13. November 2019 | Serie „Arbeitsmärkte aus regionaler Perspektive“
Warum die Digitalisierung manche Bundesländer stärker betrifft als andere
Die Digitalisierung wird die deutsche Wirtschaft, und damit auch den Arbeitsmarkt, in den kommenden Jahren grundlegend verändern, im Positiven wie im Negativen: Manche Jobs werden wegfallen, manche neu entstehen, viele werden sich in ihrem Tätigkeitsprofil verändern. Die Auswirkungen der Digitalisierung dürften allerdings regional sehr unterschiedlich ausfallen, da sich auch die jeweilige Wirtschafts- und Berufsstruktur von Region zu Region unterscheidet. Zu diesem Ergebnis kommt eine als IAB-Kurzbericht 9/2018 veröffentlichte Studie, in der die Auswirkungen der Digitalisierung auf den deutschen Arbeitsmarkt bis zum Jahr 2035 untersucht wurden.
Bereits heute unterscheiden sich die Bundesländer erheblich hinsichtlich der Substituierbarkeitspotenziale von Beschäftigten, dem Anteil der Tätigkeiten also, die durch Computer oder computergesteuerte Programme ersetzt werden könnten. So variiert der Anteil der Beschäftigten, bei denen mindestens 70 Prozent der ausgeübten Tätigkeiten ersetzbar sind, zwischen 14,6 Prozent in Berlin und 30 Prozent im Saarland (siehe Abbildung 1).
Damit ist freilich nicht gesagt, dass diese Tätigkeiten auch tatsächlich substituiert werden. Denn die technische Machbarkeit ist lediglich eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung dafür, dass menschliche Tätigkeiten durch Computer ersetzt werden. Substituierbarkeitspotenziale dürfen also keineswegs mit Jobverlusten gleichgesetzt werden.
Die Unterschiede zwischen den Bundesländern werden dabei nicht nur von der regionalen Branchenstruktur bestimmt, sondern auch von der beruflichen Zusammensetzung der einzelnen Branchen (lesen Sie hierzu auch den IAB-Kurzbericht 22/2018).
Das Substituierbarkeitspotenzial in einem Bundesland wird also von zwei Faktoren beeinflusst: dem Anteil der Beschäftigten, die in einem bestimmten Berufssegment arbeiten, und der Berufsstruktur innerhalb eines Berufssegments, also dem Anteil der Beschäftigten innerhalb eines Berufssegmentes, die in Berufen mit hohem Substituierbarkeitspotenzial arbeiten.
Beide Faktoren können sowohl in Kombination als auch für sich genommen zu einem über- oder unterdurchschnittlichen Substituierbarkeitspotenzial beitragen. In der Regel ist ein hohes Substituierbarkeitspotenzial in einem Bundesland mit einem hohen Anteil an Beschäftigten sowohl in den jeweiligen Segmenten als auch einem hohen Anteil an Beschäftigten in Berufen mit hohem Substituierbarkeitspotenzial verknüpft. Dies soll am Beispiel ausgewählter Berufssegmente näher betrachtet werden.
In den Fertigungsberufen ist das Substituierbarkeitspotenzial im Schnitt sehr hoch
Fertigungsberufe zählen zu den Berufssegmenten, in denen das Substituierbarkeitspotenzial im Schnitt sehr hoch ist. Es ist daher kein Zufall, dass in Thüringen und im Saarland, in denen der Anteil der Beschäftigten mit hohem Substituierbarkeitspotenzial am größten ist, mit 11,1 und 10,3 Prozent auch der höchste Anteil an Beschäftigten in Fertigungsberufen zu finden ist (siehe Abbildung 2).
Diese Bundesländer weisen auch die höchsten Anteile an Beschäftigten mit hohen berufsspezifischen Substituierbarkeitspotenzialen innerhalb der Fertigungsberufe auf: Sie liegen mehr als zwei Prozentpunkte über dem Bundesdurchschnitt. Sowohl in Thüringen als auch im Saarland sind Beschäftigte zum Beispiel häufig als Fachkraft in der Metallbearbeitung, Fachkraft und Helfer in der Kunststoff- und Kautschukherstellung oder als Fachkraft in der Werkzeugtechnik und im Metallbau tätig – allesamt Berufe, die ein hohes Substituierbarkeitspotenzial aufweisen.
Ganz anders stellt sich die Situation in den Stadtstaaten Berlin und Hamburg dar. Dort ist die Berufsstruktur weniger von Fertigungsberufen geprägt als in den Flächenländern. Zudem üben die wenigen Beschäftigten, die in diesem Segment arbeiten, Berufe mit einem niedrigen oder mittleren Substituierbarkeitspotenzial aus. So spielt in Hamburg zum Beispiel die technische Mediengestaltung innerhalb der Fertigungsberufe eine bedeutende Rolle. In Berlin hat die Industrie bereits einen Modernisierungsprozess durchlaufen. Daher sind die dort angesiedelten Fertigungsberufe inzwischen hoch digitalisiert. Damit ist das Substituierbarkeitspotenzial schon in weiten Teilen ausgeschöpft, zum Beispiel in der Elektroindustrie, der chemischen Industrie, der Pharmaindustrie und dem Maschinenbau.
Fertigungstechnische Berufe weisen ebenfalls ein hohes Substituierbarkeitspotenzial auf
Auch bei den Substituierbarkeitspotenzialen und den Beschäftigtenanteilen im Bereich der fertigungstechnischen Berufe belegen das Saarland und Thüringen die vordersten Plätze (siehe Abbildung 3). Im Saarland könnte die große Bedeutung des Maschinenbaus für die Beschäftigung von Fachkräften eine Rolle spielen, da dieser ein sehr hohes Substituierbarkeitspotenzial aufweist. In Thüringen sind vor allem Fachkräfte wie Maschinen- und Gerätezusammensetzer sowie Helfer in der Maschinenbau- und Betriebstechnik als Berufe mit hohem Substituierbarkeitspotenzial stark vertreten.
Bemerkenswert ist, dass in Bundesländern mit einem leicht überdurchschnittlichen berufsspezifischen Substituierbarkeitspotenzial in fertigungstechnischen Berufen unterdurchschnittlich viele Beschäftigte in solchen Berufen arbeiten. Das trifft vor allem auf Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Schleswig-Holstein zu. Das erhöhte Substituierbarkeitspotenzial resultiert dort aus der Tatsache, dass sich die wenigen Beschäftigten in den fertigungstechnischen Berufen auf Berufe mit hohem Substituierbarkeitspotenzial konzentrieren.
In Mecklenburg-Vorpommern prägen insbesondere Fachkräfte der Fahrzeugtechnik und der Bauelektrik – beides Berufe mit hohem Substituierbarkeitspotenzial – das Berufssegment. In Brandenburg arbeiten Beschäftigte mit hohem Substituierbarkeitspotenzial vergleichsweise häufig als Kraftfahrzeugtechniker und Maschinenbauer.
Auffällig ist, dass Baden-Württemberg mit 16 Prozent den höchsten Anteil an Beschäftigten in fertigungstechnischen Berufen verzeichnet, das Substituierbarkeitspotential aber etwas unter dem Bundesdurchschnitt liegt. Dies ist offensichtlich darauf zurückzuführen, dass innerhalb des Segments ein überproportional hoher Anteil der Beschäftigten in technischen Entwicklungs-, Konstruktions- und Produktionssteuerungsberufen arbeitet, also in Berufen mit lediglich mittlerem Substituierbarkeitspotenzial.
In den unternehmensbezogenen Dienstleistungsberufen ist das Substituierbarkeitspotenzial überdurchschnittlich gestiegen
Im Segment der unternehmensbezogenen Dienstleistungsberufe sowie in den Verkehrs- und Logistikberufen ist nach aktuellen Berechnungen von Katharina Dengler und Britta Matthes, publiziert im IAB-Kurzbericht 4/2018, das Substituierbarkeitspotenzial zwischen 2013 und 2016 mit 19 sowie 20 Prozentpunkten überdurchschnittlich gestiegen. Potenzielle Einsatzmöglichkeiten neuer Technologien in diesen Berufen haben zugenommen, ohne dass sich die Tätigkeitsstruktur wesentlich verändert hat.
In den unternehmensbezogenen Dienstleistungsberufen liegt das Substituierbarkeitspotenzial im Durchschnitt bei 60 Prozent. Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Schleswig-Holstein weisen zwar eher unterdurchschnittlich viele Beschäftigte in diesem Bereich auf, zugleich aber einen beträchtlichen Anteil an Beschäftigten mit hohem Substituierbarkeitspotenzial in diesem Berufssegment (siehe Abbildung 4). Diese arbeiten überproportional häufig in Berufen, die sich in den letzten Jahren besonders stark durch die Digitalisierung verändert haben, wie Steuerberater (vor allem Niedersachsen), öffentliche Verwaltungsberufe (vor allem Rheinland-Pfalz) und Versicherungs- und Bankkaufleute (vor allem Niedersachsen und Rheinland-Pfalz).
In Berlin, wo relativ viele Beschäftigte in diesem Segment arbeiten, der Anteil an Beschäftigten mit hohem Substituierbarkeitspotenzial aber unterdurchschnittlich ist, dominieren dagegen die Werbebranche und Unternehmensberatungen. Sie bieten höherwertige Dienstleistungen mit wenig ersetzbaren Tätigkeiten an oder die Substituierbarkeitspotenziale sind durch die vermehrte Nutzung und Anwendung von digitalen Technologien weitgehend ausgeschöpft. Dadurch haben sich die Tätigkeitsprofile in diesen Berufen so verändert, dass die Beschäftigten heute vor allem mit Tätigkeiten betraut sind, die sich nur noch eingeschränkt automatisieren lassen.
Ein ähnliches Bild zeigt sich für Hamburg, wo trotz der hohen Bedeutung der unternehmensbezogenen Dienstleistungen weiterhin relativ wenige Beschäftigte in Berufen mit hohem Substituierbarkeitspotenzial arbeiten.
Auch viele Verkehrs- und Logistikberufe haben inzwischen ein hohes Substituierbarkeitspotenzial
Bremen ist ein zentraler Logistikknotenpunkt. Dort arbeiten viele Beschäftigte in Logistikberufen mit hohem Substituierbarkeitspotenzial wie Spezialisten im technischen Schiffsverkehrsbetrieb, Fachkräfte im Güter- und Warenumschlag sowie Helfer in der Lagerwirtschaft (siehe Abbildung 5). In anderen Regionen, etwa in Baden-Württemberg, ist das Substituierbarkeitspotenzial hoch, obwohl relativ wenige Beschäftigte in den Verkehrs- und Logistikberufen tätig sind, weil sich diese auf Berufe mit hohem Substituierbarkeitspotenzial konzentrieren.
Umgekehrt geht in Brandenburg und Sachsen-Anhalt ein geringes Substituierbarkeitspotenzial mit einer relativ hohen Beschäftigung in den Verkehrs- und Logistikberufen einher. Dort arbeiten viele Beschäftigte als Berufskraftfahrer im Güterverkehr.
In den IT- und naturwissenschaftlichen Dienstleistungsberufen hat sich das Substituierbarkeitspotenzial verringert
Das Substituierbarkeitspotenzial in den IT- und naturwissenschaftlichen Dienstleistungsberufen ist gesunken, weil aufgrund technologischer Neuerungen ersetzbare Tätigkeiten weggefallen sind und daher an Bedeutung für die Berufsausübung verloren haben. Umgekehrt haben neue, technisch nicht ersetzbare Tätigkeiten an Bedeutung gewonnen. Damit sinkt der Anteil der Beschäftigten mit hohem Substituierbarkeitspotenzial in diesen Berufssegmenten auf durchschnittlich 39 Prozent.
Dennoch gibt es Bundesländer wie Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Rheinland-Pfalz oder Nordrhein-Westfalen, in denen der Anteil an Beschäftigten mit hohem Substituierbarkeitspotenzial in diesem Berufssegment sehr hoch ist (siehe Abbildung 6).
In Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz ist zugleich der Anteil an Beschäftigten in diesen Berufen (leicht) unterdurchschnittlich. Insbesondere die Fachkraft- und Helfertätigkeiten in der Pharmatechnik, die mittlerweile größtenteils durch digitale Technologien ersetzt werden könnten, spielen in diesen beiden Bundesländern eine bedeutende Rolle. Die neuen Möglichkeiten scheinen die Tätigkeitsstrukturen aber noch nicht zu verändern, weshalb die Substituierbarkeitspotenziale in diesen Berufen weiterhin hoch bleiben.
In Hamburg, Baden-Württemberg und Bayern wie auch in Hessen arbeiten relativ viele Beschäftigte in IT- und naturwissenschaftlichen Dienstleistungsberufen. Während in Hessen die IT-Berufe große Bedeutung haben dürften, sind es in Hamburg insbesondere forschungsintensive Berufe, die dieses Segment prägen.
In Baden-Württemberg und Bayern dagegen dominieren Forschungs- und Entwicklungsberufe in der Automobilbranche sowie in zahlreichen Forschungsinstituten im naturwissenschaftlichen Bereich und im IT-Sektor mit niedrigem Substituierbarkeitspotenzialen.
Fazit
Der regionale Anteil an Beschäftigten mit hohem Substituierbarkeitspotenzial hängt maßgeblich von der spezifischen Branchen- und Berufsstruktur in einem Bundesland ab. Diese regionalen Disparitäten können sich verschärfen oder verstetigen, wenn den Betrieben zum Einsatz digitaler Technologien die erforderliche Infrastruktur (Breitband) zur Verfügung steht. Dort siedeln sich bevorzugt hoch technologisierte Betriebe an, die wiederum neue Unternehmen anziehen.
In Regionen, die einen großen Anteil an Beschäftigten mit hohem Substituierbarkeitspotenzialen aufweisen, besteht vor allem ein starker Bedarf an Aus- und Weiterbildungsangeboten, um den von technologischen Umbrüchen betroffenen Beschäftigten Perspektiven in neuen wie auch in bestehenden Berufen zu eröffnen. In Regionen, in denen diese Substituierbarkeitspotenziale gering sind, ist vor allem die Schaffung einer digitalen Infrastruktur (5G) erforderlich, damit sie den technologischen Anschluss nicht verlieren.
In beiden Fällen sind Politik, Wirtschaft und Arbeitsverwaltung gemeinsam gefordert, auf die jeweilige Region zugeschnittene Lösungsansätze zu entwickeln. Ein hohes Substituierbarkeitspotenzial sollte dabei nicht nur als Risiko, sondern auch als Chance für Innovationen und Fortschritt begriffen werden.
Weitere Informationen zu den Bundesländern finden Sie in unserer Publikationsreihe IAB-Regional: Bayern, Berlin-Brandenburg, Hessen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen.
Eine ausführliche Tabelle zu den branchenspezifischen Substituierbarkeitspotenzialen finden Sie auf der IAB-Homepage unter „Aktuelle Daten und Indikatoren“.
Literatur
Dengler, Katharina; Matthes, Britta (2018): Substituierbarkeitspotenziale von Berufen: Wenige Berufsbilder halten mit der Digitalisierung Schritt. IAB-Kurzbericht Nr. 4.
Dengler, Katharina; Matthes, Britta; Wydra-Somaggio, Gabriele (2018): Digitalisierung in den Bundesländern: Regionale Branchen- und Berufsstrukturen prägen die Substituierbarkeitspotenziale. IAB-Kurzbericht Nr. 22.
Matthes, Britta; Meinken, Holger; Neuhauser, Petra (2015): Berufssektoren und Berufssegmente auf Grundlage der KldB 2010. Methodenbericht der Statistik der BA, Nürnberg.
Zika, Gerd; Helmrich, Robert; Maier, Tobias; Weber, Enzo; Wolter, Marc I. (2018): Arbeitsmarkteffekte der Digitalisierung bis 2035: Regionale Branchenstruktur spielt eine wichtige Rolle. IAB-Kurzbericht Nr. 9.
Wydra-Somaggio, Gabriele (2019): Warum die Digitalisierung manche Bundesländer stärker betrifft als andere, In: IAB-Forum 13. November 2019, https://www.iab-forum.de/warum-die-digitalisierung-manche-bundeslaender-staerker-betrifft-als-andere/, Abrufdatum: 4. November 2024
Autoren:
- Gabriele Wydra-Somaggio