Das deutsche System der Arbeitsbeziehungen wird durch die gesetzlichen Bestimmungen zur Tarifautonomie und zur betrieblichen Interessenvertretung durch Betriebsräte getragen (zu deren Verbreitung finden Sie hier im Magazin den Beitrag „Die betriebliche Mitbestimmung verliert an Boden“ von Peter Ellguth). Überbetriebliche Branchen- oder Flächentarifverträge spielen eine wesentliche Rolle bei der Regelung von Arbeitsbedingungen und bei der Lohnfindung. Sie werden meist für Regionen und Branchen ausgehandelt und sorgen dort für einheitliche Wettbewerbsbedingungen bei den Arbeitskosten.
Für den einzelnen Betrieb ergibt sich daraus eine gesicherte Planungsgrundlage. Zudem herrscht Betriebsfrieden während der Laufzeit der Verträge. Zugleich entfällt damit die komplexe Aufgabe, Löhne und Arbeitsbedingungen für jeden Einzelfall aushandeln zu müssen, was die Betriebe entlastet.
Tarifverträge legen Mindeststandards fest
Löhne und Arbeitsbedingungen können jedoch nicht nur auf Branchenebene über (Flächen-)Tarifverträge geregelt werden, sondern auch auf Betriebs- oder Unternehmensebene (Firmentarifverträge) oder in individuellen Arbeitsverträgen. Letztere werden vor allem in kleineren Betrieben geschlossen. Für größere Firmen sind Firmentarifverträge eine interessante Alternative, denn der Verwaltungsaufwand wird schnell zu groß, wenn mit jedem Beschäftigten einzeln ein Arbeitsvertrag verhandelt werden muss.
Im Arbeitsrecht haben Tarifverträge Vorrang gegenüber Betriebsvereinbarungen und Einzelarbeitsverträgen. Tarifverträge legen Mindeststandards fest, die von den tarifgebundenen Betrieben über-, aber nicht unterschritten werden dürfen. Ausnahmen bestehen nur im Fall tariflicher Öffnungsklauseln.
Weniger im Fokus stehen die Betriebe, die formal zwar nicht tarifgebunden sind, sich jedoch freiwillig an einem Branchentarifvertrag orientieren. Um die tatsächliche Bedeutung der Flächentarifverträge für die Wirtschaft abschätzen zu können, müssen auch diese Betriebe betrachtet werden.
Seit 1996 werden vom IAB-Betriebspanel sowohl für West- als auch für Ostdeutschland jährlich Informationen zur Tarifbindung (und zur betrieblichen Interessenvertretung) über alle Wirtschaftszweige und Größenklassen hinweg erhoben. Die aktuellen Ergebnisse beruhen auf Angaben von rund 15.500 Betrieben in beiden Landesteilen. Aufgrund des Aufbaus der Zufallsstichprobe sind die Ergebnisse repräsentativ für die rund 2,1 Millionen Betriebe mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.
Die Tarifbindung im öffentlichen Dienst ist weitgehend stabil
Seit Beginn der Erhebung 1996 bis Mitte der 2000er-Jahre ist die Branchentarifbindung in ganz Deutschland stark rückläufig. In Westdeutschland bleibt der Deckungsgrad danach bis 2010 annähernd stabil, in Ostdeutschland setzt erst nach 2010 eine gewisse Stabilisierung ein. Aktuell ist in beiden Landesteilen wieder ein leichter Rückgang zu verzeichnen. Ob sich dieser Abwärtstrend fortsetzt, werden die nächsten Jahre zeigen.
In der Gesamtwirtschaft ging der Anteil der Beschäftigten in branchentarifgebundenen Betrieben von 1996 bis 2017 in Westdeutschland um 21, in Ostdeutschland um 22 Prozentpunkte zurück (siehe Abbildung 1). Diese Entwicklung ist weitestgehend auf den Rückgang der Branchentarifbindung in der Privatwirtschaft zurückzuführen, denn die Flächentarifbindung im öffentlichen Sektor blieb im betrachteten Zeitraum weitgehend stabil.
Für knapp die Hälfte der westdeutschen Beschäftigten gelten Branchentarife
Im Jahr 2017 arbeiteten hochgerechnet rund 49 Prozent der westdeutschen und 34 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in branchentarifgebundenen Betrieben. Firmen- oder Haustarifverträge galten für 8 Prozent der westdeutschen und 10 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten.
Für rund 43 Prozent der westdeutschen und 56 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmer gab es keinen Tarifvertrag. Allerdings wurde knapp die Hälfte dieser Beschäftigten (West: 50%, Ost: 45%) indirekt von Tarifverträgen erfasst, da sich die Betriebe, in denen diese Beschäftigten arbeiten, nach eigenen Angaben an den jeweiligen Branchentarifverträgen orientierten (siehe Tabelle 1).
Über 70 Prozent der Betriebe sind nicht tarifgebunden
Von den Betrieben selbst sind derzeit hochgerechnet noch rund 27 Prozent im Westen und 16 Prozent im Osten durch Branchentarifverträge gebunden. Haus- oder Firmentarifverträge gelten für jeweils 2 Prozent der Betriebe in den alten und neuen Bundesländern. Alle anderen, also etwa 71 Prozent der westdeutschen und 81 Prozent der ostdeutschen Betriebe, sind nicht tarifgebunden.
Rund 40 Prozent der nicht tarifgebundenen Betriebe in Westdeutschland und 35 Prozent in Ostdeutschland gaben jedoch an, sich in ihren Einzelarbeitsverträgen an bestehenden Branchentarifen zu orientieren. Allerdings lehnt sich nur wiederum ein Teil dieser Betriebe auch in allen relevanten Punkten – etwa bei den finanziellen Zusatzleistungen wie Weihnachts- oder Urlaubsgeld, den Arbeitszeiten oder der Dauer des Jahresurlaubs – am jeweiligen Branchentarif an. Im Jahr 2011 – aktuellere Daten dazu liegen nicht vor – galt dies im Westen nur für rund 19 Prozent und im Osten für 25 Prozent der nicht tarifgebundenen Betriebe. Nur in diesen Betrieben dürften die Beschäftigten also Arbeitsbedingungen vorfinden, die mit denen in branchentarifgebundenen Betrieben weitgehend vergleichbar sind.
Der tarifliche Deckungsgrad variiert stark mit Branche und Betriebsgröße
Das Ausmaß der Tarifbindung variiert seit jeher stark von Branche zu Branche. So liegt die Tarifbindung bei den Finanz- und Versicherungsdienstleistungen und im Baugewerbe in beiden Landesteilen seit Jahren weit über dem Durchschnitt, während vor allem im Bereich der Information und Kommunikation Branchentarifverträge kaum eine Rolle spielen (siehe Tabellen 1 und 2 in „Daten zur Tarifbindung und betrieblichen Interessenvertretung„).
Zudem steigt der tarifliche Deckungsgrad mit der Betriebsgröße (siehe Tabelle 2). Das gilt sowohl für die alten als auch für die neuen Bundesländer, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. Während die Branchentarifverträge für Kleinbetriebe eine untergeordnete Rolle spielen, sind Großbetriebe mit 200 und mehr Beschäftigten in der Mehrheit tarifgebunden. Ebenso nimmt die Bedeutung der Haus- oder Firmentarifverträge mit steigender Betriebsgröße zu. Insbesondere in ostdeutschen Großbetrieben mit 500 und mehr Beschäftigten spielen Firmentarifverträge eine große Rolle.
Fazit
In Ost- wie in Westdeutschland ist die Tarifbindung seit Jahren rückläufig. Auch wenn dieser Erosionsprozess schleichend verläuft, ist der Trend als solcher eindeutig und hält nach wie vor an. Obwohl Branchentarifverträge für viele Betriebe nach wie vor als Referenzrahmen bei der Aushandlung der Löhne und Arbeitsbedingungen dienen, fehlt in diesen Betrieben die rechtliche Verbindlichkeit und die damit einhergehende Sicherheit für die Beschäftigten.
Literatur
Ellguth, Peter (2018): Die betriebliche Mitbestimmung verliert an Boden. IAB-Forum 24. Mai 2018
Kohaut, Susanne (2018): Tarifbindung – der Abwärtstrend hält an, In: IAB-Forum 24. Mai 2018, https://www.iab-forum.de/tarifbindung-der-abwaertstrend-haelt-an/, Abrufdatum: 22. November 2024
Autoren:
- Susanne Kohaut