Um das Wissen über die Bedeutung des Arbeitsmarktes für das Leben des Einzelnen und die Rolle der Regierungen zu erweitern, beleuchtete die Konferenz verschiedene Formen von Übergängen, wie Übergänge von der Schule in den Beruf, von der Arbeitslosigkeit in den Beruf, vom Erziehungsurlaub in den Beruf, vom Beruf in den Ruhestand, aber auch zwischen Arbeitsplätzen oder Berufen und nicht zuletzt Übergänge aufgrund des technologischen Wandels.
Um Wissenschaft und Praxis zusammenzubringen, bot die Konferenz ein Forum, auf dem die Perspektiven von herausragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf der einen Seite sowie wichtigen Entscheidungsträgerinnen und -trägern der EU-Arbeitsmarktpolitik auf der anderen Seite präsentiert wurden. Nach zwei Grußworten von Stephan Heuke, dem stellvertretenden Leiter des Bereichs Internationales in der Zentrale der Bundesagentur für Arbeit, und IAB-Direktor Bernd Fitzenberger folgten zwei wissenschaftliche Grundsatzreden von Jutta Allmendinger, der Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin, und Christian Dustmann, Professor für Volkswirtschaftslehre am University College London und Direktor von CReAM (Centre for Research and Analysis of Migration). Politische Grundsatzreden wurden von Dennis Radtke, Mitglied des Europäischen Parlaments, und Prof. Dr. László Andor von der Corvinus-Universität Budapest und ehemaliger EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration gehalten. Etwa 40 weitere Vorträge wurden in 12 Sessions präsentiert. Den Abschluss der Konferenz bildete eine Podiumsdiskussion zum Thema „Berufsausbildung und Arbeitsmarktübergänge: Das Zukunftsmodell für Europa?“.
Stephan Heuke: „Eine tragische Folge der Covid-19-Pandemie scheint ein echtes Misstrauen gegenüber der Wissenschaft als Basis für politische Entscheidungen zu sein“
In seiner kurzen Begrüßungsrede in der Meistersingerhalle betonte Stephan Heuke, Direktor und stellvertretender Leiter des Bereichs Internationales in der Zentrale der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg, den Premierencharakter der Veranstaltung und zeigte sich erfreut, dass das IAB eine Mischform gefunden habe, so dass diese lange geplante Konferenz doch noch stattfinden könne.
Misstrauen gegenüber der Wissenschaft
Demokratischer Austausch sei gerade in dieser Zeit wichtig, betonte Heuke. Er sprach eine tragische Folge der COVID-19-Pandemie an: das wachsende Misstrauen von Teilen der Öffentlichkeit und des politischen Spektrums gegenüber der Wissenschaft als Richtschnur für die politische Entscheidungsfindung. Man müsse aufpassen und verhindern, dass sich daraus keine echte Skepsis gegenüber der Wissenschaft oder gar der Moderne entwickle. Es sei wichtiger denn je, wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur innerhalb der Community, sondern auch mit der breiteren Öffentlichkeit zu teilen. Heuke versicherte, dass sich die Bundesagentur für Arbeit bei der Auswahl der richtigen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen – abgestimmt auf die spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Situation eines Bundeslandes oder einer Region – auf wissenschaftliche Erkenntnisse stütze. Die Erfahrung zeige, dass dies der einzig sinnvolle Ansatz sei, um eine positive Wirkung auf die Leistungsfähigkeit des Arbeitsmarktes und die soziale Stabilität zu erzielen. Er fügte hinzu, dass systematische und neutrale Bewertungen von Instrumenten und Politik auch die einzige Rechtfertigung dafür seien, so viel Geld für aktive Arbeitsmarktpolitik auszugeben, wie es Deutschland in der Vergangenheit getan habe. Heuke versicherte, dass sich der Mehrwert von Evaluationen wieder erweisen würde, wenn in Zukunft über Maßnahmen diskutiert werde, die Deutschland zur Abmilderung der aktuellen Krise ergriffen habe. Viele der angewandten Maßnahmen beruhten auf Erfahrungen und Auswertungen von Maßnahmen, die die Bundesagentur für Arbeit während der Finanzkrise 2008/2009 oder nach der Wiedervereinigung 1990 ergriffen hatte. Als markantestes Beispiel nannte er das Kurzarbeitergeldprogramm.
Ein Videocast des Vortrags finden Sie hier:
https://youtu.be/t9c99k7xy6w
Bernd Fitzenberger: „Wir beobachten einige beunruhigende Entwicklungen, die das Ausbildungssystem bedrohen“
In seiner Begrüßung skizzierte IAB-Direktor Professor Bernd Fitzenberger, PhD, die Schwierigkeiten von Übergängen in Pandemiezeiten, da der Arbeitsmarkt in dieser Krisensituation quasi eingefroren sei. Die Menschen wendeten individuelle Strategien zur Bewältigung von Übergängen an, unterstützt durch staatlich implementierte Maßnahmen. Als Beispiel nannte Fitzenberger den von der deutschen Regierung eingeführten Ausbildungsbonus. Als Einführung in das Konferenzthema erörterte Fitzenberger einige interessante Fragen zum Berufssystem in Deutschland. Das Berufsausbildungssystem sei hierzulande traditionell der wichtigste Weg für den Übergang von der Schule in den Beruf für Jugendliche, die nicht studieren wollen. Dies ist seiner Meinung nach der Grund für die niedrige Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland. Gleichwohl zeigt sich Bernd Fitzenberger mit Blick auf die Zukunft besorgt: „Wir beobachten einige beunruhigende Entwicklungen, die das Ausbildungssystem bedrohen.“ Zum einen sinke die Bereitschaft der Betriebe, Ausbildungsplätze anzubieten. Darüber hinaus gäbe es geschlechter- und migrationsspezifische Vorurteile: Weniger als 50 Prozent der Auszubildenden seien weiblich, mit Ausnahmen in bestimmten Branchen wie dem Gesundheitswesen oder der Pflege. Auch das Interesse von Migrantinnen und Migranten an einem Berufsabschluss sei geringer. Außerdem steige das Alter, in dem eine Berufsausbildung begonnen wird. Jugendliche verblieben länger im Schulsystem, insbesondere in Krisensituationen wie der COVID-19-Pandemie. Schließlich bleibe ein erheblicher Teil der gering qualifizierten Jugendlichen ohne Ausbildungsabschluss, was zu schlechten Zukunftsperspektiven auf dem Arbeitsmarkt führe.
Übergänge von der Schule in den Beruf von gering qualifizierten Jugendlichen
Fitzenberger hob in diesem Zusammenhang drei beispielhafte Forschungsarbeiten des IAB hervor. Zum einen die Studie „Berufliche Qualifizierungsmaßnahmen im Übergang von der Schule in den Beruf bei gering qualifizierten Jugendlichen in Deutschland“ von Juliane Achatz, Kerstin Jahn und Brigitte Scheels. Die besondere Qualität der Studie ist ihre Lebenslaufperspektive. Die Autorinnen der Studie fanden heraus, dass es eine kleine Anzahl von Jugendlichen gibt, deren Risikoverläufe durch einen sehr diskontinuierlichen Übergangsprozess gekennzeichnet sind. Vorberufliche Ausbildung in Kombination mit alternativen Berufsausbildungsprogrammen scheint den Übergang von der Schule ins Berufsleben bei Schulabgängern mit niedrigem Bildungsniveau zu erleichtern. Die laufende Forschung am IAB wird der Frage nachgehen, wie Übergangsmuster mit Arbeitsmarktergebnissen zusammenhängen und Veränderungen der Übergangsmuster von der Schule in den Beruf angesichts sich ändernder Makrobedingungen analysieren.
Umfrageergebnisse zu Schulschließungen während der COVID-19-Pandemie
Mit einer zweiten Studie, verfasst von Silke Anger und sechs weiteren Autorinnen und Autoren, präsentierte Fitzenberger Befunde zu den Leistungen und Aktivitäten deutscher Oberstufenschülerinnen und -schüler, als die Schulen während der COVID-19-Pandemie geschlossen waren. Als IAB-Forscher ein neu eingeführtes zusätzliches Berufsberatungsprogramm der Bundesagentur für Arbeit evaluierten, ergab sich als Nebeneffekt die Möglichkeit, die Schülerinnen und Schüler während der Pandemie zu ihren Erfahrungen mit den Schulschließungen zu befragen. In Bezug auf die Lernzeit kam die Analyse vor allem zu drei Schlussfolgerungen: Schüler lernten weniger als Schülerinnen, leistungsstarke Schülerinnen und Schüler lernten mehr und die Häufigkeit, mit der Schülerinnen und Schüler digitale Lernangebote erhielten, spielte eine wichtige Rolle dabei, wie viel sie lernten. In Bezug auf die Sorgen um ihre zukünftige Karriere aufgrund von Schulschließungen waren Schülerinnen mehr um die akademischen Leistungen und ihre zukünftige Karriere besorgt als Schüler. Frühere Studien mit experimentellen Untersuchungen hatten diese höhere Risikoaversion auch bei Studentinnen im Vergleich zu Studenten gezeigt. Leistungsschwache Schülerinnen und Schüler machten sich mehr Sorgen um ihre akademischen Leistungen und ihre zukünftige Karriere als leistungsstarke. Insofern könnten die Schulschließungen die bereits bestehende soziale Ungleichheit bei den Bildungsresultaten im Schulsystem verschärfen.
Kein Ausweg oder kein Einstieg durch Standardisierung und Lizenzierung?
Fitzenberger stellte eine dritte Studie mit dem Titel „Kein Weg heraus oder kein Weg hinein? Der Effekt von Standardisierung, Lizenzierung und besonderen Fähigkeiten des Anfangs- und Zielberufs auf die Statusmobilität“ von Basha Vicari und Stefanie Wagner vor. In dieser Studie untersuchten die Autorinnen die Übergangsmuster zwischen Berufen. Sie untersuchten, wie drei Merkmale die berufliche Mobilität behindern oder fördern und fanden heraus, dass diese einen großen Einfluss haben. Die Mobilität war höher, wenn die Barrieren im Ausgangs- oder im Zielberuf vorlagen, aber nicht in beiden. Die Mobilität war geringer, wenn einige Faktoren auf beide zutrafen. Die größte Auswirkung auf die Mobilität wurde für die Lizenzierung und die Besonderheit der Fähigkeiten festgestellt. Standardisierung spielte eine geringere Rolle.
Ein Videocast des Vortrags finden Sie hier:
https://youtu.be/py-LENLd69Q
Jutta Allmendinger: „Vor allem die junge Generation wird noch lange Zeit an den Folgen der COVID-19-Pandemie zu tragen haben“
Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin, betrachtete die COVID-19-Pandemie aus der Perspektive von Lebenslauftheorien. Sie argumentierte, dass der in Zeitungen oft verwendete Begriff „Generation Covid“ oder “Generation Zoom“ falsch sei, da nicht nur die Jungen betroffen seien. Sie sagte, dass dies eher ein Periodeneffekt sei, der alle betreffe, als ein Kohorteneffekt, auch wenn vor allem die junge Generation noch lange an den Folgen der Krise zu tragen haben werde. Ihrer Meinung nach sind diese Folgen vielfältig: Anstieg der Arbeitslosigkeit, Verlust von Arbeitszeit, Verrentung, andere Verteilung der Hausarbeit. Aber es sei mehr als das. Viele Studien analysierten die Krise und ihre Auswirkungen in Bezug auf Zufriedenheit, Einsamkeit, Teilhabe und Integration, Familienbildung, Fruchtbarkeit, Scheidungsraten und auch Tod.
In ihrer Grundsatzrede gab Allmendinger einen Überblick über verschiedene Studien zu den Auswirkungen der Pandemie. Die Pandemie treffe nicht alle Menschen in gleichem Maße. Kleinkinder würden im Laufe ihres Lebens vermutlich am meisten leiden. Sie hätten ihr gewohntes Terrain, die Interaktion mit Fremden und die Kinderbetreuung verloren. Was die Schulkinder betrifft, so gebe es eine zunehmende Kluft im Bildungs- und Kompetenzniveau der Kinder, je nachdem, in welchem Haushalt sie aufwachsen. Allmendinger nahm ihre Familie als Beispiel: „Mein Sohn und ich haben zum Beispiel unsere Abiturzeugnisse quasi schon vor der Geburt erhalten, weil wir beide in akademischen Familien aufgewachsen sind und es ziemlich unwahrscheinlich war, dass wir keinen Abiturabschluss schaffen würden.“ Sie sagte, dass gebildete Eltern in der Lage seien zu helfen und sich die Zeit für den Hausunterricht nähmen. Weniger gebildete Personen schämten sich oft, dies nicht zu können. Die mangelnde Ausbildung und der fehlende Kompetenzzuwachs der letzten sieben Monate würden in den nächsten Jahren nicht geheilt, so Allmendinger. „Diese Narben werden lange sichtbar sein.“
Allmendinger: „Bildung ist der Schlüssel“
Gehe man einen Schritt weiter zum Übergang von der Schule in die Berufsausbildung warnte Allmendinger, dass schlecht ausgebildete Personen keine Möglichkeit haben werden, die Schule weiter zu besuchen. Sie müssten sich mit den Lehrstellen begnügen, was zu einem großen Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage führen kann. Mit Blick auf den Übergang von der Ausbildung in den Beruf warnte sie, dass die Jugendarbeitslosigkeit wahrscheinlich noch stärker zunehmen werde als aktuell. Für die Menschen im Berufsleben hält sie Bildung für den Schlüssel: „Besser ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer arbeiten vor allem zu Hause, schlecht ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit geringem Einkommen sind vor allem in Kurzarbeit. Eine sehr klare Trennung und deutliche Spaltung des Arbeitsmarktes.“ Auch Haushaltszusammensetzung, Geschlecht und Migrantenstatus machten einen großen Unterschied. Eine der größten Herausforderungen für Deutschland sei jedoch die sich abzeichnende größere Kluft zwischen qualifizierten und ungelernten Arbeitskräften. Bislang profitierten gebildete Menschen von besseren Arbeitsbedingungen, höherem Einkommen, größeren Netzwerken, besserer Gesundheit und längerer Lebenserwartung. Die andere große und seit langem bekannte Herausforderung, die während der Pandemie deutlich hervortrat, sei die Notwendigkeit, die Arbeitsbedingungen und die Löhne derjenigen zu erhöhen, die in der Pflege und anderen vergleichbaren Jobs beschäftigt sind.
Arbeitsplatz und soziale Interaktion
Mit Hinweis auf ihre Rolle als Soziologin wies Allmendinger auf die Gefahr eines weiteren Verlustes des gesellschaftlichen Zusammenhalts hin, da der Wehr- und Zivildienst, das Engagement in den Kirchen oder in den politischen Parteien abnehme. Ihrer Meinung nach werde die Arbeit als Ort der sozialen Interaktion immer wichtiger. Der Arbeitsplatz sei der Ort, an dem sich Menschen treffen und sehen, wie sich andere Menschen verhalten. Dies sei die Basis für die Entwicklung von Vertrauen und die Grundlage für Demokratie. Allmendinger rief auf, gleichwertige Orte zu schaffen, an denen sich Menschen treffen können. In Deutschland entwickelten sich mit Initiativen wie „Nachbarshilfe.de“ einige Ansatzpunkte. Allerdings gebe es dafür zu wenig öffentliche Unterstützung.
Herausforderungen für die Forschung
Allmendinger ging hart mit ihrer eigenen Zunft ins Gericht. Sie sagte, dass die Pandemie eilige Beratungsanfragen aus der Politik mit sich gebracht habe. Die Forscherinnen und Forscher hätten die verschiedenen Ergebnisse nicht einmal miteinander verglichen, bevor sie in den Medien und der Politik präsentiert wurden. Dies sei kein erfolgversprechender Weg für die Wissenschaft und berge Gefahren im Hinblick auf die gesellschaftliche Legitimation der Wissenschaft. Die Wissenschaft dürfe die Macht, wissenschaftliche Ergebnisse einzuordnen, weder an Politiker noch an Journalistinnen abgeben. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollten zunächst ihre Datensätze zusammenführen, sie vergleichen und versuchen herauszufinden, warum sich ein Ergebnis vom anderen unterscheidet. Allmendinger schlug Plattformen vor, um die wissenschaftliche Gemeinschaft fachübergreifend und international besser zu organisieren.
Herausforderungen für die öffentliche Politik
Allmendinger forderte, viel mehr in die Digitalisierung zu investieren, in kombinierte Möglichkeiten, Kinder digital und persönlich zu unterrichten. Sie forderte mehr Innovation für Schulen: „Wir haben so viele intelligente Dinge erfunden, die dem Arbeitsmarkt helfen. Warum nicht auch für Schulen?“.
Wichtig ist laut Allmendinger auch die berufliche Weiterbildung. Da Kurzarbeit die Menschen an die Betriebe binde und die berufliche Weiterentwicklung verlangsame, solle Kurzarbeit mit Weiterbildung verknüpft werden. Da Bildung eine sehr starke Säule der Sozialpolitik sei, plädierte Allmendinger für die Einbeziehung von Bildung in alle politischen Maßnahmen. Vor allem forderte sie, Familien, Kinder und Frauen an die erste Stelle zu setzen. Sie sagte, dass die Krise genutzt werden sollte, um eine gleichmäßigere Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeitszeit zwischen den Geschlechtern zu erreichen.
In ihrem Schlusswort zitierte Allmendinger eine Umfrage, die zeigt, was die Covid-19-Krise für rund ein Drittel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer Gutes gebracht hat, das bewahrt werden sollte: die positiven Auswirkungen auf das Klima, die Entschleunigung des Lebens, mehr Zeit für die Familie und mehr Freizeit. Allmendinger plädierte dafür, diese Ansichten und Werte ernst zu nehmen und in eine neue Art des Arbeitens und Lebens in der Zukunft einfließen zu lassen.
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https://youtu.be/MrzFyiBMwUU
Christian Dustmann: „Generell legen die Ergebnisse nahe, dass höhere Unternehmenssteuersätze den Beschäftigten nicht zugutekommen“
Christian Dustmann, Professor für Wirtschaftswissenschaften am University College London und Direktor des Centre for Research and Analysis of Migration (CReAM), analysierte in seiner Grundsatzrede die Auswirkungen von Änderungen in der Unternehmensbesteuerung auf Firmen, Beschäftigte und lokale Arbeitsmärkte. Mithilfe von Daten aus Deutschland untersucht er, wie sich Veränderungen in der Besteuerung von Unternehmen auf lokale Arbeitsmärkte, Unternehmen und Beschäftigte auswirken.
Die Motivation für sein Forschungsprojekt – eine gemeinsame Arbeit mit Mimosa Distefano (UCL, CReAM) und Uta Schönberg (UCL, IAB, CReAM,) – war die Beobachtung, dass die Steuersätze auf Unternehmensgewinne in vielen Ländern abgesenkt wurden (etwa unter Donald Trump im Jahr 2018). Dies zielte vor allem darauf ab, Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten. Die Studie untersucht Veränderungen in den Gewerbesteuersätzen der Unternehmen in verschiedenen Gemeinden in Deutschland im Verlaufe von 15 Jahren. Zwischen 1999 und 2014 gab es 7.299 Änderungen in 9.207 Gemeinden. Die Forscherinnen und Forscher analysierten im Wesentlichen vier Aspekte: Wie passt sich die Beschäftigung an? Wie passen sich die Löhne an? Was ist die Quelle von Lohnanpassungen? Welche Unternehmen reagieren stärker? Die Studie kam zu dem Schluss, dass eine Erhöhung des Gewerbesteuersatzes um ein Prozent die Beschäftigung in der Gemeinde, die Gesamtmobilität (Zu- und Abwanderung), die Löhne in der Gemeinde, die Löhne in den Betrieben und das Lohnwachstum reduziere. Die Beschäftigungseffekte seien bei größeren Betrieben und bei Betrieben mit höherem Lohnniveau stärker. Diese stellten dann weniger Personal ein. Dies wiederum erschwere den Beschäftigten den Wechsel zu anderen Firmen und damit auch die Möglichkeit, höhere Löhne auszuhandelen. Diese Entwicklung reduziere also das Lohnwachstum, verringere die Mobilität und behindere optimale Jobbesetzungen.
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https://youtu.be/XyZhIySqRdI
Sollten Unternehmenssteuersätze niedrig sein?
Dustmann betonte, dass seine Forschung keine Wohlfahrtsanalyse sei. Wohlfahrtsforschung müsse berücksichtigen, wie die zusätzlichen Steuereinnahmen ausgegeben werden. Die Gemeinden erhöhten die Steuern, um die generierten Einnahmen für den Bau von Schulen, Krankenhäusern und Ähnlichem auszugeben. Er sagte, dass die Schlussfolgerung aus seiner Studie nicht sein könne, dass eine Erhöhung der Unternehmenssteuern notwendigerweise immer schlecht für das Allgemeinwohl sei. Dustmann kam jedoch zu folgendem Schluss: „Die Ergebnisse deuten generell darauf hin, dass höhere Gewerbesteuersätze den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die in diesen Gemeinden arbeiten, finanziell nicht zugutekommen.“ Grund sei unter anderem eine geringere Mobilität der Arbeitskräfte aufgrund rückläufiger Neueinstellungen, insbesondere bei Unternehmen mit hohem Lohnniveau. Auch die Aufstiegsmöglichkeiten würden geschmälert.
Dennis Radtke: „Jugendarbeitslosigkeit ist in der EU seit langem ein Problem“
Dennis Radtke, seit 2017 Mitglied des Europäischen Parlaments in der Europäischen Volkspartei und Koordinator des Parlamentsausschusses „Beschäftigung und Soziales“, gab in seiner Keynote einen Überblick über die Situation der Jugendarbeitslosigkeit in der Europäischen Union (EU). Er betonte: „Die Jugendarbeitslosigkeit ist seit langem ein Problem in der EU.“ Vor allem die Finanzkrise habe den Kampf der jungen Menschen um einen Arbeitsplatz oder eine Ausbildungsmöglichkeit verschärft. Die Covid-19-Pandemie verstärke dieses Problem. Er fügte hinzu, die Finanzkrise habe gezeigt, dass gerade die Jüngsten in der Gesellschaft mit am stärksten unter Krisen zu leiden hätten.
Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit fällt in die Verantwortung der EU
Die Jugendarbeitslosigkeit müsse bekämpft werden, da sie die gesamte Gesellschaft betreffe. Auf EU-Ebene sei diskutiert worden, ob Thema überhaupt auf EU-Ebene entschieden werden müsse oder nicht viel mehr in den Verantwortungsbereich der Mitgliedsstaaten falle. In einigen Mitgliedsstaaten sei das Problem jedoch zu groß. Nach Ansicht von Radtke wäre es ein fatales Signal, wenn die EU nichts täte. Jugendarbeitslosigkeit habe viele negative soziale Folgen wie psychologische und gesundheitliche Probleme, soziale und kulturelle Isolation, Stigmatisierung, familiäre Spannungen und Konflikte, Alkohol- und Drogenmissbrauch. Daraus könne ein Teufelskreis entstehen, der nicht nur die jungen Individuen selbst, sondern zumindest auch ihre Familie betreffe. Radtke forderte, dass junge Menschen davor bewahrt werden müssten, in diesen Teufelskreis abzurutschen und betroffene Menschen unterstützt werden müssten, um aus diesem herauszukommen.
Ein Videocast des Vortrags finden Sie hier:
https://youtu.be/venTNRZeA94
Das neue europäische Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit
Im Jahr 2013 startete die EU das Programm „Jugendgarantie“. Obwohl nicht alle Ziele erreicht werden konnten, wertete Radtke das Programm als Erfolg. Zwischenzeitlich schlug die EU-Kommission ein weiterentwickeltes Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit vor. Vor dem Aufsetzen des neuen Programms werde das bisherige Programm ausgewertet. Eine wichtige Lektion aus dem ersten Programm sei die Sicherstellung von Qualitätsstandards: keine Kurzzeitausbildung, sondern Qualitätsjobs und Qualitätsausbildung. Dieser Ansatz entspreche dem europäischen Gesetzentwurf für soziale Rechte, den die EU ins Leben gerufen habe, und seiner nationalen Umsetzung. Eine weitere wichtige Erkenntnis aus dem ersten Programm sei, dass die Sozialpartner von Anfang an mit einbezogen werden sollten.
Als seine persönliche Motivation nannte Radtke die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, die in einigen EU-Mitgliedsstaaten beinahe 40 Prozent betrage. Er sehe in dieser Situation eine Gefahr für die Demokratie in Europa, nicht zuletzt, weil rechte Parteien von solchen Entwicklungen profitierten. Radtke betonte, er wolle den jungen Menschen eine Perspektive und eine lebenswerte Zukunft bieten. Andernfalls sei die Demokratie gefährdet.
Lázló Andor: „SURE ist ein effektiver fiskalischer Muskel der Europäischen Union“
Lázló Andor, Professor an der Corvinus-Universität in Budapest und ehemaliger EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration von 2010 bis 2014, hielt eine Grundsatzrede zum Schutz von Arbeitsplätzen und Einkommen während der Pandemie. Er betonte, wie wichtig es sei, diese Krise mit früheren zu vergleichen. Die große Rezession im Gefolge der Finanzkrise hatte verheerende Auswirkungen auf die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt. Die europäischen Politiker hätten Lehren aus der vergangenen Krise gezogen. Dieses Mal sei die europäische Reaktion gekennzeichnet von Solidarität. Die EU habe ein neues haushaltspolitisches Instrument geschaffen, das antizyklische Interventionen ermögliche. Es sei in der Lage, eine stabilisierende Funktion zu übernehmen, was historisch gesehen keine Aufgabe für die EU sei. Nun sei es der EU erlaubt, den Mitgliedsstaaten Kredite zu gewähren. Dies sei absolut grundlegend für die makroökonomische Stabilisierung und helfe, die wirtschaftliche Erholung und die Beschäftigung zu fördern.
Die neue europäische Krisenreaktion: SURE
Nichts symbolisiere dies besser als das neue europäische Instrument „SURE – temporary Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency“. Die EU sei 2012 mit Empfehlungen und auch mit Programmen wie der „Jugendgarantie“ vorgeprescht. Allerdings sei es für die damalige Krise zu spät aufgelegt worden. Diesmal brachte die EU das neue Instrument „SURE“ sehr schnell auf den Weg. Ziel sei es, Beschäftigung zu erhalten, betonte Andor. „SURE“ sei keine Arbeitslosenunterstützung. Es handele sich um eine zeitlich befristete Förderregelung der EU. Das neue Instrument sei in der Lage, schnelle Hilfe seitens der EU zu leisten. Das Budget belaufe sich auf 100 Milliarden Euro, vergleichbar mit dem Budget des ESF plus. Es solle die nationalen Bemühungen ergänzen, die Voraussetzung seien, um diese zusätzliche Unterstützung zu erhalten.
Von der internen zur externen Flexibilität
Andor betonte, dass „SURE ein effektiver fiskalischer Muskel sei, der zusätzlich zu den Empfehlungen der EU angewendet werde, um interne statt externe Flexibilität zu ermöglichen.“ Das Programm stehe für eine echte Solidarität mit den Mitgliedsstaaten. Zwei Drittel der Staaten hätten bereits um Unterstützung gebeten. Es handele sich dabei nicht nur um eine Wohltätigkeitsmaßnahme, vielmehr gehe es dabei vor allem auch um handfeste ökonomische Vorteile. Andor erklärte, dass es theoretisch vier Stellschrauben, um sich an eine krisenbedingt schrumpfende Arbeitsnachfrage anzupassen: Beschäftigung, Arbeitseinkommen, Arbeitszeit oder Ruhestand. In den 1990er Jahren war die häufigste Antwort auf eine Krise die Reduzierung der Beschäftigung, die sogenannte externe Flexibilität. Die Erfahrungen aus der vorangegangenen Krise und die politische Entwicklung hätten jedoch viele überzeugt, dass Arbeitszeitreduzierung die beste Form der Anpassung an die schrumpfende Nachfrage nach Arbeitskräften sei.
Andor fordert Rückversicherungssystem
Andor lobte die mittlerweile weit verbreiteten Kurzarbeitsregelungen als wichtigen Bestandteil der sozialen Sicherungssysteme. Um noch bestehende Sicherungslücken zu schließen, forderte Andor ein Rückversicherungssystem und eine EU-Gesetzgebung zur Unterstützung von jungen Menschen, prekär Beschäftigten sowie Migranten und Migranten innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten. Andor kam zu dem Schluss, dass die EU generell die Lehren aus den vergangenen Krisen gezogen habe und nun über ein vielfältiges Instrumentarium verfüge, das es zu nutzen und weiterzuentwickeln gelte.
Ein Videocast des Vortrags finden Sie hier:
https://youtu.be/YIav3WgBqkE
Podiumsdiskussion: Ist das deutsche duale Ausbildungssystem ein Modell für andere Länder?
In einer Podiumsdiskussion, moderiert Dr. Tobias Kaiser, Korrespondet der Zeitung DIE WELT, tauschten sich vier Expertinnen und Experten über ihre Erkenntnisse zur Berufsausbildung in Deutschland und anderen Ländern aus und diskutierten, inwiefern das deutsche Modell als Vorbild für andere Länder fungieren könnte.
Nicola Brandt: „Arbeitsgeber müssen in Ausbildung investieren“
Dr. Nicola Brandt, Leiterin des OECD Berlin Centre, die online aus Berlin an der Diskussion teilnahm, verwies auf die Stärke des dualen Ausbildungssystems in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Elemente der betrieblichen Ausbildung und der Einbindung der Sozialpartner in die Festlegung der Inhalte des Berufsschullehrplans resultieren laut Brandt in hohen Beschäftigungsraten für Absolventen (beispielsweise 88 Prozent in Deutschland). Arbeitgeber und Auszubildende müssten allerdings bereit sein, hier auch zu investieren. In den angelsächsischen Ländern sei dies infolge der sehr flexiblen Arbeitsmärkte schwieriger. Aufgrund der Tatsache, dass vom Arbeitgeber ausgebildete Beschäftigte den Betrieb häufig nach Abschluss der Ausbildung verließen, zahlten sich derartige Investitionen dort nicht in gleichem Maße aus. In Ländern wie Polen oder Tschechien seien die Firmen häufig sehr viel kleiner als der deutsche Mittelstand, sodass der Verwaltungsaufwand bei der Abstimmung mit den Berufsschulen sehr groß sei. Australien habe dieses Problem gelöst, indem Gruppenausbildungsverbände gegründet wurden, die beispielsweise Einstellungen, Austausch mit den Berufsschulen, Anträge für Zuschüsse für kleine Firmen organisieren. In Österreich und Norwegen tun sich kleine Firmen zusammen und „teilen“ sich jeweils einen Auszubildenden oder eine Auszubildende, um gemeinsam alle Bereiche der Ausbildung abzudecken.
Norbert Schöbel: „Die Europäische Union fördert die Berufsausbildung in den Mitgliedsstaaten“
Norbert Schöbel, Teamleiter für Berufsausbildung und Erwachsenenbildung bei der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Inklusion der EU-Kommission (EMPL), der von Brüssel aus teilnahm, skizzierte die Bemühungen der Europäischen Union, die Berufsausbildung in allen Mitgliedsstaaten zu fördern, was angesichts des besorgniserregenden Anstiegs der Jugendarbeitslosigkeit auf 15 Prozent im Zuge der Corona-Krise umso wichtiger sei. Die Europäische Kommission habe zahlreiche Dokumente übernommen, die dazu beitragen sollen, eine Brücke zwischen Schule und Arbeit, zwischen Jugendarbeitslosigkeit und Beschäftigung oder Lehre, Praktikum oder Ausbildung zu bauen. Die neue Strategie der Europäischen Kommission umfasse demnach unterstützende Strukturen in den Mitgliedsstaaten, in denen auf Regierungsebene und auf Ebene der Sozialpartner zusammengearbeitet werde. Insbesondere betrachte er die regionale und lokale Ebene als Katalysatoren, nicht zuletzt deshalb, weil diese selbst wichtige Arbeitgeber seien.
Schöbel stellte ein neues Modell vor, das von den öffentlichen Arbeitsvermittlungen eingeführt wurde: eine Kombination aus Benchmarking und Peer Learning mit dem Ziel, die Mitgliedsstaaten beim Aufbau oder der Weiterentwicklung von Ausbildungssystemen zu unterstützen.
Christian Dustmann: „Arbeitgeber müssen sich zu einer hochwertigen Ausbildung verpflichten“
Prof. Christian Dustmann, PhD, Forscher am University College London, warf die Frage auf, warum Deutschland so erfolgreich bei der Anwerbung vieler Jugendlicher für Ausbildungsplätze sei, während Großbritannien Schwierigkeiten habe, ein entsprechendes System zu entwickeln. Er wies darauf hin, dass sich Arbeitgeber zur einer hochwertigen Ausbildung und zu den damit verbundenen Investitionen verpflichten müssten, da die Auszubildenden selbst auch in erheblichem Maße investierten. Schließlich seien die Löhne während der Ausbildung sehr viel geringer, als wenn sie als ungelernte Arbeitskräfte direkt in den Arbeitsmarkt einstiegen. Was die Auszubildenden als Gegenleistung erwarteten, seien wertvolle Kenntnisse, die sich später am Arbeitsmarkt auszahlten. Laut Dustmann gebe es in Großbritannien immer wieder Versuche, die Attraktivität der Ausbildungsprogramme zu verbessern, indem Arbeitgeber subventioniert würden, damit sie Auszubildende anstellen und bezahlen könnten. Dustmann warnte, dass dadurch die Qualität der Ausbildung nicht verbessert werde. Um die Berufsausbildung attraktiver zu gestalten, seien Engagement, vergleichbare Prüfungen, Transparenz und eine Verpflichtung zu Qualität erforderlich.
Bernd Fitzenberger: „Eine steigende Anzahl an Schulabsolventen streben Hochschulabschlüsse an“
Bernd Fitzenberger, Direktor des IAB und Professor für Ökonometrie an der Humboldt-Universität in Berlin, nahm vor Ort an der Diskussion teil. Als „großer Fan“ des Berufsausbildungssystems hob er einige kritische Aspekte des deutschen Modells hervor, die wichtig seien, um dessen Überleben zu gewährleisten.
Die Bereitschaft der Firmen, Lehrstellen anzubieten, habe sich im Laufe der Zeit stetig verringert. Wenn sich Firmen auf eine gute Ausbildung konzentrierten, könnten sie die Auszubildenden nicht mit optimaler Produktivität einsetzen. Die Nettokosten der Ausbildung würden sich in der Zukunft auszahlen, wenn die Firmen eine ausreichende Zahl an guten Auszubildenden mit guter Schulbildung gewinnen könnten. Der Erfolg des Berufsausbildungssystems sei in hohem Maße davon abhängig, dass die Jugendlichen dieses nutzten. Immer mehr Schülerinnen und Schüler strebten allerdings eher akademische Abschlüsse wie Abitur und eine Universitätsausbildung an. Des Weiteren habe sich das Einstiegsalter in den letzten Jahrzehnten nach oben entwickelt. Die Jugendlichen seien zurückhaltend, was die Wahl eines bestimmten Berufes angehe, obwohl die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt zeige, dass eine Berufsausbildung zu einer breiten Wissensbasis führt und nicht nur spezifische Kenntnisse umfasst. Fitzenberger zeigte sich besorgt über die möglichen Entwicklungen im Zuge der Corona-Krise. Während der Finanzkrise 2008/2009 fiel die Zahl der von den Firmen angebotenen Lehrstellen um etwa zehn Prozent und stieg danach nicht wieder an.
Die Lehre als Ausbildungsweg für Verlierer?
Norbert Schöbel wies darauf hin, dass das Berufsausbildungssystem in Ländern wie Belgien ein Image-Problem habe. Dort werde es als Ausbildungsweg für Verlierer angesehen. Eine Berufsausbildung, so Nicola Brandt scherzhaft, werde immer den Kindern der anderen empfohlen, aber nie den eigenen. Zwar wurde angemerkt, dass die Verdienstaussichten für Auszubildende geringer seien als die von Universitätsabsolventen. Dennoch könnten auch Absolventen einer Berufsausbildung Weiterbildungsmöglichkeiten wie spezifische Bachelor-Programme nutzen oder eine Ausbildung zum Meister machen.
Ein Diskussionsteilnehmer der Universität Bamberg stellte die Frage, ob durch das System bestehende Ungleichheiten verstärkt würden, insbesondere im Hinblick auf die Schichtzugehörigkeit oder einen etwaigen Migrationshintergrund. Personen mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status begännen laut Nicola Brandt eher eine Berufsausbildung und blieben dann wahrscheinlich auch in diesem Segment. Die Möglichkeiten der Weiterbildung im Laufe der Karriere seien jedoch wichtige Chancen, die genutzt werden könnten.
Das duale Ausbildungssystem bietet eine multi-dimensionale Talententwicklung
Christian Dustmann verwies auf die multi-dimensionale Fähigkeitenentwicklung im Berufsausbildungssystem im Vergleich zum akademischen System. Abiturientinnen und Abiturienten mit gutem Raumvorstellungsvermögen, die kreativ und handwerklich begabt seien, könnten diese Anlagen und Fähigkeiten im akademischen System nicht weiterentwickeln. Diese gingen dann nicht nur für die jeweilige Person, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt verloren.
Bernd Fitzenberger warnte, dass das Berufsausbildungssystem nur überleben könne, wenn es sich fortlwährend an die Praxis anpasse sowie allgemeine und spezifische Fähigkeiten kombiniere. Die allgemeinen Fähigkeiten würden den Absolventen einer Berufsausbildung dann auch helfen, in Zeiten des digitalen und technologischen Wandels erfolgreich zu sein.
Ein Diskussionsteilnehmer stellte die Frage, wie das deutsche System in anderen Ländern nachgebildet werden könne. Nicola Brand antwortete, dass sie eine Nachbildung nicht empfehle. Länder mit einem großflächig schulbasierten System könnten jedoch Arbeitgeber einbinden, um einen Lehrplan zu definieren und so die Komponente des Lernens am Arbeitsplatz zu stärken.
Sessions
Ein wichtiger Teil der Hybridkonferenz waren die zwölf separaten Sessions, in denen weitere 40 Vorträge präsentiert wurden. Eine von Dr. Malte Sandner moderierte Session widmete sich den „Übergängen in und aus der Ausbildung, Arbeitslosigkeit, Beschäftigung und Bildung“. Dr. Ute Leber leitete eine Session zum Thema „Arbeitssuche und Löhne“. Prof. Dr. Silke Anger leitete eine Session zum Thema „Qualifikation, technischer Wandel und berufliche Mobilität“. Eine andere Mobilitätsperspektive bot die Session zu „sozialer Mobilität und Armut“, die von Dr. Alexander Patzina geleitet wurde. Weitere Sessions zum Thema „Armut“ – dieses Mal in der EU – unter dem Vorsitz von Basha Vicari und zum Thema „Migration“ unter dem Vorsitz von Dr. Lisa Leschnig boten eine internationale Perspektive auf Arbeitsmarktübergänge. Die spezifischen Sessions zu „Übergängen in den Ruhestand“ und in die und aus der „Elternschaft“ wurden von Dr. Basha Vicari und Dr. Lisa Leschnig geleitet.
Hier finden Sie eine Übersicht und kurze Zusammenfassungen zu allen 12 Sessions.
Winters, Jutta (2021): Arbeitsmarktübergänge in Krisenzeiten, In: IAB-Forum 22. Januar 2021, https://www.iab-forum.de/arbeitsmarktuebergaenge-in-krisenzeiten/, Abrufdatum: 18. December 2024
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Autoren:
- Jutta Winters