24. Juli 2019 | Serie „IAB-Stellenerhebung“
Sind zwölf Euro Mindestlohn zu viel?
In Deutschland sieht das Mindestlohngesetz vor, dass die Mindestlohnkommission im zweijährigen Rhythmus eine Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns empfiehlt. Die Zusammensetzung der Mindestlohnkommission soll die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gleichermaßen berücksichtigen. Sie besteht aus einem neutralen Vorsitzenden und jeweils drei Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern sowie zwei nicht stimmberechtigten Wissenschaftlern.
Unabhängig von den gesetzlichen Vorgaben zur Bestimmung des Mindestlohns tauchen ständig neue politische Forderungen in der Debatte über die Höhe des Mindestlohns auf, der derzeit bei 9,19 Euro liegt. So forderte zum Beispiel Die Linke kürzlich in Gesetzesvorlagen des Bundestags eine Anhebung auf zwölf Euro. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) bezeichnete einen Mindestlohn in dieser Höhe ebenfalls als angemessen. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund schloss sich dieser Ansicht an.
Vorhergesagte Beschäftigungsverluste haben sich als übertrieben herausgestellt
Doch welche Folgen hätte eine solche deutliche Anhebung für die Beschäftigung? Bei der Einführung des Mindestlohns haben sich theoriebasierte Berechnungen, die vollkommenen Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt unterstellen, zur Vorhersage der Beschäftigungseffekte nicht als sonderlich zuverlässig erwiesen. So prognostizierten etwa Andreas Knabe, Ronnie Schöb und Marcel Thum in einer 2014 erschienenen Studie, dass durch den Mindestlohn bis zu 900.000 Arbeitsplätze (umgerechnet circa 340.000 Vollzeitarbeitsplätze) gefährdet seien. Demgegenüber kommen Mario Bossler und Dieter Gerner in einer Studie aus dem Jahr 2019 zu dem Ergebnis, dass die Einführung des Mindestlohns das Beschäftigungswachstum tatsächlich nur um etwa 50.000 Jobs – nicht zuletzt Minijobs – verringert hat.
Deshalb haben Mario Bossler, Michael Oberfichtner und Claus Schnabel in einer 2018 erschienen Studie, die diesem Beitrag zugrunde liegt, einen alternativen Ansatz gewählt, um künftige Beschäftigungseffekte vorherzusagen. Er beruht auf den Erwartungen von Betrieben zur Beschäftigungsentwicklung bei unterschiedlich hohen, fiktiven Mindestlöhnen.
Der Vorteil dieses Ansatzes: Die Beschäftigungserwartungen der Arbeitgeber stimmen in der Regel gut mit der tatsächlichen Entwicklung überein. Dies belegt zum Beispiel eine Studie von Mario Bossler aus dem Jahr 2017, denn nach der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 entsprach die tatsächliche Entwicklung der betrieblichen Beschäftigung den zuvor geäußerten Beschäftigungserwartungen der Betriebe recht gut.
Um zu ermitteln, wie die Betriebe auf eine Anhebung des Mindestlohns reagieren würden, wurden ausgewählte Betriebe befragt, welche Beschäftigungsentwicklung sie in ihrem Betrieb für die kommenden zwölf Monate erwarten, wenn ein bestimmter Mindestlohn in jeweils unterschiedlicher Höhe festgesetzt würde. Die Befragung, deren Ergebnisse in einer Studie von Mario Bossler, Michael Oberfichtner und Claus Schnabel ausgewertet wurden, fand im Rahmen der IAB-Stellenerhebung statt.
In der Befragung wurde jedem Betrieb zufällig ein anderer Mindestlohn in Höhe von acht, neun, zehn, elf oder zwölf Euro „zugewiesen“. Auf diese Weise ließ sich die Beschäftigungsentwicklung in Abhängigkeit von der fiktiven Höhe des Mindestlohns nachzeichnen. Die Antworten wurden stets relativ zu einem fiktiven Mindestlohn von neun Euro ausgewiesen, was zum Zeitpunkt der Befragung im Jahr 2017 knapp über dem tatsächlichen damaligen Mindestlohn von 8,84 Euro lag.
Schlagartige Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro hätte 2017 zahlreiche Jobs gekostet
Bei einem steigenden Mindestlohn würde die erwartete Beschäftigung im nächsten Jahr im Schnitt fallen (siehe Abbildung 1). Bei einer fiktiven Erhöhung des Mindestlohns auf beispielsweise zehn Euro pro Stunde würde die von den Betrieben erwartete Beschäftigung um knapp zwei Prozent stärker zurückgehen als wenn sie lediglich neun Euro pro Stunde hätten bezahlen müssen.
Etwa die Hälfte des zu erwartenden Beschäftigungsrückgangs entstünde dadurch, dass Betriebe erwarten, wegen der abrupten Erhöhung des Mindestlohns schließen zu müssen. Es gibt allerdings keinen bestimmten Schwellenwert, ab dem der Mindestlohn plötzlich massiv Beschäftigung vernichten würde. Die Beschäftigungsverluste würden vielmehr mit steigendem Mindestlohn mehr oder weniger stetig zunehmen.
Wäre der Mindestlohn im Jahr 2017 sofort auf zwölf Euro erhöht worden, wäre die Beschäftigung nach Angaben der Arbeitgeber um gut fünf Prozent gesunken. Dies hätte Anfang 2017 etwa 1,4 Millionen Beschäftigten entsprochen. Dieser Effekt bezieht sich allerdings auf eine schlagartige Erhöhung des Mindestlohns um über 30 Prozent. Er lässt sich nicht direkt auf eine sukzessive Anhebung über mehrere Jahre hinweg übertragen, wie sie teilweise auch gefordert wird.
Zum Vergleich: Würde der Mindestlohn von aktuell 9,19 Euro erst bis 2030 auf 12 Euro steigen, betrüge die jährliche Steigerungsrate 2,5 Prozent. Angesichts einer durchschnittlichen tariflichen nominalen Lohnsteigerung, die von 2014 bis 2018 bei 2,4 Prozent jährlich lag, und der Möglichkeit der Betriebe, sich schrittweise anzupassen, wären in diesem Fall keine Beschäftigungsverluste in ähnlicher Größenordnung zu erwarten.
Betriebe mit Tarifvertrag und Betriebsrat sind von Änderungen des Mindestlohns weniger betroffen
In der Studie wurde auch untersucht, ob sich die Effekte von Mindestlohnerhöhungen zwischen Betrieben mit Tarifvertrag und mit Betriebsrat und Betrieben ohne diese beiden Institutionen unterscheiden. Im Jahr 2015 hatten circa 9 Prozent der Betriebe in Deutschland einen Tarifvertrag und einen Betriebsrat, während in 61 Prozent der Betriebe keine der beiden Institutionen existierte. Dies zeigt eine 2019 erschienene Studie von Michael Oberfichtner und Claus Schnabel.
Diese beiden Gruppen von Betrieben unterscheiden sich auch in anderer Hinsicht. Unter den Betrieben mit Tarifvertrag und Betriebsrat finden sich überproportional häufig größere Betriebe und Betriebe im produzierenden Gewerbe, wohingegen kleinere Betriebe und Dienstleistungsbetriebe seltener einen Tarifvertrag und einen Betriebsrat haben. Betriebe mit Tarifvertrag und Betriebsrat zahlen nicht zuletzt im Durchschnitt höhere Löhne und sollten daher weniger von Änderungen des Mindestlohns betroffen sein.
Tatsächlich wird der negative Einfluss auf die Beschäftigung vor allem durch Betriebe ohne Tarifvertrag und ohne Betriebsrat getrieben. In Betrieben mit Tarifvertrag und Betriebsrat kommt es dagegen zu keiner statistisch signifikanten Anpassung der Beschäftigung als Reaktion auf Änderungen des Mindestlohns – selbst bei einer raschen Erhöhung auf zwölf Euro (siehe Abbildung 2).
Betriebe sollten also in dieser Hinsicht nicht über einen Kamm geschoren werden. Einerseits gibt es Betriebe, für die eine Anhebung des Mindestlohns einen substanziellen Unterschied macht und die daher ihre Beschäftigung merklich reduzieren würden. Andere Betriebe hingegen wären selbst von einer deutlichen Erhöhung des Mindestlohns kaum betroffen. Dazu gehören tarifgebundene Betriebe, die ihren Beschäftigten ohnehin höhere Löhne zahlen und durch betriebliche Mitbestimmung charakterisiert sind.
Fazit
Die Studie von Mario Bossler, Michael Oberfichtner und Claus Schnabel zeigt, dass bei einer raschen Mindestlohnerhöhung auf zwölf Euro substanzielle Beschäftigungsverluste zu befürchten sind. Am stärksten wäre dieser Effekt in Betrieben, die weder tarifgebunden sind noch einen Betriebsrat haben. Dass diese Betriebe besonders betroffen sind, ist politisch relevant, weil in der Mindestlohnkommission in erster Linie Betriebe vertreten sind, die sowohl über einen Betriebsrat als auch über einen Tarifvertrag verfügen – und damit bei einer Erhöhung des Mindestlohns die geringsten Beschäftigungsverluste aufweisen.
Die Arbeitgebervertretung könnte somit eher geneigt sein, Mindestlohnsteigerungen hinzunehmen, weil die Beschäftigungseffekte bei ihren Mitgliedsbetrieben, die häufiger als andere Betriebe tarifgebunden sind und einen Betriebsrat haben, vergleichsweise gering ausfallen dürften. Auch Gewerkschaften könnten zu höheren Mindestlöhnen tendieren, wenn in tarifgebundenen Betrieben (fast) keine Beschäftigungsverluste auftreten, ihre Mitglieder also davon kaum betroffen sind.
Durch das Zusammenspiel dieser beiden Faktoren besteht prinzipiell die Gefahr, dass die Mindestlohnkommission Beschäftigungsverluste, insbesondere in Betrieben ohne Tarifbindung und institutionalisierte Mitbestimmung, weniger stark berücksichtigt als wirtschaftspolitisch wünschenswert wäre. Zwar gibt es bisher keine Hinweise auf ein solches Verhalten. Es bleibt aber auch in Zukunft wichtig, dass Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft die Setzung des Mindestlohns aufmerksam begleiten.
Literatur
Bossler, Mario; Gerner, Hans-Dieter (2019): Employment effects of the new German minimum wage – evidence from establishment-level micro data (im Erscheinen). In: ILR Review.
Bossler, Mario; Oberfichtner, Michael; Schnabel, Claus (2018): Employment adjustments following rises and reductions in minimum wages: new insights from a survey experiment. IZA Discussion Paper, 11747.
Bossler, Mario (2017): Employment expectations and uncertainties ahead of the new German minimum wage. In: Scottish Journal of Political Economy, Vol. 64, No. 4, S. 327–348.
Knabe, Andreas; Schöb, Ronnie; Thum, Marcel (2014): Der flächendeckende Mindestlohn. In: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Vol. 15, No. 2, S. 133–157.
Oberfichtner, Michael; Schnabel, Claus (2019): The German model of industrial relations: (where) does it still exist? In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Vol. 239, No. 1, S. 5–37.
Oberfichtner, Michael; Bossler, Mario; Schnabel, Claus (2019): Sind zwölf Euro Mindestlohn zu viel?, In: IAB-Forum 24. Juli 2019, https://www.iab-forum.de/sind-zwoelf-euro-mindestlohn-zu-viel/, Abrufdatum: 25. November 2024
Autoren:
- Michael Oberfichtner
- Mario Bossler
- Claus Schnabel