27. März 2025 | Podium
Die Bürgergeld-Reform aus Sicht der Praxis: Das IAB diskutiert seine Forschungsergebnisse mit Jobcentern und Regionaldirektionen

Die Jobcenter spielen eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung der Bürgergeld-Reform. Um ihre Einschätzungen und Erfahrungen mit der Reform zu erheben, wurde im Jahr 2023 die Online-Jobcenter-Befragung Bürgergeld (OnJoB) ins Leben gerufen. Sie ist zentraler Teil der Evaluation des ebenfalls 2023 in Kraft getretenen Bürgergeld-Gesetzes, die das IAB im Rahmen seines gesetzlichen Forschungsauftrags durchführt.
Es handelt sich um die erste bundesweite Wiederholungsbefragung von Jobcenter-Beschäftigten in gemeinsamen Einrichtungen und kommunalen Jobcentern. Im Frühjahr 2024 fand die erste von derzeit drei geplanten Erhebungen statt (weitere Informationen zur Befragung finden Sie im IAB-Forschungsbericht 17/2024 von Sarah Bernhard und Co-Autoren).
Aus diesem Anlass veranstaltete das IAB am 26. Februar dieses Jahres einen Online-Workshop, um den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jobcenter und Regionaldirektionen die zentralen Ergebnisse der ersten Befragungswelle vorzustellen. Anschließend folgten drei Impulsreferate aus den Jobcentern selbst. Mehr als 300 Interessierte nahmen an der Veranstaltung teil.
Sarah Bernhard: „Jobcenter bewerten hochspezialisierte und individualisierte Förderungen als besonders sinnvoll“

Dr. Sarah Bernhard ist Mitarbeiterin im Forschungsbereich „Arbeitsförderung und Erwerbstätigkeit“.
Zunächst zu den wissenschaftlichen Befunden: Den inhaltlichen Einstieg in die von Anke Plättner, freie Journalistin, moderierte Veranstaltung bestritt Dr. Sarah Bernhard, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsbereich „Arbeitsförderung und Erwerbstätigkeit“ des IAB und Leiterin der Jobcenter-Befragung. Sie gab einen Überblick über zentrale Ergebnisse der ersten Befragungswelle. Dazu gehörte unter anderem die Bewertung der diversen Einzelelemente, die mit dem Bürgergeld-Gesetz geändert wurden.
Angesichts der Vielzahl an Änderungen überrascht es aus Bernhards Sicht nicht, dass die Bewertung durch die Jobcenter sehr unterschiedlich ausfällt. Mit Blick auf die Förder- und Beratungsinstrumente schnitten vor allem hochspezialisierte Angebote wie das ganzheitliche Coaching (§ 16k SGB II) und die Entfristung des bereits 2019 eingeführten Förderinstruments „Teilhabe am Arbeitsmarkt“(§ 16i SGB II) am besten ab.
Deutlich kritischer fällt die Bewertung der Jobcenter hingegen bei anderen zentralen Elementen der Bürgergeld-Reform wie den Karenzzeiten für Wohnen und Vermögen aus. Sie sollen soziale und finanzielle Härten für Neuzugänge in die Grundsicherung abfedern. Weitere Auswertungsergebnisse zur Bewertung der Reform durch die Jobcenter sind in einem aktuellen Beitrag von Sarah Bernhard und Co-Autoren im IAB-Forum zu finden.
Aufgrund der politischen Umsetzung der Schuldenbremse des Grundgesetzes fällt das Budget für Eingliederungsleistungen und Verwaltungskosten rund 11 Prozent niedriger als im Vorjahr aus. Allerdings bewerteten 70 Prozent der oberen Führungskräfte bereits das Vorjahresbudget für Verwaltungskosten als (eher) zu klein. Die Eingliederungsleistungen erachteten 40 Prozent als (eher) zu gering.
Um den Bürgergeldberechtigten trotz gesunkener Eingliederungsleistungen mehr Chancen eine Weiterbildung zu ermöglichen, wurde die Weiterbildungsberatung und -finanzierung auf Beschluss der Ampel-Regierung ab diesem Jahr in die Zuständigkeit der Agenturen für Arbeit geben und damit fortan aus Mitteln der beitragsfinanzierte Arbeitslosenversicherung erbracht. Diese Neuordnung, so Bernhard, stößt jedoch bei Jobcenter-Beschäftigten der Beratung und Vermittlung sowie bei oberen Führungskräften auf wenig Gegenliebe. Sie befürchten Nachteile für Bürgergeldberechtigte sowie einen hohen Abstimmungsaufwand mit den Agenturen für Arbeit.
Sarah Bernhard kam abschließend noch auf weitere Reformbedarfe zu sprechen, die sich aus den Befragungsergebnissen ableiten lassen. Sie sieht einen wichtigen Ansatzpunkt nicht zuletzt beim Thema Bürokratieabbau. Schließlich gaben fast zwei Drittel der befragten Jobcenter-Geschäftsführungen an, dass im Verwaltungsaufwand das größte selbstgemachte Hemmnis für die Beratung und Vermittlung in ihrem Jobcenter besteht.
Kerstin Bruckmeier: „Die Karenzzeit ‚Vermögen‘ spielt in der Praxis nur eine geringe Rolle“

Dr. Kerstin Bruckmeier ist Leiterin der Forschungsgruppe „Grundsicherungsbezug und Arbeitsmarkt“.
Im ersten Jahr des Bürgergeldbezugs muss Vermögen seit Jahresbeginn 2023 nur bei erheblicher Höhe für die Sicherung des Lebensunterhalts eingesetzt werden. Die Karenzzeit „Vermögen“ soll zusammen mit der Karenzzeit „Wohnen“ soziale Härten beim Übergang in den Leistungsbezug vermeiden und den Leistungsberechtigten helfen, sich auf die Arbeitsuche und damit den Ausstieg aus dem Transferbezug zu konzentrieren – so die Begründung der Bundesregierung.
In der Praxis spielt die Karenzzeit „Vermögen“ jedoch nur eine geringe Rolle, wie Dr. Kerstin Bruckmeier, Leiterin der Forschungsgruppe „Grundsicherungsbezug und Arbeitsmarkt“ des IAB, in ihrem Vortrag zeigte.
Das gilt den Angaben der Jobcenter-Beschäftigten zufolge nicht nur für die Beratungsgespräche, in denen die Karenzzeit kaum ein Thema ist. Auch die Zahl an bewilligten Erstanträgen auf Bürgergeld, in denen Vermögensbestände oberhalb des Vermögensfreibetrags außerhalb der Karenzzeit geltend gemacht werden, fällt sehr niedrig aus.
Gleiches gilt für die Weiterbewilligung von Bürgergeld nach Ende der Karenzzeit. Den Befragungsergebnissen zufolge wurde weniger als ein Fall im letzten Arbeitsmonat je Leistungssachbearbeiter bearbeitet, bei dem das Bürgergeld nach dem Auslaufen der Karenzzeit aufgrund zu hoher Vermögensbestände verweigert werden musste.
Andreas Mense: „Die Wohnsituation ist häufig Thema in der Beratung“

Dr. Andreas Mense ist Mitarbeiter in der Forschungseinheit „Regionale Arbeitsmärkte“.
Anders fällt hingegen die Einschätzung aus, wenn es um die Wohnsituation geht. Im Unterschied zur Karenzzeit „Vermögen“ sind die Wohnsituation und insbesondere die Wohnkosten ein häufiges Thema in den Beratungsgesprächen, erläuterte Dr. Andreas Mense, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich „Regionale Arbeitsmärkte“ des IAB. Die Ergebnisse zeigen zudem, dass die Karenzzeit „Wohnen“ – im Gegensatz zur Karenzzeit „Vermögen“ – in vielen Fällen auch praktische Auswirkungen hat.
Demgegenüber ähneln sich die Einschätzungen der Befragten hinsichtlich der Frage, inwiefern die Karenzzeiten zur Erreichung der mit ihnen verknüpften politischen Ziele geeignet sind. Die Beschäftigten in den Jobcentern sind mehrheitlich der Meinung, dass durch beide Karenzzeiten der gesellschaftliche Abstieg verzögert beziehungsweise soziale Härten vermieden werden. Sie gehen jedoch nicht davon aus, dass die Karenzzeiten entscheidende Impulse für die Stärkung von Arbeitsanreizen oder für die Konzentration auf die Arbeitsuche geben. Eine der maßgeblichen politischen Begründungen für die Einführung der Karenzregelungen sehen sie also kritisch.
Katrin Hohmeyer: „Der Anteil nachhaltiger Arbeitsaufnahmen hat in den vergangenen Jahren eher zugenommen“

Dr. Katrin Hohmeyer ist Mitarbeiterin in der Forschungseinheit „Grundsicherungsbezug und Arbeitsmarkt“.
Für die Orientierung an einer nachhaltigen Arbeitsmarktintegration und den Einsatz beruflicher Qualifizierungsmaßnahmen, die mit der Bürgergeld-Reform forciert werden sollten, gilt dies hingegen ausdrücklich nicht.
So ist die Mehrheit der befragten Jobcenter-Beschäftigten der Auffassung, dass berufliche Weiterbildung den Bürgergeld-Berechtigten langfristig mehr hilft als die Vermittlung in eine Hilfstätigkeit. Das legte Dr. Katrin Hohmeyer, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe „Grundsicherungsbezug und Arbeitsmarkt“ am IAB, in ihrem Vortrag dar.
Gleichzeitig machen die Jobcenter-Beschäftigten jedoch auf einige praktische Hürden aufmerksam, die der Realisierung dieses Ziels im Wege stehen. Eine Mehrheit der Befragten betrachtet eine Weiterbildung für die Leistungsberechtigten als eine zu große Herausforderung. Sie verweist zudem auf den Wunsch vieler Hilfebezieher*innen, lieber schneller Geld zu verdienen als Zeit in den Erwerb eines Berufsabschlusses zu investieren.
Ungeachtet dessen offenbart der Blick auf die Entwicklung der Arbeitsmarktintegration von Leistungsberechtigten der Grundsicherung, dass der Anteil nachhaltiger Beschäftigungsaufnahmen in den vergangenen zehn Jahren stetig angewachsen ist. So belegen Auswertungen der Statistik der Bundesagentur für Arbeit, dass der Anteil von Beschäftigungen mit einer Dauer von sechs Monaten oder länger von 57 Prozent im Jahr 2013 auf 68 Prozent im Jahr 2023 gestiegen ist. Ausschlaggebend hierfür dürfte laut Hohmeyer aber eher die allgemeine Veränderung der Arbeitsmarktlage als die Reform des SGB II gewesen sein.
Sabine Mendez: „Die Grundsicherung ist eine sozialstaatliche Errungenschaft – aller Kritik an der Bürgergeld-Reform zum Trotz“

Sabine Mendez ist Mitglied der Geschäftsführung beim Jobcenter Köln.
Im zweiten Teil der Veranstaltung wurden die vorgestellten Ergebnisse mit den Vertreterinnen und Vertretern aus der Praxis diskutiert. Im Mittelpunkt standen die Kommentare von Heike Bannach, Sabine Mendez und Carl Schöpe aus den Jobcentern Helmstedt, Köln und Mannheim. Sie schilderten die Erfahrungen, die sie vor Ort mit der Umsetzung der Bürgergeld-Reform gemacht haben. Dabei offenbarte sich ein differenzierter Blick nicht nur auf die Bürgergeld-Reform und die seit ihrer Einführung kontrovers geführte öffentliche Debatte, sondern auch auf die weiterhin bestehenden Reformbedarfe der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Einig waren sich die drei Diskutant*innen nicht nur darin, dass die Erwartungen der Politik an das neue Bürgergeld zu hochgesteckt waren, sondern auch und vor allem darin, dass die öffentliche Debatte um das Bürgergeld einseitig und undifferenziert geführt wurde. Entsprechend sei der Charakter der Reform in der Öffentlichkeit, in Teilen aber auch bei den Leistungsberechtigten missverstanden worden.
Auch wenn das öffentlich teils in Abrede gestellt worden sei, gebe es selbstverständlich weiterhin eine Mitwirkungspflicht, etwa zur Arbeitsuche. Und fehlende Mitarbeit könne ebenso selbstverständlich mit einer Leistungsminderung belegt werden.
Die Neuausrichtungsrhetorik habe dazu geführt, so Carl Schöpe, Geschäftsführer des Jobcenter Mannheims, „dass das Bürgergeld für ganze viele Menschen innerhalb wie außerhalb der Jobcenter eine große Projektionsfläche war.“ Und diese Projektionen waren eben sehr häufig negativ besetzt.
Entsprechend gerate mitunter aus dem Blick, dass die Grundsicherung für Arbeitsuchende als solche durchaus eine zu würdigende Errungenschaft des deutschen Sicherungssystems darstelle, betonte Sabine Mendez, Mitglied der Geschäftsführung des Jobcenter Kölns. Eine Haltung, ergänzte sie, die einen nicht zuletzt der Blick über die eigenen Landesgrenzen lehren würde, wo ein solches Sicherungsnetz mitnichten überall existiere.
Heike Bannach: „Es fehlt an gesetzlicher Kontinuität, um vor Ort gezielt und nachhaltig arbeiten zu können“

Heike Bannach vom Jobcenter Helmstedt.
Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch nicht, dass die Grundsicherung für Arbeitsuchende aus Sicht der Diskutant*innen nicht weiterhin reformbedürftig wäre. Vielmehr sei das Gegenteil der Fall, betonte Schöpe. Der Geschäftsführer des Jobcenter Mannheims sieht teils erheblichen Reformbedarf. Er forderte aber zunächst eine ehrliche Verständigung darüber, in welche Richtung man das Grundsicherungssystem fortentwickeln wolle. In der Vergangenheit habe es nicht selten an einer „klaren Linie“ gefehlt, kritisierte er.
Heike Bannach vom Jobcenter Helmstedt sieht ebenfalls einen gewissen Reformbedarf, hält aber die Geschwindigkeit, mit der das SGB II zweitweise reformiert wurde, für nicht zielführend. Statt einer umgehenden Reform der Reform bräuchte es eine größere Kontinuität in den gesetzlichen Rahmenbedingungen, um die teils ambitionierten Reformziele überhaupt vernünftig umsetzen und ihre Wirksamkeit zuverlässig beurteilen zu können.
Carl Schöpe: „Das SGB II bedarf weiterhin einer grundlegenden Reform“

Carl Schöpe ist Geschäftsführer des Jobcenters Mannheim.
Carl Schöpe teilte diese Einschätzung, betonte aber zugleich, dass zentrale Fragen zum Auftrag der Grundsicherung und der Rolle der Jobcenter auch nach der Bürgergeld-Reform ungeklärt geblieben sind. Das betrifft so grundsätzliche Fragen wie die nach dem Umgang mit Leistungsberechtigten ohne realistische Perspektiven auf eine (nachhaltige) Arbeitsmarktbeteiligung.
Zwar seien in den letzten Jahren, etwa in Gestalt des Teilhabechancengesetzes oder dem ganzheitlichen Coaching, in dieser Hinsicht unleugbar Fortschritte bei der Instrumentenentwicklung erzielt worden. Gleichzeitig fehle es infolge der Haushaltskonsolidierung auf allen staatlichen Ebenen an den nötigen Ressourcen, um diese Instrumente flächendeckend einzusetzen. Ungeklärt sei daher die gesellschaftspolitische Frage, was uns die ganzheitliche Förderung dieser Personen wert ist.
Schöpe plädierte dafür, ähnlich wie Anfang der 2000er Jahre die Zukunftsfragen zu Zielen, Struktur und Aufgabenzuordnung im Sozialstaat unter Einbeziehung von Wissenschaft und Praxis im Wege einer Reformkommission zu klären.
Am Ende, das dürfte niemanden überraschen, ist die Diskussion damit an jenem Punkt angelangt, der gegenwärtig für alle Politikfelder einer der drängendsten sein dürfte: Welche politischen Interventionen können und sollen angesichts einer angespannten Haushaltslage noch finanziert werden? Welche Schwerpunkte sind zu setzen? Und wo muss gespart werden?
Diese Fragen plausibel zu beantworten, darin waren sich alle Diskutant*innen einig, dürfte gegenwärtig eine der größten Herausforderungen für die Zukunft der Grundsicherung für Arbeitsuchende sein. Denn die besten Programme und Förderansätze helfen nichts, wenn sie nicht (mehr) finanzierbar sind.
Literatur
Bernhard, Sarah; Nützel, Ulf-Michael; Osiander, Christopher; Ramos Lobato, Philipp; Zins, Stefan (2024): OnJoB: Die Online-Jobcenter-Befragung Bürgergeld. IAB-Forschungsbericht Nr. 17.
Bernhard, Sarah; Osiander, Christopher; Ramos Lobato, Philipp (2024a): Jobcenter-Beschäftigte finden die verschiedenen Elemente des Bürgergeldes unterschiedlich sinnvoll, In: IAB-Forum, 18.11.2024.
Bernhard, Sarah; Osiander, Christopher; Ramos Lobato, Philipp (2024b): Jobcenter-Führungskräfte sagen, ihnen fehle Geld für Personal und Arbeitsförderung, In: IAB-Forum, 11.9.2024.
Bild: RFBSIP/stock.adobe.com
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20250327.01
Bernhard, Sarah; Ramos Lobato, Philipp (2025): Die Bürgergeld-Reform aus Sicht der Praxis: Das IAB diskutiert seine Forschungsergebnisse mit Jobcentern und Regionaldirektionen, In: IAB-Forum 27. März 2025, https://www.iab-forum.de/die-buergergeld-reform-aus-sicht-der-praxis-das-iab-diskutiert-seine-forschungsergebnisse-mit-jobcentern-und-regionaldirektionen/, Abrufdatum: 1. April 2025
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Autoren:
- Sarah Bernhard
- Philipp Ramos Lobato