30. September 2020 | Bildung vor und im Erwerbsleben
Berufsorientierung durch Schulen und Arbeitsagenturen ist für Jugendliche mit Migrationshintergrund besonders wichtig
Mit über 300 anerkannten Ausbildungsberufen und über 20.000 Studiengängen steht Jugendlichen und jungen Erwachsenen zum Ende ihrer Schulzeit eine Vielzahl an beruflichen Optionen offen. Dies eröffnet ihnen zwar viele Chancen, kann sie aber auch vor große Herausforderungen stellen. Um Fehlentscheidungen bei der Berufswahl vorzubeugen und damit auch Ausbildungs- oder Studienabbrüche zu vermeiden, ist eine unterstützende Beratung bei der Berufsorientierung sinnvoll.
Grundsätzlich stehen Schülerinnen und Schülern zahlreiche Informationskanäle zur Verfügung. Außer dem privaten Umfeld, also der Familie und dem Freundeskreis, stellen vor allem Schulen, vielfach in Kooperation mit den Arbeitsagenturen, wichtige Informations- und Beratungskanäle dar.
Neben der Berufsorientierung in der Klasse und der Einzelberatung durch Lehrkräfte oder Berufsberater in der Schule können Jugendliche auch Beratung außerhalb der Schule erhalten, zum Beispiel in einem Berufsinformationszentrum der Bundesagentur für Arbeit oder mithilfe deren digitaler Medien und beruflicher Eignungstests.
Eine aktuelle Studie von Bernd Fitzenberger, Annette Hillerich-Sigg und Maresa Sprietsma zeigt, dass Haupt- und Realschüler umso eher einen konkreten Wunschberuf haben, je intensiver sie Leistungen der Berufsberatung in und außerhalb der Schule in Anspruch genommen haben. Die Studie hat auch nachgewiesen, dass eine stärkere Unterstützung durch die Berufsberatung der Arbeitsagenturen im Schnitt zu mehr Bewerbungen auf einen Ausbildungsplatz führt.
Praktika oder Probearbeitstage in Betrieben können die Entscheidung für einen Ausbildungsberuf ebenfalls erleichtern. Dabei spielen außerfamiliäre Orientierungsangebote gerade für diejenigen Jugendlichen eine wichtige Rolle, die zu Hause nur wenig Unterstützung erfahren. Eine besondere Relevanz dürften sie auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund haben, deren Eltern über geringe Kenntnisse der deutschen Sprache und des deutschen (Aus-)Bildungssystems verfügen.
Umso problematischer ist es, dass viele Maßnahmen der Berufsorientierung aufgrund der Covid-19-Pandemie nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen stattfinden konnten. Dies betrifft etwa persönliche Beratungsangebote oder Berufsorientierungsmessen und Praktika, die häufig abgesagt werden mussten.
Die meisten Jugendlichen nutzen mehrere Informationskanäle
Welche Angebote Jugendliche bei ihrer Berufswahl nutzen und für wie relevant sie diese halten, zeigen Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS), die zwischen 2010 und 2017 erhoben worden sind. Dabei wurden Jugendliche und junge Erwachsene, die die Schule bereits verlassen hatten, gefragt, an welchen Aktivitäten der Berufsorientierung sie während ihrer Schulzeit teilgenommen hatten. Hierbei standen acht Informationskanäle zur Auswahl (siehe Infokasten „Daten und Methoden“):
- Praktika
- Beratung in Schulklassen
- Einzelberatung
- Bewerbungstrainings
- Eignungstests
- Berufsmessen
- Besichtigungstage
- Schnuppertage/Probearbeitstage.
Tatsächlich nutzten die befragten Jugendlichen mehrheitlich mindestens die Hälfte dieser Informationsmöglichkeiten. Während Haupt- und Realschulabsolventen durchschnittlich etwa fünf dieser Angebote wahrnahmen, waren es unter den Jugendlichen mit (Fach-)Hochschulreife im Mittel vier. Allerdings stehen angehenden (Fach-)Abiturienten weitere studienbezogene Beratungsangebote wie Informationstage an Hochschulen zur Verfügung, die hier nicht betrachtet wurden.
Praktika und Beratung in den Schulklassen sind die meistgenutzten Angebote
Die beiden am häufigsten wahrgenommenen Angebote waren – über alle Schulformen hinweg – Praktika und entsprechende Beratung in den Schulklassen (siehe Abbildung 1). Jugendliche mit (Fach-)Hochschulreife nutzten nahezu alle Angebote signifikant seltener als Jugendliche mit Haupt- oder Realschulabschluss. Insbesondere Einzelberatungsgespräche mit Lehrkräften oder Berufsberaterinnen und -beratern wurden von dieser Gruppe seltener wahrgenommen als von Schülerinnen und Schülern der anderen Schulformen. Dasselbe galt für Maßnahmen der Berufsorientierung in der Schulklasse und Bewerbungstrainings.
Bei Bewerbungstrainings kann dies daran liegen, dass diese für Jugendliche, die studieren möchten, vergleichsweise wenig relevant sind, wenn sie die Schule verlassen. Erstaunlich ist jedoch, dass (Fach-)Abiturienten auch seltener Einzelberatungsgespräche etwa mit dem Lehrer oder der Berufsberaterin nutzen, die sich nicht auf Ausbildungsmöglichkeiten beschränken, sondern auch bei der Entscheidung für einen Studiengang von Bedeutung sein können. Dies könnte damit zusammenhängen, dass an Gymnasien und Fachoberschulen zu der Zeit weniger Berufsberatung angeboten wurde als an anderen Schularten.
Der Migrationshintergrund macht bei der Nutzung mancher Angebote einen Unterschied
Die Nutzungshäufigkeit der verschiedenen Angebote unterscheidet sich nicht nur zwischen den Absolventen verschiedener Schulformen, sondern auch zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund. So absolvieren Jugendliche mit Migrationshintergrund mit einem Anteil von 75 Prozent seltener betriebliche Praktika als solche ohne Migrationshintergrund. Bei letzteren beträgt der Anteil 82 Prozent. Gerade Jugendliche, deren Eltern noch nicht lange in Deutschland leben, dürften über weniger direkte und indirekte Kontakte zu potenziellen Arbeitgebern verfügen. Allerdings nehmen Jugendliche mit Migrationshintergrund häufiger an Einzelberatungsgesprächen oder Bewerbungstrainings teil, also an Maßnahmen, die sie unabhängig von persönlichen Kontakten nutzen können.
Ein Teil der Jugendlichen wurde im Rahmen des Nationalen Bildungspanels bereits während ihrer Schulzeit interviewt. Dazu zählten unter anderem Schülerinnen und Schüler, die im jeweiligen Schuljahr aktiv nach einem Ausbildungsplatz suchten. Diese sollten alternative Informationsmöglichkeiten dahingehend bewerten, wie hilfreich diese aus ihrer Sicht bei der Suche nach einem geeigneten Ausbildungsplatz sind (von „1 – gar nicht hilfreich“ bis „4 – sehr hilfreich“). Die Informationsmöglichkeiten umfassen dabei sowohl Informationsquellen im privaten Umfeld (zum Beispiel Eltern, Freunde, Verwandte) als auch solche außerhalb des privaten Umfelds (zum Beispiel Lehrkräfte, Berufsberater/Sozialpädagogen an der Schule, Berufsberatung in den Arbeitsagenturen, Praktikum).
Die Relevanz der verschiedenen Informationskanäle in- und außerhalb des privaten Umfelds wird von allen Ausbildungsplatzsuchenden gleichermaßen recht unterschiedlich eingeschätzt. So messen alle befragten Schülerinnen und Schüler einem Praktikum die größte Bedeutung bei der Ausbildungsplatzsuche bei. Dies deckt sich mit Befunden der Studie von Bernd Fitzenberger und Stefanie Licklederer aus dem Jahr 2015, wonach Haupt- und Realschüler eher eine Ausbildung aufnehmen, wenn sie vorher ein Praktikum absolviert haben. Medien sowie die Berufsberatung in Arbeitsagenturen oder in Berufsinformationszentren (BIZ) rangieren auf den folgenden Plätzen. Eine eher untergeordnete Rolle bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz spielen aus Sicht der Jugendlichen dagegen Lehrkräfte, Freunde und Verwandte.
Zugleich zeigen sich signifikante Unterschiede zwischen einzelnen Schülergruppen. Beratungsangebote außerhalb des privaten Umfelds werden im Vergleich zu anderen Informationsmöglichkeiten von angehenden (Fach-)Abiturienten tendenziell als weniger wichtig empfunden. Dies gilt insbesondere für die Beratung durch Sozialpädagogen an der Schule oder Lehrkräfte, deren Unterstützung bei der Ausbildungsplatzsuche an Gymnasien eine geringere Bedeutung zukommt.
Die Covid-19-Krise dürfte sich insbesondere für Jugendliche mit Migrationshintergrund nachteilig auswirken
Noch deutlichere Unterschiede hinsichtlich der Relevanz außerfamiliärer Beratungsinstanzen für die Ausbildungsplatzsuche sind zu beobachten, wenn man Schülerinnen und Schüler nach ihrem Migrationsstatus unterscheidet (siehe Abbildung 2). Jugendliche mit Migrationshintergrund schätzen Lehrkräfte, Berufsberatung an den Schulen sowie die Angebote in den Arbeitsagenturen im Vergleich zu anderen Informationskanälen als relevanter ein als Jugendliche ohne Migrationshintergrund.
Insbesondere bei Jugendlichen der ersten Einwanderergeneration, die selbst außerhalb Deutschlands geboren wurden, genießen Beratungsmöglichkeiten außerhalb des privaten Umfelds einen hohen Stellenwert. Während die Eltern für in Deutschland geborene Jugendliche eine relativ große Rolle spielen, schätzen Schüler der ersten Einwanderergeneration ihre Bedeutung geringer ein, vor allem im relativen Vergleich mit weiteren Beratungsangeboten. Ein Grund hierfür könnten die mangelnden Kenntnisse von Eltern über das deutsche Ausbildungssystem und die deutsche Sprache sein.
Angesichts dieser Befunde dürfte sich das Aussetzen vieler Maßnahmen der Berufsberatung während der Covid-19-Pandemie für Jugendliche mit Migrationshintergrund als besonders problematisch erweisen. Nachdem diese Jugendlichen sich zumeist schwerer tun, einen Ausbildungsplatz zu finden, ihre Ausbildung häufiger abbrechen und seltener einen Berufsabschluss erreichen, wie auch der aktuelle Bildungsbericht der Bundesregierung erneut bestätigt, sollte diese Schülergruppe noch stärker in den Fokus der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik rücken.
Fazit
Neben Beratungsangeboten in der Schule und in den Arbeitsagenturen spielen insbesondere betriebliche Praktika für viele Jugendliche eine wichtige Rolle bei der Berufsorientierung und der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Dabei unterscheidet sich die Nutzung und Bewertung einzelner Orientierungsangebote je nach Schülergruppe zum Teil deutlich. Jugendliche mit (Fach-)Hochschulreife nutzen die verfügbaren Angebote seltener. Für Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationshintergrund wiederum spielen Orientierungsangebote außerhalb des privaten Umfelds eine größere Rolle als für Jugendliche ohne Migrationshintergrund.
Angesichts der Kontaktbeschränkungen während der Covid-19-Pandemie waren Beratungsangebote an Schulen und in Arbeitsagenturen ebenso wie Berufsorientierungsmessen und Praktika in den vergangenen Monaten oftmals nicht oder nur eingeschränkt möglich. Diese Einschränkung der Informationsmöglichkeiten dürfte die Berufsorientierung und die Ausbildungsplatzsuche von Jugendlichen erschweren. Das gilt vor allem für jene Gruppen, die diese Kanäle als besonders bedeutsam erachten.
Größere Schwierigkeiten bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz, ein verzögerter Eintritt in ein Ausbildungsverhältnis und vermehrte Ausbildungsabbrüche könnten die Folge sein. Es wird sich zeigen, wie gut den Schulabgängerinnen und Schulabgängern in der Corona-Krise der Übergang in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt tatsächlich gelingt.
Daten und Methoden
Die Auswertungen beruhen auf den Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS), das umfassende Längsschnittdaten zu Bildungsprozessen in Deutschland bereitstellt. Im Rahmen der NEPS-Startkohorte 4 wird dabei der Bildungsverlauf von Neuntklässlern aus den verschiedenen Schulzweigen des deutschen Bildungssystems sowie deren Übergang in das Erwerbsleben verfolgt. Dabei wird auch die Nutzung und Bewertung verschiedener Berufsorientierungsangebote an unterschiedlichen Stellen des Berufswahlprozesses erfasst.
Das Sample für den ersten Teil dieser Studie umfasst insgesamt 11.452 Schulabsolventinnen und -absolventen, die im Schuljahr 2010/2011 die neunte Klassenstufe einer Regelschule besucht haben und das Schulsystem in den folgenden Jahren bis aktuell zum Jahr 2017 mit einem allgemeinbildenden Schulabschluss verlassen haben. Das Sample besteht aus Personen, die an der Absolventenbefragung teilgenommen haben, und zu denen vollständige Daten zu Geschlecht, Migrationsstatus und Schulabschluss vorliegen. Grundlage der Auswertungen ist eine Liste mit acht verschiedenen Aktivitäten der Berufsorientierung, die den Schulabsolventen vorgelegt wurde. Bei Jugendlichen mit Hochschulreife wurde diese Liste um vier weitere studienbezogene Angebote erweitert. Aus Gründen der Vergleichbarkeit werden hier nur die acht Angebote betrachtet, die bei allen Schulabgängern abgefragt wurden.
Im zweiten Teil der Studie wurden Schülerinnen und Schüler betrachtet, die während eines Schuljahrs aktiv auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz waren. Diese Gruppe umfasst also alle Jugendlichen mit Bewerbungsabsicht, die zu Beginn des Schuljahrs noch keine Zusage für eine Ausbildungsstelle erhalten haben. Insgesamt haben 5.374 Schülerinnen und Schüler mindestens einmal während ihrer Schulzeit aktiv nach einer Ausbildungsstelle gesucht und die betreffenden Fragen beantwortet. Fälle mit unvollständigen Angaben zu relevanten Indikatoren wurden aus den Analysen ausgeschlossen.
Literatur
Fitzenberger, Bernd; Hillerich-Sigg, Annette; Sprietsma, Maresa (2020): Different counselors, many options: Career guidance and career plans in secondary Schools. In: German Economic Review, Vol. 21, No. 1, S. 65–106.
Fitzenberger, Bernd; Licklederer, Stefanie (2015): Career planning, school grades, and transitions. The last two years in a German lower track secondary school. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Vol. 235, No. 4/5, S. 432–458.
Schwarz, Lisa; Anger, Silke; Leber, Ute (2020): Berufsorientierung durch Schulen und Arbeitsagenturen ist für Jugendliche mit Migrationshintergrund besonders wichtig, In: IAB-Forum 30. September 2020, https://www.iab-forum.de/berufsorientierung-durch-schulen-und-arbeitsagenturen-ist-fuer-jugendliche-mit-migrationshintergrund-besonders-wichtig/, Abrufdatum: 18. November 2024
Autoren:
- Lisa Schwarz
- Silke Anger
- Ute Leber