22. Januar 2025 | Bildung vor und im Erwerbsleben
Bei der Nachhaltigkeitsbildung hinken die Berufsschulen den Gymnasien hinterher
Die bisherige Wirtschafts- und Lebensweise befeuert den Klimawandel und das Artensterben. Um diese Krise bewältigen und die Klimaziele für Deutschland einhalten zu können, ist nachhaltigkeitsorientiertes Handeln auf individueller, betrieblicher und politischer Ebene notwendig. Kinder und Jugendliche sind dabei eine besonders relevante Zielgruppe.
Wie Udo Brixy und Koautoren im IAB-Kurzbericht 19/2023 zeigen, werden nachhaltigkeitsbezogene Berufe zunehmend wichtiger. Die Zahl der gemeldeten Ausbildungsstellen in nachhaltigkeitsorientierten Berufen stieg zwischen 2013 und 2022 um 26,8 Prozent, während die gemeldeten Stellen bei Berufen mit eher umwelt- und klimaschädlichen Tätigkeitsinhalten in der gleichen Zeit um 10,5 Prozent zurückgingen. Nachhaltigkeitsexpertise am Arbeitsmarkt dürfte auch in den kommenden Jahren weiter an Relevanz gewinnen.
Schulen als Orte der Nachhaltigkeitsbildung für alle?
Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang Jugendliche ab dem 16. Lebensjahr. Spätestens in diesem Alter zeichnen sich die Vorstellungen der eigenen Lebensführung ab. Die Schule ist ein Ort, an dem die Lebens- und Berufsvorstellungen von Jugendlichen geprägt werden. Eine gezielte Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeitsthemen in Schulen kann daher bei Jugendlichen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, ein entsprechendes Bewusstsein fördern.
Generell unterscheiden sich Lehr- und Lernpläne im deutschen Bildungssystem allerdings je nach Schulform stark voneinander. Dies gilt, wie im Folgenden gezeigt wird, auch für das Angebot an nachhaltigkeitsbezogenen Themen an Berufsschulen und Gymnasien.
Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse einer Ende 2023 durchgeführten Befragung von Berufsschüler*innen sowie von Schüler*innen der gymnasialen Oberstufe. Sie zeigen nicht nur auf, inwieweit Nachhaltigkeitsthemen in den Schulunterricht integriert werden. Sie machen auch deutlich, ob sich Nachhaltigkeitsbildung auf die alltäglichen Konsummuster der befragten Jugendlichen auswirkt.
Nachhaltigkeitsbildung findet deutlich häufiger in der gymnasialen Oberstufe als an Berufs(fach-)schulen statt
Ein Vergleich des Angebots an Nachhaltigkeitsthemen zwischen Oberstufenschüler*innen am Gymnasium und Berufsschüler*innen, die vorher kein Abitur absolviert haben, zeigt deutliche Unterschiede. So kommen 76 Prozent der befragten Jugendlichen in der gymnasialen Oberstufe im Unterricht mit Nachhaltigkeitsthemen in Berührung, in der Berufsschule dagegen nur 34 Prozent (siehe Abbildung 1).
Dies deckt sich mit den Ergebnissen einer Studie von Julius Grund und Antje Brock aus dem Jahr 2022. Demnach nimmt das Angebot an Nachhaltigkeitsthemen an allgemeinbildenden Schulen generell zu, während es an Berufsschulen seit Jahren eher stagniert.
Dies dürfte auch an der zunehmenden Integration von Nachhaltigkeitsthemen in die Lehrpläne an gymnasialen Oberstufen liegen, während in berufsbildenden Schulen derzeit nur Empfehlungen der Kultusministerkonferenz und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vorliegen. Mit den vier neuen Standardberufsbildpositionen wurden ab August 2021 berufsübergreifend verpflichtende und prüfungsrelevante Mindeststandards zu Nachhaltigkeit und Umweltschutz sowie zur Digitalisierung in allen modernisierten und neu entwickelten Ausbildungsberufen in den Lehr-Lern-Plänen verankert. Allerdings betrifft dies insgesamt nur 29 neue oder modernisierte Ausbildungsberufe. Das entspricht knapp 9 Prozent aller Ausbildungsberufe.
Ob an der Berufsschule Nachhaltigkeitsbildung stattfindet, hat mit dem jeweiligen Fachgebiet wenig zu tun
Auffällig ist, dass die thematische Nähe eines Fachbereichs zu Nachhaltigkeit keine Rolle dafür zu spielen scheint, ob Nachhaltigkeitsbildung im Unterricht stattfindet oder nicht. Besonders im naturwissenschaftlich-technischen Fachbereich wäre angesichts der Energiewende und der Transformation der deutschen Industrien zu erwarten, dass hier vermehrt Nachhaltigkeitsbildung stattfindet. Auch da die Lehrpläne durch die Verordnungen des jeweiligen Ministeriums verstärkt an die Herausforderungen der ökologischen Transformation angepasst wurden.
Möglicherweise liegt es jedoch stärker an der verfügbaren Unterrichtszeit, ob nachhaltigkeitsorientierte Angebote Teil der Lehrinhalte sind oder nicht. Das Thema Nachhaltigkeit wird in zwei von drei Ausbildungsrichtungen, in denen verstärkt Vollzeitunterricht stattfindet („Soziales, Pädagogik“ sowie „Sprache, Kunst, Kultur“) und die daher in ihrer Struktur eher dem Gymnasialunterricht ähneln, öfter in die Unterrichtsgestaltung integriert als in Fachbereichen des dualen Berufsbildungssystems, wo schulischer Unterricht weniger Gewicht hat.
Schüler*innen, die im Unterricht Nachhaltigkeitsthemen behandeln, zeigen nachhaltigere Konsummuster
Abbildungen 3a und 3b zeigen, wie nachhaltig sich die befragten Schüler*innen nach eigenen Angaben im Alltag verhalten. Demnach treffen gymnasiale Oberstufenschüler*innen häufiger nachhaltige Konsumentscheidungen als Berufsschüler*innen.
Der Unterschied zwischen Oberstufenschüler*innen mit und ohne Nachhaltigkeitsbildung ist dabei marginal. Anders bei den Berufsschüler*innen: Diejenigen mit Nachhaltigkeitsbildung ernähren sich nach eigenen Angaben eher vegan oder vegetarisch, kaufen eher umweltfreundliche Produkte, leihen oder teilen sich bestimmte Dinge häufiger als diese zu kaufen und verzichten eher auf Plastik als Berufsschüler*innen ohne Nachhaltigkeitsbildung. Dies legt nahe, dass sich die Behandlung von Nachhaltigkeitsthemen im Berufsschulunterricht positiv auf das Konsumverhalten auswirken kann.
Das Konsumverhalten von Berufsschüler*innen ist zugleich im Schnitt deutlich weniger nachhaltig als das von gymnasialen Oberstufenschüler*innen – selbst gegenüber denjenigen ohne Nachhaltigkeitsbildung im Unterricht. Generell scheint also das Bildungsniveau einen recht starken Einfluss auf die Nachhaltigkeit des Konsumverhaltens zu haben.
Dies bestätigt auch eine 2022 erschienene Studie von Anna Rysina und anderen für die Bertelsmann Stiftung. Demnach treffen (ehemalige) Gymnasiast*innen ökologisch nachhaltigere Konsumentscheidungen als Real- und Hauptschüler*innen, weil sie insbesondere aufgrund ihres familiären Hintergrunds häufig schon als Kinder und Jugendliche auch außerhalb der Schule mit Nachhaltigkeit konfrontiert waren.
Nachhaltigkeitsbildung an Berufsschulen kann zur Anpassung des Arbeitskräfteangebots an die ökologische Transformation beitragen
Auf Basis der hier vorliegenden Daten lässt sich nicht feststellen, ob die Behandlung von Nachhaltigkeitsthemen bei Schüler*innen der Oberstufe die Wahl eines nachhaltigeren Berufs beziehungsweise im Fall von Berufsschüler*innen eines nachhaltigeren Jobs oder Arbeitgebers begünstigt. Für den MINT-Bereich allerdings zeigen beispielsweise Sarah Reinhold und Kolleg*innen in einer 2018 erschienenen Studie, dass Schüler*innen, die sich innerhalb und außerhalb der Schule gezielt mit Themen aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (MINT) auseinandergesetzt haben, tendenziell eher auch eine Karriere in einem dieser Bereiche anstreben.
Die – wenn auch moderate – Diskrepanz im Konsumverhalten von Berufsschüler*innen mit Nachhaltigkeitsbildung gegenüber solchen ohne Nachhaltigkeitsbildung dürfte daher ein Indiz für einen positiven Effekt von Nachhaltigkeitsbildung sein, der sich auch in der Berufs- und Jobwahl manifestieren könnte. Dabei besteht jedoch gegenüber Schüler*innen der gymnasialen Oberstufe ein grundsätzlicher Unterschied mit Blick auf die Berufswahl: Bei Oberstufenschüler*innen könnte nachhaltigkeitsbezogener Unterricht möglicherweise die fachliche Ausrichtung des Studiums oder Ausbildungsberufs beeinflussen. Berufsschüler*innen dagegen haben sich ja bereits für ein berufliches Fachgebiet entschieden.
Gleichwohl kann die Behandlung von Nachhaltigkeitsthemen möglicherweise Fähigkeiten vermitteln, die Auszubildende auf ökologisch nachhaltigere Tätigkeiten im späteren Erwerbs-verlauf vorbereiten oder für Nachhaltigkeitshemen sensibilisieren, die zur Wahl eines nachhaltigkeitsbezogenen Schwerpunkts in der Ausbildung und/oder eines nachhaltigen Betriebs bewegen könnten.
Generell kann die Behandlung von Nachhaltigkeitsthemen im Unterricht dazu beitragen, dass Nachhaltigkeitsaspekten in der beruflichen Karriere höhere Priorität eingeräumt wird. Mit Blick auf die ökologische Transformation ist dies begrüßenswert, da insbesondere Betriebe mit einer ökologischen Ausrichtung auf Fachkräfte mit Nachhaltigkeitsexpertise angewiesen sind.
Fazit
Berufsschüler*innen behandeln Nachhaltigkeitsthemen im Unterricht seltener als gymnasiale Oberstufenschüler*innen. Doch gerade bei Berufsschüler*innen könnte es für die Verhaltens- und Konsummuster einen Unterschied machen, ob entsprechende Themen in der Berufs-schule vermittelt werden oder nicht.
Ein breiteres und vielfältiges Angebot von nachhaltigkeitsbezogener Bildung an Berufsschulen könnte den Zugang zu Nachhaltigkeitsthemen deutlich erleichtern – unabhängig vom sozio-ökonomischen Hintergrund. Umwelt- und klimaschutzrelevante Kompetenzen werden dabei nicht nur in Berufen, welche bereits nachhaltigkeitsorientiert sind, immer stärker nachgefragt.
Zum Gelingen der ökologischen Transformation bedarf es daher entsprechend ausgebildeter Fachkräfte. Die Berufsschulen könnten diesen Prozess über eine noch stärkere Ausrichtung ihrer Lehrpläne an nachhaltigkeitsrelevanten Themen flankieren.
In aller Kürze
- (Berufs-)Schulen sind wichtige Orte für Nachhaltigkeitsbildung.
- Nachhaltigkeitsbildung findet bislang hauptsächlich in gymnasialen Oberstufen statt, weniger an Berufsschulen.
- Gleichzeitig verhalten sich Berufsschüler*innen mit Nachhaltigkeitsangeboten im Unterricht auch im Alltag nachhaltiger als solche, die dieses Angebot nicht bekommen.
- Dies kann ein Indiz dafür sein, dass Nachhaltigkeitsangebote im Unterricht auch zur Priorisierung von Nachhaltigkeitsaspekten in der beruflichen Karriere von Berufsschüler*innen führen könnten.
- Zwar haben erste Ausbildungsverordnungen das Thema Nachhaltigkeit bereits verpflichtend und prüfungsrelevant integriert. Dennoch bedarf es eines breiteren und besonders für relevante Berufssegmente vielfältigeren Angebots an Nachhaltigkeitsbildung auch in den Berufsschulen. Denn dies würde dazu beitragen, dass dem Arbeitsmarkt perspektivisch mehr Fachkräfte mit Nachhaltigkeitsexpertise zur Verfügung stehen, die für die erfolgreiche ökologische Transformation dringend benötigt werden.
Daten und Methoden
Im Rahmen der Erhebung „Corona und Du“ (CoDu) wurden seit Herbst 2020 mehrere tausend Kinder und Jugendliche in ganz Deutschland zu ihren Bildungsaktivitäten und zu ihrer beruflichen Orientierung während der Covid-19-Pandemie befragt und in drei Folgebefragungen (Frühjahr 2022, Herbst 2022 und Winter 2023) weiterverfolgt.
Neben dem Fokus der Erhebung zu den Folgen der Covid-19-Pandemie war es ebenso möglich, Fragen zu integrieren, die eine Beantwortung von Fragestellungen jenseits der Pandemie erlauben. Die folgenden Auswertungen basieren auf den Angaben von 764 befragten Jugendlichen in der vierten Erhebungswelle (Winter 2023), die entweder in der 11. bis 13. Klasse eines Gymnasiums sind oder eine berufliche Ausbildung machen (Geburtsjahr: 2001 bis 2007). Von ihnen wurde ein neuentwickeltes Set an Fragen zum Thema Nachhaltigkeit (basierend auf Frick und Kolleg*innen) beantwortet.
Literatur
Bölling, Winona; Bock, Marlies; Donges, Larissa; Nieke, Antonia; Schifer, Charlotte (2024): Bildung zukunftsfähig machen: Synergien zwischen politischer Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) nutzen. Unabhängiges Institut für Umweltfragen e.V.
Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB) (2023): Datenreport.
Bundesministerium für Wirtschaft und Klima (BMWK) (2024): Erfolgsmodell duale Ausbildung.
Brixy, Udo; Janser, Markus; Mense, Andreas. (2023): Auszubildende entscheiden sich zunehmend für Berufe mit umweltfreundlichen Tätigkeiten. IAB-Kurzbericht Nr. 19.
Expertenrat für Klimafragen (2024): Gutachten zur Prüfung der Treibhausgas-Projektionsdaten 2024. Sondergutachten gemäß § 12 Abs. 4 Bundes-Klimaschutzgesetz.
Frick, Vivian; Gossen, Maike; Harnisch, Richard; Holzhauer, Brigitte; Winter, Florin (2022): Zukunft? Jugend fragen! – 2021. Umweltbundesamt.
Grund, Julius; Brock, Antje (2022): Formale Bildung in Zeiten von Krisen – die Rolle von Nachhaltigkeit in Schule, Ausbildung und Hochschule. Kurzbericht des Nationalen Monitorings zu Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) auf Basis einer Befragung von > 3.000 jungen Menschen und Lehrkräften. Institut Futur, Freie Universität Berlin.
Reinhold, Sarah; Holzberger, Doris; Seidel, Tina (2018): Encouraging a career in science: a research review of secondary schools’ effects on students’ STEM orientation. Studies in Science Education, 54(1), S. 69–103.
Rysina, Anna; Schneekloth, Ulrich; Wolfert, Sabine; Langness, Anja; von Görtz, Regina (2022): Jugend und Nachhaltigkeit. Was die Next Generation mit Nachhaltigkeit verbindet und wie sie sich engagiert. Bertelsmann Stiftung.
Simonson, Julia; Kelle, Nadiya; Kausmann, Corinna; Karnick, Nora; Arriagada, Céline; Hagen, Christine; Hameister, Nicole; Huxhold, Oliver; Tesch-Römer, Clemens (2020): Freiwilliges Engagement in Deutschland Zentrale Ergebnisse des Fünften Deutschen Freiwilligensurveys.
Bild: Deemerwha studio/stock.adobe.com
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20250122.01
Maushart, Milan; Kern, Jana (2025): Bei der Nachhaltigkeitsbildung hinken die Berufsschulen den Gymnasien hinterher, In: IAB-Forum 22. Januar 2025, https://www.iab-forum.de/bei-der-nachhaltigkeitsbildung-hinken-die-berufsschulen-den-gymnasien-hinterher/, Abrufdatum: 22. January 2025
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Autoren:
- Milan Maushart
- Jana Kern