Schlagworte wie „Industrie 4.0“, „digitale Revolution“ oder „vierte industrielle Revolution“ sind in aller Munde. Sie beschreiben einen tiefgreifenden technologischen Wandel, der auch Auswirkungen darauf haben wird, wie wir in Zukunft produzieren und arbeiten werden. Die einen sehen in dieser Entwicklung enorme Potenziale für den Wirtschaftsstandort Deutschland, die anderen warnen vor massivem Arbeitsplatzabbau gerade in geringqualifizierten Bereichen. IAB-Direktor Prof. Joachim Möller forscht seit Jahren intensiv zum Thema „Digitalisierung“. Im Interview mit dem IAB-Forum spricht er über die Auswirkungen für Wirtschaft und Beschäftige in Deutschland.

Das Schlagwort „Industrie 4.0“ beziehungsweise „Wirtschaft 4.0“ ist in aller Munde. Manche reden gar von einer neuen industriellen Revolution. Technologischen Wandel gab es schon immer. Warum sprechen wir hier von einer digitalen Revolution?

Nach der ersten industriellen Revolution, die heute vor allem mit dem Schlagwort „Dampfmaschine“ und der Einführung mechanischer Produktionsanlagen verbunden wird, der zweiten industriellen Revolution, die uns unter anderem die Fließband-Arbeit gebracht hat, und der dritten industriellen Revolution, die mit der Erfindung und dem Einsatz von Computern einherging, geht es bei „4.0“ in erster Linie um Vernetzung auf allen Ebenen. Hochentwickelte, intelligente Systeme verbinden Maschinen, Anlagen und Geräte, sodass  diese miteinander kommunizieren. Zugleich bringen sie die Produzenten untereinander, aber auch Verbraucher und Produzenten näher zusammen. Die Produkte werden dadurch individueller. Weiterhin: Die Roboter verlassen ihre Käfige. Mensch und Roboter arbeiten nicht mehr getrennt, sondern – sozusagen auf Tuchfühlung – immer enger zusammen.

Prof. Dr. Joachim Möller, Direktor des IAB, spricht während eines Interviews

IAB-Direktor Prof. Joachim Möller forscht seit Jahren intensiv zum Thema „Digitalisierung“. | Foto: Wolfram Murr, Fotofabrik

Was bedeutet diese Entwicklung für Deutschland?

Meiner Einschätzung nach birgt die Digitalisierung für Deutschland mehr Chancen als Risiken. Wenn wir den Anschluss nicht verpassen und die neuen Technologien klug nutzen, können digitale Systeme dazu geeignet sein, am Arbeitsmarkt Nachteile auszugleichen, die bisher Menschen bei ihrer Suche nach einem Job im Weg standen. Man denke an Personen mit körperlichen Einschränkungen oder qualifikatorischen Defiziten. Die immer individueller und flexibler werdenden Produktionsabläufe könnten sogar helfen, in bestimmten Bereichen Produktion wieder nach Deutschland zu holen, die hier bislang nicht wirtschaftlich war. Unternehmen, die zu den Vorreitern in Sachen Digitalisierung gehören, bauen eher Stellen auf als ab.

Wer sind die Verlierer, wer die Gewinner der Entwicklung?

Wenn wir über Digitalisierung reden, dürfen wir natürlich auch die Risiken, die diese mit sich bringt, nicht außer Acht lassen. Wir müssen diejenigen mitnehmen, die bislang eher zu den Verlierern der Entwicklung gehörten. Trotz aller Chancen auch für Menschen mit individuellen Einschränkungen ist der Wandel für Personen leichter zu bewältigen, wenn sie gut qualifiziert sind. Dabei ist die Fähigkeit, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen, sich eine neue Nische zu suchen, ganz entscheidend. In der Arbeitswelt 4.0 werden Kreativität und Flexibilität noch wichtiger werden. Ebenfalls entscheidend ist es, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen miteinander in Einklang zu bringen. Das hat bislang in Deutschland meist gut funktioniert, darauf sollten wir auch in Zukunft bauen. Wir sollten gemeinsam abwägen, wie viel Entgrenzung, wie viel Flexibilität, wie viel Freiheit und wie viel Belastung wir uns in der Arbeitsgesellschaft der Zukunft wünschen und zumuten.

Der Ökonom Thomas Straubhaar vertritt die These, dass sich dank der Digitalisierung die Fachkräftelücke schließen wird, weil ein arbeitsplatzsparender technologischer Fortschritt automatisch den Bedarf an Fachkräften reduziert. Und er folgert daraus, dass „sich Digitalisierung und Demografie in wunderbarer Weise ergänzen“. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ganz so einfach wird diese Rechnung nicht aufgehen. Ich gehe davon aus, dass wir erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen, damit sich die Strukturprobleme am Arbeitsmarkt nicht durch die absehbaren Entwicklungen verschärfen. Es ist kaum zu erwarten, dass sich Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt problemlos aneinander anpassen. Weniger Nachwuchs und eine alternde Erwerbsbevölkerung treffen auf gravierende technologische Umwälzungen. Das bedeutet, dass wir Umbrüche abfedern und Flexibilität organisieren müssen. Hier steht die Gesellschaft vor einer großen Gestaltungsaufgabe, die sie am besten in guter Sozialpartnerschaft löst. Gedanken mache ich mir auch darüber, wie es gelingt, unsere Innovationskraft zu erhalten, die bei jüngeren Menschen ausgeprägter ist. Ein Ansatz könnte sein, den Neuerungsdrang der Jüngeren mit der Erfahrung der Älteren auf kluge Art zu verbinden. Ich denke aber, dass wir auch Zuwanderung qualifizierter Menschen nach Deutschland weiterhin gut gebrauchen können – umso mehr, wenn sie neue Ideen mitbringen.

Im Übrigen ist keineswegs gesagt, dass die Digitalisierung in dem Maß Arbeitskräfte einsparen wird, wie sie aufgrund des demografischen Wandels nicht mehr zur Verfügung stehen. Zukunftsszenarien des IAB zeigen, dass zwar enorme strukturelle Verschiebungen am Arbeitsmarkt durch die Digitalisierung zu erwarten sind, die Beschäftigung aber unter dem Strich nicht wesentlich zurückgeht. Einer der Gründe dafür: Wer an der Spitze des Fortschritts steht, kann seine Marktanteile ausweiten. Bleibt unsere Wirtschaft innovativ, so werden in bestimmten Bereichen neue Arbeitsplätze entstehen, insbesondere dort, wo es um neue Produkte und Dienste geht. Dem steht der Wegfall von Arbeitsplätzen in manchen traditionellen Bereichen gegenüber. Das ist vom Prinzip her nichts Neues: Technische Innovationen haben am Arbeitsmarkt auch immer für strukturellen Wandel gesorgt.

Die Fragen stellte Dr. Martin Schludi .

 

Weitere Informationen:

IAB-Infoplattform „Digitale Arbeitswelt – Chancen und Herausforderungen für Beschäftigte und Arbeitsmarkt“

IAB-Infoplattform  „Arbeit 4.0 und Gender – Mehr Geschlechtergerechtigkeit durch flexible Arbeitsmodelle?“