19. September 2025 | IAB-Debattenbeiträge
Ungenutzte Potenziale: Migration und Ausbildung

Die Bildungsungleichheit zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund nimmt in Deutschland tendenziell zu. Kinder mit Migrationshintergrund besuchen seltener eine Kita und sind an Hauptschulen über-, an Gymnasien unterrepräsentiert. Im Jahr 2023 verfügten 61,5 Prozent der 20- bis 29-Jährigen ohne Migrationshintergrund über die allgemeine Hochschulreife oder Fachhochschulreife. Bei in Deutschland geborenen Personen mit Migrationshintergrund lag dieser Anteil bei 57 Prozent, bei den im Ausland Geborenen nur bei 36,8 Prozent. Von letzteren hatten 12,3 Prozent keine abgeschlossene Schulausbildung.
Das Bildungsgefälle spiegelt sich auch in den Ergebnissen von Schulleistungstests wie der PISA-Studie wider, bei denen Jugendliche mit Migrationshintergrund im Durchschnitt deutlich schlechter abschneiden. All dies ist umso bedeutsamer, als sehr viele schulpflichtigen Kinder einen Migrationshintergrund aufweisen. Im Jahr 2023 lag dieser Anteil bei 42,3 Prozent.
Die Bildungsungleichheiten setzen sich in der beruflichen Ausbildung fort. Sie sind dort sogar noch ausgeprägter als im Bereich der Hochschulbildung. Die Zahl der nicht formal Qualifizierten, also der Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, im Alter zwischen 20 und 34 Jahren wuchs zwischen 2015 und 2022 von 1,9 auf über 2,86 Millionen, wobei Migration – insbesondere durch Geflüchtete – wesentlich zu diesem Anstieg beitrug.
Insgesamt lag die Quote der nicht formal Qualifizierten im Jahr 2022 bei 19,1 Prozent – mit erheblichen Unterschieden je nach Migrationshintergrund: 11,6 Prozent bei Personen ohne Migrationshintergrund, 20,4 Prozent bei in Deutschland aufgewachsenen Menschen mit Migrationshintergrund und 39,1 Prozent bei selbst eingewanderten Personen. Dieses Gefälle ist vor allem deswegen so problematisch, weil nicht formal Qualifizierte deutlich höhere Arbeitsmarktrisiken aufweisen: Im Jahr 2022 betrug ihre Arbeitslosenquote 19,8 Prozent, und sie stellen mehr als 60 Prozent der Langzeitarbeitslosen. Zudem verdienen sie im Schnitt deutlich schlechter als Personen mit abgeschlossener beruflicher oder akademischer Ausbildung.
Aufgrund des geringeren Anteils mit beruflichem Abschluss ist die Qualifikationsstruktur von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland vergleichsweise stark polarisiert. Im Jahr 2022 hatten von den 25- bis 35-Jährigen ohne Migrationshintergrund 28 Prozent einen Hochschulabschluss, 64 Prozent einen nichtakademischen Berufsabschluss und 8 Prozent keinen beruflichen Abschluss. Bei in Deutschland geborenen Menschen mit Migrationshintergrund lagen diese Anteile bei 24, 57 und 19 Prozent, bei den im Ausland Geborenen bei 31, 33 und 34 Prozent. Auffällig ist der vergleichsweise niedrige Anteil beruflicher Abschlüsse bei Menschen mit Migrationshintergrund, während der Anteil mit Hochschulabschluss sogar überdurchschnittlich hoch ist.
Im Folgenden werden sechs zentrale Gründe für den vergleichsweise niedrigen Anteil beruflich ausgebildeter Menschen mit Migrationshintergrund benannt.
- Erstens: Für diese Menschen bestehen höhere Zugangshürden in das System der beruflichen Bildung, das zwar vielfältige Möglichkeiten bietet, jedoch komplex und schwer durchschaubar ist. Frühzeitige, informierte Entscheidungen erfordern umfassendes Wissen über die Funktionsweise der beruflichen Bildung auf lokaler Ebene. Eltern mit Migrationshintergrund sind als die faktisch wichtigsten Berufsberatenden für ihre Kinder oft im Nachteil, auch weil soziale Netzwerke beim Zugang zu attraktiven Ausbildungsplätzen eine wichtige Rolle spielen.
- Zweitens: Kinder mit Migrationshintergrund haben bei gleichem sozioökonomischem Status der Eltern im Durchschnitt höhere, teilweise jedoch weniger realistische Bildungsaspirationen als Kinder ohne Migrationshintergrund. Dies geht mit einer vergleichsweise geringeren Wertschätzung für eine berufliche Ausbildung einher, da diese im Herkunftsland weniger bekannt oder als weniger nützlich für eine (inter-)nationale Karriere angesehen wird.
- Drittens: Menschen mit Migrationshintergrund haben häufig einen niedrigeren sozioökonomischen Status, was mit geringeren Bildungschancen einhergeht – auch, weil die Eltern ihre Kinder weniger gut beim Durchlaufen des Bildungs- und Berufsausbildungssystems unterstützen können.
- Viertens: Eine Berufsausbildung ist eine längerfristige Investition in die Arbeitsmarktchancen in Deutschland. Ob sich diese Investition lohnt, hängt entscheidend davon ab, ob ein dauerhafter Verbleib in Deutschland geplant ist. Zudem geht die Zeit der Berufsausbildung mit niedrigem Einkommen einher, während gleichzeitig der Helferarbeitsmarkt oft kurzfristig bessere Verdienstmöglichkeiten bietet.
- Fünftens: Trotz fachlicher Kompetenz können – vor allem bei Neuzugewanderten – Sprachbarrieren und Schwierigkeiten mit Ausbildungsinhalten den erfolgreichen Abschluss erschweren. Berufsschulen sind angesichts der zunehmenden Diversität der Schülerschaft nicht immer in der Lage, im Teilzeitunterricht allen Schülerinnen und Schülern eine ausreichende Förderung zu bieten.
- Sechstens: Da das Berufsausbildungssystem in Deutschland sehr spezifisch ist, erweist sich die Anerkennung von im Ausland erworbenen beruflichen Fähigkeiten nicht selten als schwierig, da diese häufig nicht in mit den deutschen Abschlüssen vergleichbarer Form zertifiziert sind.
Um die bislang ungenutzten Fachkräftepotenziale von Menschen mit Migrationshintergrund besser zu erschließen, gilt es insbesondere, mehr Menschen mit Migrationshintergrund für eine berufliche Ausbildung zu gewinnen. Dafür sollten zum einen die Vorteile der beruflichen Ausbildung gezielter vermittelt, zum anderen spezifische Zugangsbarrieren abgebaut und individuelle Unterstützungsbedarfe stärker berücksichtigt werden. Gleichzeitig sollte das Bewusstsein dafür gestärkt werden, dass die langfristigen Perspektiven im Helferarbeitsmarkt deutlich schlechter sind.
In aller Kürze
- Junge Menschen mit Migrationshintergrund schließen in Deutschland seltener eine Berufsausbildung ab als Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund – wertvolle Fachkräftepotenziale bleiben somit ungenutzt. 2022 hatten 11,6 Prozent der 20- bis 34-Jährigen ohne Migrationshintergrund keinen Berufsabschluss, bei in Deutschland Geborenen mit Migrationshintergrund waren es 20,4, bei Zugewanderten 39,1 Prozent.
- Höhere Zugangshürden ins komplexe duale System, Sprachbarrieren und geringere Unterstützung durch Netzwerke erschweren für Menschen mit Migrationshintergrund den Einstieg in die berufliche Bildung. Dazu haben sie oft höhere, teils weniger realistische Bildungsaspirationen und einen niedrigeren sozioökonomischen Status, was den Bildungserfolg zusätzlich mindern kann.
- Bildungsungleichheiten beginnen früh: Kinder mit Migrationshintergrund besuchen seltener Kitas, sind an Hauptschulen über-, an Gymnasien unterrepräsentiert und erzielen schlechtere Ergebnisse in Leistungstests.
- Eine Berufsausbildung ist eine längerfristige Investition in die Arbeitsmarktchancen in Deutschland mit seinem spezifischen Berufsausbildungssystem. Damit hängt die Entscheidung für eine Berufsausbildung davon ab, ob ein dauerhafter Verbleib in Deutschland geplant ist. Zugleich erweist sich die Anerkennung von Abschlüssen aus dem Ausland oft als schwierig.
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DOI: 10.48720/IAB.FOO.20250919.01
Fitzenberger, Bernd; Kosyakova , Yuliya (2025): Ungenutzte Potenziale: Migration und Ausbildung, In: IAB-Forum 19. September 2025, https://iab-forum.de/ungenutzte-potenziale-migration-und-ausbildung/, Abrufdatum: 19. September 2025
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Autoren:
- Bernd Fitzenberger
- Yuliya Kosyakova