17. August 2017 | Bildung vor und im Erwerbsleben
Aufwärtsmobilität am Arbeitsmarkt: Wenn nicht jetzt, wann dann?
In den letzten Jahren zeigte sich der Arbeitsmarkt hierzulande robust und aufnahmefähig. Die Beschäftigung erreicht immer neue Rekordstände. Zwischen 2010 und 2016 stieg die Zahl der Erwerbstätigen von 41 auf rund 43,6 Millionen, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sogar von 28 auf 31,5 Millionen Personen. Nachdem die Zahl der Arbeitslosen im Jahr 2005 jahresdurchschnittlich noch bei knapp fünf Millionen lag, werden es 2017 vermutlich mit gut 2,5 Millionen noch rund die Hälfte sein. Sie bewegt sich damit auf einem im historischen und internationalen Vergleich niedrigen Niveau.
Seit 2011 hat sich der Rückgang der Arbeitslosigkeit jedoch spürbar verlangsamt: Bereits zu diesem Zeitpunkt lag die Zahl der Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt bei knapp unter drei Millionen. Der Zuwachs der Erwerbstätigkeit in der jüngeren Vergangenheit wurde also weniger von einem (weiteren) Rückgang der Arbeitslosigkeit gespeist, als vielmehr von einer wachsenden Zahl von Erwerbspersonen. Dies liegt vor allem an der steigenden Arbeitsmarktpartizipation von Älteren, Müttern und Migranten.
Die jüngere Beschäftigungsentwicklung ist zwar insgesamt positiv zu bewerten. Dennoch zeigen sich am Arbeitsmarkt viele Kontraste. Betriebe suchen oft händeringend (hoch)qualifizierte Fachkräfte, während sich Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte schwer tun, eine Stelle zu finden oder dauerhaft auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Dem Gros der Beschäftigten mit unbefristeten und eher stabilen Arbeitsverträgen stehen Personen mit temporären und damit weniger sicheren Stellen gegenüber, etwa befristeter Beschäftigung oder Leiharbeit. Neben zahlreichen gutbezahlten und auskömmlichen Jobs gibt es – trotz Einführung des gesetzlichen Mindestlohns – noch immer viele Jobs mit niedrigen Stundenlöhnen. Daher sind noch längst nicht alle Menschen mit ihrer Erwerbssituation zufrieden.
Vieles spricht aus heutiger Sicht dafür, dass sich an dieser ausgeprägten Segmentierung des Arbeitsmarktes so schnell nichts ändern wird. In manchen Bereichen des Arbeitsmarktes dürfte sich tatsächlich der viel zitierte „Arbeitnehmermarkt“ herausbilden, in dem sich immer mehr gut qualifizierte Personen ihre Jobs mehr oder weniger aussuchen können. In anderen Marktsegmenten wird es aber wohl auch längerfristig bei einem „Arbeitgebermarkt“ bleiben, weil insbesondere zu wenige passende Stellenangebote mit eher geringen Qualifikationsanforderungen zur Verfügung stehen. Es ist zudem damit zu rechnen, dass der Druck auf die sogenannten Einfachtätigkeiten am Arbeitsmarkt weiter zunehmen wird. Gemeint sind hiermit Tätigkeiten, für die es keine formalen Qualifikationsvoraussetzungen gibt und die in der Regel auch schlechter entlohnt werden als qualifizierte Tätigkeiten.
Der Druck auf einfache Tätigkeiten steigt
Die Gründe für den absehbar steigenden Druck auf Einfachtätigkeiten sind vielfältig. Zum einen wächst derzeit die Gruppe der Personen, die auf Tätigkeiten mit geringeren Anforderungen angewiesen ist. Die überwiegende Mehrheit der zuletzt nach Deutschland gekommenen Fluchtmigranten verfügt nicht über formale Qualifikationen. Sie steht somit zunächst einmal nicht für Jobs zur Verfügung, die einen beruflichen Abschluss erfordern. Im selben Arbeitsmarktsegment bewegen sich zudem viele Langzeitarbeitslose, für die eine Helfertätigkeit nicht selten die einzige Möglichkeit für einen Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt darstellt.
Aber auch von der Nachfrageseite geraten einfachere Tätigkeiten unter Druck. Deutschland ist in Zeiten der Globalisierung auf den Weltmärkten nur mit hochwertigen Produkten wettbewerbsfähig. Lediglich bei international nicht handelbaren Gütern und Diensten ist ein Fortbestand einfacher Tätigkeiten auf Dauer in einem gewissen Umfang wahrscheinlich.
Aber selbst solche Helfertätigkeiten werden durch die fortschreitende Digitalisierung zunehmend unsicherer. So zeigt beispielsweise eine 2015 erschienene Studie der IAB-Forscherinnen Katharina Dengler und Britta Matthes, dass die Substitutionspotenziale bei Tätigkeiten mit geringen Anforderungen vergleichsweise hoch sind. Allenfalls im Bereich bestimmter, nicht oder kaum digitalisierbarer, schwerpunktmäßig interaktiver und weniger routinemäßig angelegter Tätigkeiten dürfte es auch langfristig noch ähnlich viele Beschäftigungsmöglichkeiten für nicht formal Qualifizierte geben wie heute.
Um diesen Tendenzen zu begegnen, gibt es verschiedene Wege. So könnten die Anreize verbessert werden, um einfache Arbeitsplätze zu erhalten oder neu zu schaffen. Ein radikaler, aber theoretisch denkbarer Weg bestünde darin, den bundesdeutschen Arbeitsmarkt nach US-amerikanischem Vorbild weitgehend zu deregulieren und Sozialleistungen radikal zu stutzen.
Dabei stellt sich allerdings nicht nur die Frage, ob dies überhaupt politisch durchsetzbar wäre, weil nicht zuletzt massive Verteilungskonflikte drohen würden. Ein solcher Ansatz ist auch ökonomisch nicht nachhaltig. Er passt schlichtweg nicht zu einem hoch entwickelten Wirtschaftsstandort wie Deutschland, wo Sozialpartnerschaft und soziale Marktwirtschaft tief verankert sind.
Die langfristige Rendite von Bildungsinvestitionen ist beträchtlich
Ein alternativer Ansatz, um das Problem anzugehen, besteht darin, die Wettbewerbs- und Beschäftigungsfähigkeit von Geringqualifizierten möglichst nachhaltig zu steigern. Hierfür gibt es zwei Stellschrauben: einerseits eine – im präventiven Sinne – möglichst umfassende Vermeidung von Bildungs- und Ausbildungsarmut, andererseits eine konsequente Stärkung der Aufwärtsmobilität.
Die Förderung von allgemeiner und beruflicher Bildung ist längerfristig betrachtet sicher der Königsweg zu einer besseren Verteilung individueller Chancen. Auch wenn sich die Wirkungen erst in der Zukunft einstellen, lohnen sich die Anstrengungen. Die langfristige Rendite wäre beträchtlich, wenn frühkindliche Erziehung forciert, Bildungssysteme durchlässiger und Kinder aus sozial schwachen Haushalten besser gefördert würden.
Die andere Stellschraube zielt auf die Stärkung der Aufwärtsmobilität. Diese kann im intergenerationalen Sinne wiederum vor allem durch gezielte Bildungsinvestitionen erreicht werden, also durch die gezielte Förderung von Kindern aus bildungsarmen Haushalten. Der Ansatz geht jedoch darüber hinaus, weil auch intragenerationale Aufstiegsmöglichkeiten bestehen, die deutlich schneller wirken. Zu denken ist an vermehrte Übergänge von Arbeitslosigkeit in Beschäftigung, von instabilen in stabilere Arbeitsverträge, von Tätigkeiten mit niedrigen Stundenlöhnen zu solchen mit höheren Vergütungen pro Stunde, von unfreiwilliger Teilzeitarbeit in eine Beschäftigung mit Wunscharbeitszeit und von nicht gewollten Tätigkeiten unterhalb des Ausbildungsniveaus zu einer ausbildungsadäquaten Erwerbstätigkeit. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Dabei ist zunächst festzuhalten, dass es Aufwärtsmobilität in Teilen des Arbeitsmarktes bereits gibt. Geringverdiener überschreiten beispielsweise eher eine (statistisch definierte) Niedriglohnschwelle, wenn sie günstigere individuelle Voraussetzungen wie zum Beispiel einen Berufsabschluss vorweisen können oder der (neue) Beschäftigungsbetrieb „aufstiegsfreundliche“ Charakteristika wie beispielsweise eine Tarifbindung aufweist.
Bei den „atypischen Beschäftigungsformen“ zeigen sich uneinheitliche Befunde. Am stärksten sind Brücken- und Sprungbretteffekte noch bei der befristeten Beschäftigung. Studien zur Leiharbeit zeigen in der Tendenz geringere Effekte, die jedoch für Migranten am günstigsten ausfallen, wie eine 2016 publizierte Studie von Elke Jahn zeigt. Bei den Minijobs lassen sich keine größeren Übergangseffekte nachweisen, was vor allem auf deren vorrangige Funktion als Zusatzverdienstquelle zurückzuführen sein dürfte. Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss nicht, dass es solche Effekte nicht gibt.
Damit stellt sich die Frage: Wie viel Potenzial für zusätzliche Aufwärtsmobilität steckt noch im Arbeitsmarkt? Eine allgemeingültige Antwort kann es darauf nicht gegeben. Aber eines dürfte feststehen: Wenn die Beschäftigungsfähigkeit von Geringqualifizierten nicht konsequent und nachhaltig gestärkt wird, wird es sehr schwer bis unmöglich sein, solche zusätzlichen Potenziale zu erschließen.
Aufwärtsmobilität schafft Platz für Nachrücker
Der Vorteil von mehr Aufwärtsmobilität liegt in deren doppelter Rendite. Zum einen profitieren Personen, die durch eine qualitativ hochwertigere Beschäftigung besser und womöglich auch nachhaltiger in den Arbeitsmarkt integriert wären. Zum anderen würden genau diese Personen Kapazitäten am unteren Ende des Arbeitsmarktes frei machen. Andere vormals nicht beschäftigte Personen mit weniger guten Voraussetzungen für eine Beschäftigung könnten dann teilweise nachrücken („Schornsteineffekt“).
Mit welchen Instrumenten lässt sich Aufwärtsmobilität fördern? Zu denken ist insbesondere an das Nachholen einer Vollqualifizierung, berufsbegleitende Formen der (Teil-)Qualifizierung sowie die gezielte Unterstützung von Betriebs- und Tätigkeitswechseln einerseits und räumlicher Mobilität andererseits. Auch durch die Digitalisierung können Potenziale erschlossen werden. Manch schwere Arbeiten können dank intelligenter Roboter nunmehr von Menschen verrichtet werden, die bis dato aus gesundheitlichen Gründen dazu nicht in der Lage gewesen wären. Zudem sollten die Rahmenbedingungen für die von vielen Menschen gewünschte Heimarbeit verbessert werden, um vollzeitnahe Erwerbsformen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern.
Als günstig erweist sich auch, dass sich am Arbeitsmarkt immer wieder neue Optionen der Aufwärtsmobilität ergeben. Die Rahmenbedingungen für Aufstiege am Arbeitsmarkt waren angesichts einer boomenden Wirtschaft, zunehmender Engpässe am Arbeitsmarkt und der Umwälzungen im Zuge der Digitalisierung noch nie so günstig wie heute, denn diese Faktoren sorgen für viel Bewegung am Arbeitsmarkt. Politik, Arbeitsmarktdienstleister, Unternehmen, Gewerkschaften, aber auch die Beschäftigten selbst sollten daher alles tun, um die Gunst der Stunde zu nutzen. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Literatur
Dengler, Katharina; Matthes, Britta (2015): Folgen der Digitalisierung für die Arbeitswelt: In kaum einem Beruf ist der Mensch vollständig ersetzbar, IAB-Kurzbericht Nr. 24.
Fuchs, Johann; Hummel, Markus; Hutter, Christian; Gehrke, Britta; Wanger, Susanne; Weber, Enzo; Weigand, Roland; Zika, Gerd (2016): IAB-Prognose 2016: Beschäftigung und Arbeitskräfteangebot so hoch wie nie, IAB-Kurzbericht Nr. 6.
Hohendanner, Christian; Walwei, Ulrich (2013): Arbeitsmarkteffekte atypischer Beschäftigung. In: WSI-Mitteilungen, Jg. 66, H. 4, S. 239-246.
Jahn, Elke (2016): Brückeneffekte für Ausländer am Arbeitsmarkt: Zeitarbeit kann Perspektiven eröffnen, IAB-Kurzbericht Nr. 19.
Schank, Thorsten; Schnabel, Claus; Stephani, Jens (2009): Geringverdiener: Wem und wie gelingt der Aufstieg? In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 229, H. 5, S. 584-614.
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Autoren:
- Ulrich Walwei