9. August 2022 | Podium
Deutschland im demografischen Dilemma: Woher sollen die Arbeitskräfte kommen?
„Wir haben einen Arbeitskräftemangel vor der Haustüre“, mahnte Oberbürgermeister Markus König in seiner Eröffnungsrede im Historischen Rathaussaal der Stadt Nürnberg. Personalengpässe stünden momentan in jedem Gespräch mit Unternehmen der Fokus. Gastronomen könnten keine Servicekräfte finden, Hotels ihre Gäste nicht bewirten. Auch in der Pflege herrsche insbesondere nach Corona ein gravierender Mangel. Von einer Berufsausbildung zum Bäcker oder zur Bäckerin seien nur wenige zu überzeugen. Wer einen Handwerker brauche, müsse viel Zeit und Geduld mitbringen.
„Das Problem wird jeden Tag deutlicher“, warnte König. Er sieht fünf mögliche Ansatzpunkte, um Arbeitskräftepotenziale zu heben: Förderung der dualen Ausbildung, Qualifizierung, Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen, Erhöhung der Mitarbeiterbindung und mehr Zuwanderung durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Mit diesen Maßnahmen könne man dem Fachkräftemangel zwar begegnen, gänzlich beseitigen ließe sich das Problem dadurch allerdings nicht, konstatierte der Oberbürgermeister.
Brücker: „Deutschland verliert durch den demografischen Wandel jährlich bis zu 500.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter“
Das Hauptproblem, auf das Moderator Gerhard Schröder vom Deutschlandfunk aufmerksam machte: Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in den kommenden Jahren in den Ruhestand und sehr viel weniger Jüngere rücken nach. Prof. Dr. Herbert Brücker, Leiter des Forschungsbereichs „Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung“ am IAB, skizzierte die Größenordnung des Problems: Demnach verliert Deutschland durch den demografischen Wandel jährlich zwischen 360.000 und 380.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter, bis zum Ende des Jahrzehnts sogar 400.000 bis 500.000.
„Wenn wir keine Wanderungsbewegungen hätten, würde bis zum Jahr 2060 das Erwerbspersonenpotenzial um knapp 40 Prozent zurückgehen“, sagte Brücker. „Wenn wir alles tun, um inländische Potenziale zu heben, hätten wir dann immer noch einen Rückgang um 35 Prozent.“
Strobel: „In der Gruppe der Menschen mit Behinderungen steckt ein wichtiges Arbeitspotenzial“
Eva Strobel wiederum sieht in der Inklusion von Menschen mit Behinderungen ein wichtiges Potenzial für den Arbeitsmarkt. Dabei verweist die Geschäftsführerin der Abteilung „Geldleistungen und Rehabilitation“ der Bundesagentur für Arbeit und vormalige Leiterin der Regionaldirektion Baden-Württemberg auf die Tatsache, dass die meisten Behinderungen im Laufe des Erwerbslebens auftreten. Zugleich ist die Erwerbsquote von Menschen mit schwerer Behinderung sehr viel niedriger als im Bevölkerungsmittel (47 versus 80 Prozent).
Hier sieht auch Leonie Gebers, Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Handlungsbedarf: „Ein Viertel der Arbeitgeber, die verpflichtet sind, Menschen mit Schwerbehinderung einzustellen, tut das nicht.“ Aus diesem Grund, so Gebers, will die Bundesregierung die bestehende Ausgleichsabgabe für solche Unternehmen erhöhen.
Gebers: „Das Credo lautet: Ausbildung statt Aushilfsjobs“
Aus Sicht von Gebers ist auch die Integration von Langzeitarbeitslosen ein wichtiger Ansatzpunkt zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels. Deren Zahl ist in der Pandemie auf über eine Million angestiegen. Inzwischen sei der Arbeitsmarkt wieder aufnahmefähig – in den Engpassberufen und darüber hinaus.
Zugleich folge die Vermittlung in den Arbeitsmarkt nunmehr dem Credo „Ausbildung statt Aushilfsjobs“. Denn Menschen, die durch das Jobcenter in Beschäftigung gebracht wurden, seien oft nach kurzer Zeit wieder arbeitslos. Hierfür sehe die Koalition die Auszahlung von Prämien oder Weiterbildungsgeld vor, die Menschen einen finanziellen Anreiz geben sollen, sich um einen Abschluss zu bemühen.
Diese Problematik trifft nach Auffassung von Herbert Brücker auch und gerade auf Menschen mit Migrationshintergrund zu. Ausbildungssysteme in anderen Ländern seien häufig anders strukturiert, Menschen aus diesen Ländern hätten nach deutscher Auffassung keine abgeschlossene Ausbildung. Dementsprechend häufig arbeiten diese mehr oder weniger dauerhaft im Helfersegment, das in den letzten zehn Jahren doppelt so stark gewachsen sei wie bei den Fachkräften. Zudem seien Menschen mit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt mit Sprachproblemen konfrontiert.
Die Verantwortlichkeiten für die entsprechenden Förderprogramme lägen hauptsächlich beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und nur teilweise bei der Bundesagentur für Arbeit (BA), so Brücker. Damit leistet sich Deutschland hier den Luxus einer institutionellen Trennung, die nach seiner Auffassung wenig zielführend ist.
Kugel: „Wir sind in Deutschland für ausländische Fachkräfte nicht so attraktiv, wie wir glauben“
Unstrittig war unter den Podiumsgästen, dass die Zuwanderung ein wichtiger Hebel ist, um dem wachsenden Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken. Allerdings sei Deutschland nicht das einzige Land, in das ausländische Fachkräfte migrieren könnten, stellte Janina Kugel fest, Aufsichtsrätin beim Touristikkonzern TUI und Senior Advisorin bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group. Deutschland sei für ausländische Fachkräfte nicht so attraktiv wie häufig angenommen. Deswegen brauche es nicht zuletzt eine Willkommenskultur. „Menschen müssen das Gefühl haben: Ich möchte gerne hierbleiben – in einem Land oder einem Unternehmen, wo ich das Gefühl habe, ich bin willkommen.“
Kugel, vormals Vorstandsmitglied und Arbeitsdirektorin von Siemens, sparte dabei auch nicht mit Kritik an den Unternehmen. Ihrer Erfahrung nach würden Unternehmen erst dann flexibel, wenn die Not bereits groß ist. Sie hätten zwar verstanden, dass es einen Fachkräftemangel gib. Aber nicht alle würden auch so handeln. Dieses Problem zeigt sich nach Kugels Wahrnehmung nicht nur bei der Akquise ausländischer Fachkräfte, sondern auch in einer mitunter wenig vorausschauenden Personalpolitik: „Der Tag der Rente ist das vorhersehbarste Ereignis im Arbeitsleben eines Mitarbeiters. Und trotzdem ist es in 70 Prozent der Fälle eine komplette Überraschung!“
Fitzenberger: „Qualifizierung ist das Schlüsselwort!“
In seiner Schlussrede widersprach IAB-Direktor Prof. Bernd Fitzenberger energisch der von nicht wenigen lange vertretenen These, dass uns die Arbeit ausgeht. Selbst in der Corona-Pandemie, der stärksten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, sei dies nicht der Fall – trotz Beschäftigung auf Rekordniveau. Für Fitzenberger ist Qualifizierung das Schlüsselwort, um dem Personalmangel entgegenzutreten. Auch auf die Langzeitarbeitslosen zu verzichten, könne sich Deutschland nicht mehr leisten.
Und noch immer gebe es viele Regelungen wie das Ehegattensplitting oder die Minijobs, die einer besseren Ausschöpfung des Arbeitskräftepotenzials entgegenstünden. So kritisierte Fitzenberger, dass die Bundesregierung die Einkommensgrenze für Minijobs kürzlich erneut angehoben hatte. Nichtsdestoweniger müsse die Gesellschaft angesichts des sich stark verknappenden Arbeitskräftepotenzials akzeptieren, dass bestimmte Arbeiten künftig teurer werden oder – falls die Menschen nicht bereit sind, höhere Preise zu bezahlen – auch ganz wegfallen.
Die Nürnberger Gespräche werden zweimal im Jahr von der Stadt Nürnberg und der Bundesagentur für Arbeit unter Federführung des IAB ausgerichtet.
Sonstige Informationen
- Veranstaltungsvideo
- Videos und Tagungsberichte zu den bisherigen Veranstaltungen im Rahmen der Nürnberger Gespräche
Kontakt: Martin.Schludi@iab.de
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20220809.01
Kaltwasser, Lena; Schludi, Martin (2022): Deutschland im demografischen Dilemma: Woher sollen die Arbeitskräfte kommen?, In: IAB-Forum 9. August 2022, https://www.iab-forum.de/nuernberger-gespraeche-deutschland-im-demografischen-dilemma-woher-sollen-die-arbeitskraefte-kommen/, Abrufdatum: 18. December 2024
Diese Publikation ist unter folgender Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht: Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International (CC BY-SA 4.0): https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
Autoren:
- Lena Kaltwasser
- Martin Schludi