Die in der Wissenschaft breit vertretene These, dass eine sinkende Tarifbindung zu niedrigeren Löhnen führe, konnte er nicht bestätigen. Zwar zeigten viele wissenschaftliche Untersuchungen, dass die Lohnungleichheit vor allem in den 2000er Jahren zugenommen hat. Laut einer von Fitzenberger mitverfassten Studie aus dem Jahr 2014 sei der Schlüssel zum Verständnis des Anstiegs der Lohnungleichheit aber vor allem auf Firmenebene und bei den Beschäftigten selbst zu finden.
Zum einen wachsen die Unterschiede zwischen Firmen, zum anderen hätten sich die Arbeitnehmereigenschaften in Richtung einer größeren Lohnungleichheit entwickelt, erläuterte der Ökonom: „Die Spreizung der Lohnstruktur ist eben nicht das Ergebnis einer rückläufigen Tarifbindung, denn die Löhne gehen gerade im tarifgebundenen Bereich auseinander.“ Demgegenüber seien die Löhne im nicht tarifgebundenen Bereich – zumindest für den von ihm untersuchten Zeitraum von 1995 bis 2007 – weit weniger stark auseinandergedriftet.
Als aktuelle Herausforderung für Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sieht Fitzenberger unter anderem die Aufgabe, die zunehmend heterogenen Interessen ihrer Mitglieder aufzunehmen. In diesem Zusammenhang warf er auch die Frage auf, ob die einheitlichen Regelungen, wie sie in Tarifverträgen üblich seien, noch zeitgemäß sind. Das Entstehen von Sparten- und Berufsgewerkschaften sowie die Tatsache, dass sich viele Arbeitgeber im Rahmen einer sogenannten OT-Mitgliedschaft nur mehr an Tarifverträgen orientieren, diesen aber nicht beitreten, machten eine einheitliche Vertretung auf beiden Seiten und verbindliche Regelungen zunehmend schwierig.
Eine weitere Herausforderung für die Sozialpartner sieht der IAB-Direktor beispielsweise darin, analoge Arbeitsbeziehungen in die digitale Welt zu übertragen. „Wie lässt sich beispielsweise ein Streik organisieren, wenn die meisten Beschäftigten Home-Office machen?“, machte der IAB-Direktor an einem konkreten Beispiel deutlich.
Queisser: Digitalisierung und soziale Absicherung – aktuelle Herausforderungen in den OECD-Ländern
Mit neuen Herausforderungen durch die Digitalisierung beschäftigte sich auch Dr. Monika Queisser, Leiterin der Abteilung Sozialpolitik bei der internationalen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), in ihrer Keynote. Dabei ging sie vor allem auf das Problem mangelnder sozialer Absicherung von Selbstständigen ein, die ihre Arbeit über digitale Plattformen anbieten.
Diese sogenannten Gig-Worker, Crowdworker oder auch Freelancer erbrächten bestimmte Arbeiten, etwa eine Programmierleistung, häufig nur gegen eine sehr geringe Entlohnung, so Queisser. Damit dränge sich zunehmend die Frage nach einer angemessenen sozialen Absicherung dieser speziellen Gruppe von Selbstständigen auf. Denn viele Selbstständige sind nur unzureichend sozial abgesichert, wie Queisser anhand eines OECD-Ländervergleichs aufzeigte.
Demnach gibt es in 11 von 28 untersuchten OECD-Ländern überhaupt keinen Zugang zur Arbeitslosenversicherung für Selbstständige. Außerdem haben Selbstständige in nur 14 von 32 untersuchten Ländern einen ähnlichen Anspruch auf Krankengeld oder eine Absicherung bei Arbeitsunfällen und Invalidität wie Unselbstständige.
Auch in Deutschland weist die Absicherung von Selbstständigen bei Krankheit oder Invalidität einige Lücken auf. „Eine mangelhafte Absicherung in diesem Bereich ist um so problematischer, als ein längerfristiger Einkommensausfall bei Selbstständigen in der Regel eine finanzielle Katastrophe bedeutet“, warnte Queisser.
Die Eingliederung von Selbstständigen in die Altersrente sei hingegen in vielen Ländern gelungen. Nur in Deutschland geschehe dies auf freiwilliger Basis, wobei es hierzulande die berufsständischen Versorgungswerke gebe, in der nach Schätzung der deutschen Rentenversicherung allerdings nur rund 30 Prozent der Selbstständigen versichert sind, so Queisser.
Anschließend wies sie auf drei Aspekte hin, die die Eingliederung von Selbstständigen in ein beitragsbezogenes System so schwierig machen: Zum einen stellt sich die Frage nach einem angemessenen Beitragssatz: Wer soll bei Selbstständigen den „Arbeitgeberanteil“ bezahlen? Außerdem hätten Selbstständige häufig ein stark schwankendes Einkommen, was ein geregeltes Abführen von Beiträgen erschwere. Gerade im Falle einer Absicherung gegen Arbeitslosigkeit ergebe sich zudem ein Moral-hazard-Problem, denn unfreiwillige Arbeitslosigkeit und Arbeitsuche ließen sich so von institutioneller Seite nur schwer feststellen oder überprüfen.
In sieben Länderstudien hat die OECD Modelle untersucht, durch die Selbstständige sozial abgesichert werden: vom Modell einer freiwilligen Versicherung mit teilweise staatlicher Unterstützung über einen universellen Sozialschutz, bei dem Leistungen und Arbeitsverhältnis entkoppelt sind, bis hin zu individuellen Versichertenkonten gibt es verschiedene Vorschläge, die allerdings jeweils an unterschiedlichen Stellen an Grenzen stießen und sich deshalb in der Praxis teilweise nicht bewährt hätten.
Ein Videocast des Vortrags finden Sie hier:
https://youtu.be/pilbWO5iR1c
Weber: Modell der „Digitalen Sozialen Sicherung“
Mit der Frage, wie die soziale Absicherung von Plattformarbeitern organisiert werden könne, setzte sich auch Professor Enzo Weber auseinander, der am IAB den Forschungsbereich „Gesamtwirtschaftliche Entwicklung und Prognosen“ leitet. Zu diesem Zweck präsentierte er ein von ihm entwickeltes Modell der „Digitalen Sozialen Sicherung“ (DSS).
Plattformen sind für Weber letztlich nichts anderes als Arbeitsmärkte, bei denen Angebot und Nachfrage digital organisiert werden. Die Besonderheit bestehe darin, dass zwischen Kunde und Anbieter eine Vermittlungsplattform zwischengeschaltet ist. Weber schlägt deshalb vor, Beiträge zur Sozialversicherung direkt von den Plattformen abführen zu lassen: Über ein automatisches digitales Quellenabzugsverfahren würde bei jedem Geldtransfer von Kunde zu Auftragnehmer ein bestimmter Prozentsatz auf ein DSS-Konto überführt. Vom diesem DSS-Konto könnten dann die gesammelten Beiträge an die nationalen Sozialversicherungssysteme übermittelt werden, die diese wiederum in Leistungen, beispielsweise Rentenpunkte, übersetzen könnten.
Der Vorteil: Bei der Übersetzung in Sozialversicherungsleistungen können die jeweiligen nationalen Regelungen Anwendung finden. Das erhöhe laut Weber die Chance, dass die einzelnen Länder sich auf ein solches Modell einlassen. Selbst ein „Arbeitgeberanteil“ könnte auf diese Weise erhoben werden. Dafür müsste der Auftraggeber einen entsprechend höheren Anteil bezahlen.
Die Plattformen böten die Voraussetzungen für ein digitales Abzugsverfahren, denn schließlich deponieren die meisten Plattformen Geldleistungen des Kunden zunächst, bevor sie sie an den Crowdworker auszahlen. Bevor diese Geldleistung ausgezahlt werde, könne der digitale Mechanismus greifen und ein entsprechender automatischer Abzug erfolgen, so Weber.
Eine reine Informationsvermittlung der Plattformen an die nationalen Sozialversicherungsträger anstelle eines automatischen digitalen Abzugs hält Weber hingegen nicht für sinnvoll. Die Crowdworker müssten in diesem Fall jeden Beitrag einzeln an die Sozialversicherung überweisen. Dies berge die große Gefahr von Beitragsrückständen, vor allem auch deswegen, weil auf digitalen Plattformen häufig Kleinstjobs vermittelt und bezahlt würden. Die nationalen Sozialversicherungsträger müssten dann jeden Beitrag einzeln eintreiben, was einen erheblichen Aufwand zur Folge hätte.
„Die Plattform kann dieses Verfahren durchsetzen, dazu braucht es aber auch den politischen Willen“, betonte der Ökonom. Letztendlich müsste ein gewichtiger „First Mover“ dazu gebracht werden, dieses Verfahren umzusetzen. Dafür sei eine entsprechende politische Verhandlungsmacht nötig wie sie beispielsweise die Europäische Union (EU) hat. „Die EU könnte Standards schaffen, denen andere Ländern dann auch beitreten könnten“, sagte der IAB-Forscher (eine ausführliche Erläuterung des Modells der Digitalen Sozialen Sicherung finden Sie in seinem Beitrag „Digitale soziale Sicherung – ein Schritt in die Zukunft“ für das IAB-Forum).
Ein Videocast des Vortrags finden Sie hier:
https://youtu.be/EqTRFh2YpYA
Schnabel: Sozialpartnerschaft und industrielle Beziehungen: Herausforderungen für das deutsche Modell
„Das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen gleicht immer mehr einem Schweizer Käse – von außen solide, aber innen viele Löcher“, so beschreibt Professor Claus Schnabel, Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), den aktuellen Zustand des deutschen Modells industrieller Beziehungen. In seinem Vortrag zeichnete Schnabel die verschiedenen Erosionsprozesse nach, von denen dieses deutsche Modell aktuell betroffen ist.
Die Tariflandschaft zeige immer mehr „weiße Flecken“, also Bereiche, in denen keine Tarifbindung und keine betriebliche Mitbestimmung existiert. So waren im Jahr 2015 über 60 Prozent der Betriebe in Deutschland weder an einen Tarifvertrag gebunden noch hatten sie einen Betriebsrat.
Von diesen „weißen Flecken“ sind vor allem Beschäftigte in Ostdeutschland, in Kleinbetrieben und im Dienstleistungssektor betroffen: 80 Prozent der ost- und 68 Prozent der westdeutschen Beschäftigten in Kleinbetrieben im Dienstleistungssektor haben weder Tarifverträge noch Betriebsräte.
Im öffentlichen Dienst hingegen sind Betriebsräte und die Bindung an Tarifverträge laut Schnabel noch die Norm, ebenso wie in Großbetrieben mit über 500 Beschäftigten – und zwar sowohl im Produzierenden Gewerbe als auch im Dienstleistungssektor.
In vielen Unternehmen existierten mittlerweile informelle Ersatzlösungen wie eine bloße „Orientierung“ an Tarifverträgen sowie eine Mitarbeiterrepräsentation durch Belegschaftssprecher oder Runde Tische anstelle von Betriebsräten. Doch dadurch reduzieren sich die „weißen Flecken“ in der Tarif- und Mitbestimmungslandschaft nach Schnabels Einschätzung nur wenig: Rund 30 Prozent der Betriebe im privaten Sektor weisen weder eine Tarifbindung oder -orientierung auf noch haben sie einen Betriebsrat oder andere Formen der Mitbestimmung – Tendenz steigend.
Schnabel glaubt daher, dass sich das traditionelle deutsche Modell zunehmend auf bestimmte Bereiche beschränkt. „Das deutsche Modell gibt es nicht mehr“, schlussfolgert er. Stattdessen gebe es extreme Unterschiede zwischen verschiedenen Branchen und Betriebstypen. Die Faktoren, die letztendlich zur Erosion des deutschen Modells geführt haben, seien vielfältig. „Die eine Erklärung gibt es wahrscheinlich nicht“, glaubt Schnabel.
Als einen Erklärungsfaktor nannte Schnabel den Strukturwandel weg vom überschaubaren Industrie-, hin zum stark ausdifferenzierten Dienstleistungs- und Wissenssektor mit vielen Kleinbetrieben. Dadurch würden einheitliche Regelungen, die für alle gelten, erschwert. Globalisierung und technischer Wandel könnten Firmen zudem dazu veranlasst haben, aus der rigiden Regulierung durch Tarifverträge und Betriebsräte auszusteigen, um mehr Flexibilität zu gewinnen.
Auch die abnehmende Mitgliederstärke und die sinkende regulatorische Kraft dürften sich aus Schnabels Sicht wechselseitig beeinflusst und letztendlich zum Bedeutungsverlust von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden beigetragen haben. Kurzum: Das deutsche Modell könnte sich institutionell erschöpft haben, weil es nicht mehr in die veränderten Rahmenbedingungen passe.
Ähnlich wie IAB-Direktor Bernd Fitzenberger ist auch Claus Schnabel der Ansicht, dass es einer differenzierteren Tarifpolitik bedarf, um besser auf die unterschiedlichen Interessen der Mitglieder einzugehen. Außerdem stelle sich Frage, ob auch der Staat mehr tun muss, um das System der Sozialpartnerschaft zu stabilisieren.
Ein Videocast des Vortrags finden Sie hier:
https://youtu.be/UeIxi9qGjXc
Workshop I: Veränderung der Sozialpartnerschaft
Bei allen Differenzen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden gilt die Geschichte der Sozialpartnerschaft in Deutschland unterm Strich als Erfolgsgeschichte. Darin waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des von IAB-Forscher Dr. Jens Stegmeier moderierten Workshops zur Veränderung der Sozialpartnerschaft mehrheitlich einig. Allerdings kamen auch Kritikpunkte und Zukunftssorgen zur Sprache.
Bellmann: „Gesetzliche Regelungen und Vereinbarungen der Sozialpartner greifen ineinander“
In seinem Vortrag ging Professor Lutz Bellmann, Leiter des Forschungsbereichs „Betriebe und Beschäftigung“ am IAB und Inhaber eines Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Arbeitsökonomie an der FAU, zunächst auf das Verhältnis von Branchen- und Firmentarifverträgen ein.
Die rückläufige Bindung an Branchentarifverträge wurde bisher nicht durch einen höheren Anteil von Firmentarifverträgen ausgeglichen, wie Bellmann betonte. Er unterstrich zudem die Bedeutung der Beziehungen zwischen Staat und Sozialpartnern: So greifen gesetzliche Regelungen und Vereinbarungen der Sozialpartner etwa bei der Kurzarbeit, der Gestaltung der Arbeitszeit und der betrieblichen Weiterbildung ineinander – Themen, bei denen auch die Betriebsräte eine große Rolle spielen.
Ein weiteres Ergebnis seiner Analysen: Betriebe mit Betriebsrat und solche, die an Branchen- oder Firmentarifverträge gebunden waren oder sich zumindest an diesen orientiert haben, bezahlen im Schnitt überdurchschnittlich. Sie waren daher von der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns seltener betroffen als andere Betriebe.
Allerdings ist die Beschäftigung von Zeitarbeitnehmern in Betrieben mit Branchentarifvertrag überdurchschnittlich hoch, während für Betriebe mit Betriebsrat das Gegenteil gilt. In der Diskussion wurde angeregt, das Verhältnis der Festlegung gesetzlicher Mindestlöhne und qualitativer Tarifpolitik auch für den Zeitraum nach 2015 zu untersuchen.
Schneider: „Tarifliche Entgelt- und Arbeitszeitreglungen müssen auf den Prüfstand“
Helena Schneider, wissenschaftliche Mitarbeiterin am arbeitgebernahen Institut für Wirtschaftsforschung (IW) in Köln, beleuchtete in ihrem Vortrag die Ursachen für den Rückgang der Tarifbindung in der Metall- und Elektroindustrie. Dabei präsentierte sie Befunde aus einer Online-Befragung von Unternehmen dieser Branche, welche das IW im Jahr 2017 durchgeführt hatte. Danach wurde Tradition mit 88 Prozent der Fälle am häufigsten als Grund für eine Mitgliedschaft im Flächentarifvertrag angegeben. Demgegenüber spielt Tradition bei Haustarifverträgen mit 35 Prozent der Fälle nur eine untergeordnete Rolle.
Insgesamt sind große Betriebe häufiger im Flächentarif als kleinere und weisen diesbezüglich auch die höheren Zufriedenheitswerte auf. Allerdings ist nur etwa ein Drittel der Unternehmen im Flächentarifvertrag mit der Höhe der Entgelte für einfache Tätigkeiten und dem tariflichen Arbeitszeitvolumen zufrieden. Tarifliche Entgelt- und Arbeitszeitreglungen müssten daher laut Schneider auf den Prüfstand gestellt werden.
Bei den Unternehmen mit Haustarifverträgen ist die Zufriedenheit bei den Entgeltregelungen (49 %) und den Arbeitszeitregelungen (64 %) wesentlich größer. Lediglich bei den Regelungen zu den Privilegien für ältere Beschäftigte hängt der Anteil der zufriedenen Unternehmen nicht davon ab, ob diese einen Flächentarifvertrag (35 %) oder einen Firmentarifvertrag (36 %) haben.
Die Wahrscheinlichkeit, aus dem Tarifvertrag auszuscheiden, ist bei kleineren Unternehmen wesentlich höher. Als häufigste Austrittsgründe werden zu hohe und unflexible Tariferhöhungen sowie die schlechte Ertragslage genannt. In der Diskussion wurde auf den Widerspruch eingegangen, dass Unternehmen einerseits an Regelungen interessiert sind, die ihnen die notwendige Flexibilität geben, sich andererseits häufig weniger komplexe Regelungen wünschen.
Schulten: Das Ausmaß der Tarifbindung schwankt im internationalen Vergleich sehr stark
Professor Thorsten Schulten, Referent für Arbeits- und Tarifpolitik in Europa am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung und Honorarprofessor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, diskutierte in seinem Vortrag unterschiedliche Wege zur Stärkung der Tarifbindung. Laut Eurobarometer würden zwar 77 Prozent der Deutschen die Gewerkschaften positiv bewerten, zugleich sinke aber der gewerkschaftliche Organisationsgrad. Auch seien mehr als der Hälfte der Mitglieder von Gesamtmetall sogenannte OT-Mitglieder, also nicht an Tarifverträge gebunden.
Dabei zeigen Studien der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zur Tarifbindung im internationalen Vergleich ein sehr differenziertes Bild. Denn diese liegt zwischen 7 Prozent in Litauen und fast 100 Prozent in Frankreich. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad scheint dafür als Erklärungsfaktor weniger bedeutsam als die politische Unterstützung durch eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung, eine gewerkschaftliche Arbeitslosenversicherung und Arbeitgeberkammern.
Schulten setzte sich zudem kritisch mit Vorschlägen der Arbeitgeberverbände auseinander, die auf eine Flexibilisierung des Tarifvertragssystems hinauslaufen und die OT-Mitgliedschaft als Vorbild sehen. Dem Versuch der Gewerkschaften, die Tarifbindung dadurch zu erhöhen, dass die örtlichen Gewerkschaftsorganisationen systematisch nicht tarifgebundene Betriebe erschließen und qua „Häuserkampf“ in einen Tarifvertrag zwingen, sind nach Ansicht von Schulten schon deswegen enge Grenzen gesetzt, weil diese Strategie sehr ressourcen- und zeitintensiv ist.
Hingegen habe der Staat durchaus effektive Möglichkeiten die Tarifbindung zu stärken – etwa durch mehr Allgemeinverbindlichkeitserklärungen und die Privilegierung tarifgebundener Unternehmen zum Beispiel bei der öffentlichen Auftragsvergabe. Insgesamt, dies wurde auch in der Diskussion deutlich, erscheinen die Beziehungen zwischen Staat und Sozialpartnern wesentlich komplexer, als in der deutschen Debatte, die stark von der Idee der Tarifautonomie geprägt ist, vielfach unterstellt wird.
Workshop II: Soziale Absicherung Selbstständiger
In einem parallel stattfindenden Workshop, der von IAB-Forscher Dr. Michael Oberfichtner moderiert wurde, standen Probleme bei der sozialen Absicherung von Selbstständigen im Mittelpunkt.
Brenke: Maximal 15 Prozent der Selbstständigen sind im Alter nicht ausreichend abgesichert
Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, wies in seinem Vortrag darauf hin, dass einer Befragung zufolge immerhin etwa 85 Prozent der Selbstständigen über eine Renten- oder Kapitallebensversicherung oder ein Vermögen von mindestens 250.000 Euro verfügen. Bei Selbstständigen jedoch, die über keine Berufsausbildung verfügen, ist der Anteil derjenigen, die über keine ausreichende Altersvorsorge bzw. kein ausreichendes Vermögen verfügen, deutlich höher.
Insgesamt taxiert Brenke die Obergrenze der im Alter nicht ausreichend abgesicherten Selbstständigen auf maximal 15 Prozent, da in dieser Rechnung zum Beispiel keine früheren Ansprüche aus Rentenversicherungen oder gegen die Familie berücksichtigt würden.
Lutz: Selbstständige brauchen mehr Rechtssicherheit beim Thema Scheinselbstständigkeit
Dr. Andreas Lutz, Vorstandsvorsitzender des Verbandes der Gründer und Selbstständigen Deutschland (VGSD), griff in seinem Vortrag das Thema Scheinselbstständigkeit auf. Hier sei insbesondere die bestehende Rechtsunsicherheit ein wesentliches Problem. Jedes siebte oder achte Unternehmen verbiete daher beispielsweise den Einsatz von Freelancern, wie Lutz mit Verweis auf eine Studie des Instituts für Management und Innovation der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen anmerkte.
Selbstständige verlören durch mangelnde Rechtssicherheit auch Aufträge, die dann teils ins Ausland vergeben würden. Dies könne sogar dazu führen, dass Selbstständige darüber nachdenken, Deutschland den Rücken zu kehren. Lutz forderte daher eine deutlichere Abgrenzung von Scheinselbstständigkeit, um auf diesem Gebiet mehr Rechtssicherheit zu schaffen.
Mirschel: Auftraggeber sollen sich an Sozialkosten für Selbstständige beteiligen
Veronika Mirschel, Leiterin des Referats Selbstständigkeit bei der vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di., erläuterte in ihrem Vortrag, warum Selbstständige mitunter nur unzureichend sozial abgesichert sind. Als ein wesentliches Problem in der Krankenversicherung identifizierte sie das für Selbstständige zugrunde gelegte Mindesteinkommen. Hier sei stattdessen eine ausschließliche Beitragsberechnung nach dem tatsächlichen Einkommen wünschenswert. Zudem monierte sie fehlende Familienleistungen für Selbstständige in der Krankenversicherung (zum Beispiel Mutterschutzgeld, Pflegeurlaub).
Bei der Altersvorsorge erweist sich nach Mirschels Einschätzung insbesondere die Übertragbarkeit von Leistungsansprüchen als Problem, wenn Personen sowohl als Selbstständige als auch als Angestellte tätig waren. Mit Blick auf die Arbeitslosenversicherung kritisierte Mirschel, dass der Bezug von Arbeitslosengeld bei Selbstständigen – anders als bei abhängig Beschäftigten – maximal nur zweimal möglich ist. Sie schlug außerdem vor, auch die Auftraggeber an der Finanzierung der sozialen Sicherung von Selbstständigen zu beteiligen und eine Versicherung für alle Erwerbstätigen einzuführen.
In der anschließenden Diskussion bestand Konsens, dass bisher zu wenig belastbare Informationen über die Vorsorgesituation bei Selbstständigen vorliegen, auch im Hinblick auf die Altersvorsorge. Einig war man sich zudem darin, dass die Rechtsunsicherheit für viele Selbstständige ein Problem ist.
Kontrovers diskutiert wurde die Frage, wie die Rechtssicherheit verbessert werden kann, etwa im Hinblick auf die Abgrenzung von Selbstständigkeit und Scheinselbstständigkeit. So sieht Andreas Lutz die Gefahr, dass Selbstständige mit hohen Einkommen zu Scheinselbstständigen erklärt würden, während die eigentlich Schutzbedürftigen weiterhin als selbstständig eingestuft würden.
Podiumsdiskussion
In der abschließenden Podiumsdiskussion, die von Uwe Ritzer, Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, moderiert wurde, lobte IAB-Vizedirektor Professor Ulrich Walwei die deutsche Sozialpartnerschaft als positiven Treiber für Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Wirtschaftlicher Wandel und Krisenprozesse ließen sich mit einem sozialpartnerschaftlichen System besser bewältigen als ohne.
Petra Reinbold-Knape, Vorstandsmitglied bei der IG Bergbau-Chemie-Energie (BCE), zeigte sich davon überzeugt, dass die Sozialpartner den technologischen Wandel nur dann erfolgreich gestalten können, wenn es ihnen gelingt, den Beschäftigten die Angst etwa vor der Digitalisierung zu nehmen. Die Unternehmen müssten ihre entsprechenden Strategien offen und transparent mit ihren Betriebsräten besprechen. Zugleich wusste sie sich mit Walwei darin einig, dass es in der Tarifpolitik nicht um eine unbegrenzte Flexibilisierung gehen könne.
Andre Müller, Abteilungsleiter für Lohn- und Tarifpolitik bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), sieht die zentrale Herausforderung für die Sozialpartnerschaft darin, flexible und differenzierte Lösungsmodelle zu entwickeln, die sowohl die Beschäftigten mitnehmen als auch den unterschiedlichen Gegebenheiten auf einzelbetrieblicher Ebene Rechnung tragen.
Fotos: Wolfram Murr, Photofabrik
Schludi, Martin; Segert-Hess, Nadine (2019): Sozialpartnerschaft und soziale Sicherung stehen unter Druck, In: IAB-Forum 10. Dezember 2019, https://www.iab-forum.de/sozialpartnerschaft-und-soziale-sicherung-stehen-unter-druck/, Abrufdatum: 21. November 2024
Autoren:
- Martin Schludi
- Nadine Segert-Hess