Wie in einem Brennglas hat die Pandemie die Probleme der betrieblichen Berufsausbildung aufgezeigt und verstärkt: Das Angebot an Ausbildungsstellen nimmt ab, vor allem aber entscheiden sich immer weniger junge Menschen dafür, sich überhaupt für eine berufliche Ausbildung zu bewerben. Zwar dürfte sich das Ausbildungsplatzangebot im laufenden Jahr erholen, doch liegt es weiter deutlich unterhalb des Vorkrisenniveaus. Das bestätigt auch die aktuelle Halbjahresbilanz der Bundesagentur für Arbeit. Welche Maßnahmen können getroffen werden, um wieder mehr junge Leute für Ausbildungsberufe zu gewinnen? Wie lässt sich die berufliche Bildung in Deutschland modernisieren und attraktiver gestalten?

Darüber diskutierten Expertinnen und Experten in einem Webinar der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und des IAB in der Reihe OECD-Gesellschaftssalon. Dabei beschrieben Andreas Schleicher (OECD) und Bernd Fitzenberger (IAB) in kurzen Impulsvorträgen die aktuelle Situation. Im Anschluss diskutierten Hubert Esser vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), Sven Nobereit vom Verband der Wirtschaft Thüringens (VWT) und Petra Reinbold-Knape von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) über die Zukunft der betrieblichen Berufsausbildung. Moderiert wurde die Veranstaltung von Nicola Brandt, der Leiterin des OECD Berlin Centre.

Schleicher: „Die meisten Leute, die uns in der Pandemie über Wasser gehalten haben, kommen aus beruflichen Ausbildungsberufen“

Portrait von Andreas Schleicher

Andreas Schleicher ist Direktor des Direktorats für Bildung bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

In seinem Eingangsreferat zog Andreas Schleicher, Direktor des Direktorats für Bildung bei der OECD, den Vergleich zwischen akademischer und beruflicher Ausbildung. Beide sind aus Schleichers Sicht gleichwertig, wobei in einigen Ländern die Arbeitsmarktchancen bei einer beruflichen Ausbildung sogar besser seien. Es sei die Praxiserfahrung aus dem betrieblichen Teil der Ausbildung, die zukünftige Arbeitgeber überzeuge. Jedoch sei die berufliche Ausbildung bei gleichem Qualifikationsniveau in Bezug auf das Gehalt benachteiligt. Die Corona-Pandemie habe den praktischen Teil der Ausbildung in vielen Fällen stark eingeschränkt. „In einem beträchtlichen Teil der Länder hat diese Pandemie zu einem Umdenken geführt, dass man also mehr in den beruflichen Teil der Ausbildung investieren muss. Die meisten Leute, die uns in der Pandemie über Wasser gehalten haben, kommen aus beruflichen Ausbildungsberufen“, konstatierte Schleicher. „Das Angebot aus einer Kombination von betrieblicher und schulischer Ausbildung ist in der OECD immer noch die Ausnahme“, gab Schleicher zu bedenken – „hier müssten viele (Regierungs-)Programme ansetzen, um die betriebliche Komponente zu stärken. Wir sollten nicht darüber reden, ob die Pandemie sich im dritten Jahr fortsetzt, sondern wie wir die Chancen, die sich entwickeln, nutzen können.“ Dafür brauche es flexible und resiliente Ausbildungen, die verstärkt auf moderne Technologien zur Wissensvermittlung setzen und den Fokus auf zukunftssichere Tätigkeitsbereiche legen. Außerdem müssten kognitive, soziale und emotionale Fähigkeiten auch in der dualen Ausbildung gefördert werden.

Fitzenberger: „Wir haben eine Corona-Krise des Ausbildungsmarktes mit deutlichen Kriseneffekten“

Portraitfoto Bernd Fitzenberger

Prof. Dr. Bernd Fitzenberger ist Direktor des IAB und Inhaber des Lehrstuhls für Quantitative Arbeitsökonomik an der FAU.

Zu Beginn der Corona-Krise sei das Ausbildungsstellenangebot zurückgegangen, im weiteren Verlauf seien zudem die Bewerbungen für ebendiese Stellen zurückgegangen – aktuell dominiere jedoch der bewerberseitige Rückgang, so Prof. Bernd Fitzenberger, Direktor des IAB: Die Entwicklung in Deutschland beschreibt er als „Corona-Krise des Ausbildungsmarktes mit gravierenden Auswirkungen.“ Fachkräfteengpässe und Mismatches nehmen weiter zu, der Bewerbermangel, der schon vor Corona als Problem bestand, verschärft sich weiter. Der Ausbildungsmarkt erholt sich laut Fitzenberger zwar, liegt aber immer noch unter dem Vorkrisenniveau: „38 Prozent der ausbildungsberechtigen Betriebe, die seit dem Ausbildungsjahr 2016/17 mindestens einen Ausbildungsplatz angeboten haben, hatten im Jahr 2021 Ausbildungsabsolventinnen und -absolventen. Im Jahr 2019 waren es noch 55 Prozent“. Den Mangel an Bewerbungen spüren nach Fitzenbergers Einschätzung insbesondere kleine Betriebe deutlich. Auch die Möglichkeiten, mit potenziellen Bewerberinnen und Bewerbern in Kontakt zu treten, hätten sich in der Pandemie verschlechtert. Rund vier von zehn Betrieben reduzierten das Angebot an Praktika während der Pandemie oder stellten es ein. Um Besetzungsproblemen zu begegnen, setzen Betriebe vor allem auf neue Wege der Rekrutierung, aber auch auf Zusatzleistungen und Kompromisse. Fitzenberger verweist in diesem Zusammenhang auf das große Potenzial an Ungelernten, auf das auch der jüngste Berufsbildungsbericht hinweise. Dieses sei auch aufgrund der Zuwanderung gestiegen. Ausweislich des Bildungsberichts wuchs die Zahl der Ungelernten im Alter von 20 bis 34 Jahren von 1,88 Millionen im Jahr 2014 auf 2,16 Millionen im Jahr 2019.

Insgesamt lobte Fitzenberger das duale Ausbildungssystem als gut und vorbildlich. Es erreiche aber nicht mehr so viele Jugendliche wie früher. Es brauche wieder mehr Unterstützungsangebote im Übergangssystem, die betriebliche Bezüge aufweisen und in eine betriebliche Berufsausbildung münden. Das bestehende System sei für die Jugendlichen nicht transparent genug. Zugleich müsse den Jugendlichen deutlich gemacht werden, dass ihnen Helfertätigkeiten nur kurzfristige Vorteile brächten, diese aber langfristig zu einem Verbleib im Niedriglohnsektor und niedrigen Rentenansprüchen führten.

Esser: „Wir stehen vor einer Fachkräftekatastrophe“

Portrait von Hubert Esser

Dr. Friedrich Hubert Esser ist Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB).

„Wir müssen davon ausgehen, dass die erhoffte Erholung der Zahl der neu begonnenen Ausbildungen in diesem Jahr nicht stattfindet“, beklagt Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), der ebenfalls zur Diskussion geladen war. Hohe Inflationsraten und sinkendes Wirtschaftswachstum würden sich auf den Arbeitsmarkt auswirken, was wiederum negative Konsequenzen für den Ausbildungsmarkt habe. „Die Ukraine-Krise und deren wirtschaftliche Folgen, die mit einer radikalen Änderung deutscher Energiepolitik einhergehen, schlagen sich sehr negativ auf die Situation in der Ausbildung nieder“, befürchtet Esser. Für den Ausbildungsmarkt sei daher keine Trendwende zu erwarten. Dort spüre man neben dem demografischen Wandel einen problematischen Bildungstrend: Junge Leute ziehen zunehmend die akademische Ausbildung der beruflichen vor. „Wir haben mittlerweile mehr Hochschulzugangsberechtigte als Hauptschüler“, diagnostiziert Esser, der sogar eine „Fachkräftekatastrophe“ auf Deutschland zukommen sieht. Diese Entwicklung betrifft laut Esser insbesondere die technischen Berufe, das Handwerk, die Bauberufe sowie Elektro- und Sanitärberufe, die schon heute über 140.000 fehlende Fachkräfte melden. Nach Essers Auffassung ist hier die Politik gefragt: Bachelor- und Meisterabschluss sollten als gleichwertig anerkannt werden – in der Schweiz hätte dies sogar Verfassungsrang. So würde in der Gesellschaft die Erkenntnis gefördert, dass ein beruflicher Abschluss durchaus der Karriere dient und damit ein gutes Einkommen erzielbar ist. „Die Gleichwertigkeit gehört nicht in Sonntagsreden – dahinter steckt vielmehr etwas, das die Volkswirtschaft braucht. Demnächst haben wir niemanden mehr, der Solaranlagen installiert und Windkraftanlagen wartet“, warnt Esser.

Reinbold-Knape: „Viele hoffen, dass wir die Pandemie hinter uns bringen und wieder normal weiterleben – so wird es nicht sein“

Vorstandsmitglied der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie

Petra Reinbold-Knape ist Vorstandsmitglied der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE).

Petra Reinbold-Knape, Landesbezirksleiterin der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE), ging in ihrem Statement zunächst auf die Folgen der aktuellen weltwirtschaftlichen Verwerfungen für Deutschland ein. Sie warnte vor der irrigen Annahme, dass nach dem Ende der Pandemie alles wieder so sein werde wie zuvor. Mit Blick auf die Problematik gerissener Lieferketten warf sie die Frage auf, ob es richtig sei, im bisherigen Umfang Vorprodukte aus dem nichtwestlichen und nichteuropäischen Ausland  für die Produktion in Deutschland zu importieren und sprach sich dafür aus, auch die Herstellung von Vorprodukten wider stärker nach Deutschland zu verlagern.

Sollte die Energieversorgung in Deutschland durch den Krieg in der Ukraine noch stärker beeinträchtigt werden, als dies bisher der Fall ist, sieht Reinbold-Knape für die Industrie dramatische Probleme – eine große Gefahr angesichts der aktuellen Entwicklungen. Auch Reinbold-Knape plädiert für eine Stärkung der beruflichen Bildung. Die Unternehmen müssten ausreichend aus- und weiterbilden. Sie beklagt, dass in den letzten Jahren die tariflichen Vereinbarungen zur Zahl der Ausbildungsplätze nicht mehr erreicht worden seien. Als ein Problem sieht sie, dass nicht nur die Bezahlung, sondern auch die Arbeitsbedingungen in akademischen Berufen oft attraktiver seien als in Ausbildungsberufen.

Mit Blick auf die Menschen, die nicht über die erforderlichen Ausbildungsvoraussetzungen verfügen, verweist sie auf entsprechende zusätzliche Angebote der Betriebe und der Bundesagentur für Arbeit: „Wir müssen es schaffen, jede und jeden Jugendlichen mitzunehmen und eine Ausbildung zu ermöglichen. 13 Prozent der Schulabgänger bleiben ohne Ausbildung. Um hier zu helfen, haben wir mit unseren Betrieben eine tarifliche Lösung mit ‚Start in den Beruf‘ gefunden. Da können Jugendliche ein Jahr lang ausprobieren, welche Ausbildung für sie in Frage kommt. Genauso hilft die ausbildungsbegleitende Hilfe der Bundesagentur für Arbeit Jugendlichen, die noch Defizite haben.“

Nobereit: „Das Verhältnis zwischen Bewerbenden und Ausbildungsplätzen streut regional sehr stark“

Portraitfoto von Sven Nobereit

Sven Nobereit ist Geschäftsführer Sozial- und Arbeitsmarktpolitik beim Verband der Wirtschaft Thüringen.

Auf die regionalen Ungleichgewichte im Ausbildungsmarkt wies Sven Nobereit hin, Geschäftsführer Sozial- und Arbeitsmarktpolitik beim Verband der Wirtschaft Thüringens (VWT). In Thüringen bewerben sich ihm zufolge auf 100 ausgeschriebene Stellen 70 Bewerbende – in Berlin dagegen sei die Situation aus Sicht der Wirtschaft deutlich entspannter. Auch zwischen einzelnen Berufen selbst innerhalb einer Branche klaffen Angebot und Nachfrage teils sehr weit auseinander. Auch dies illustriert Nobereit mit einem Beispiel: So gäbe es in Berlin 185 Bewerbende auf 100 Stellen im Kfz-Bereich, aber nur 61 Bewerbende auf 100 Stellen als Mechatroniker oder Mechatronikerin. Das Problem fehlender Bewerbungen hätten vor allem kleine und ländlich gelegene Betriebe. Auch dieses Problem hat sich in der Pandemie verschärft. So war die praxisbezogene Berufsorientierung in der Pandemie erheblich eingeschränkt. Virtuelle Betriebsbesichtigungen reichten nach Einschätzung von Nobereit nicht aus. Zudem monierte er, dass die duale Berufsausbildung in den Gymnasien kaum eine Rolle spiele.

 

DOI: 10.48720/IAB.FOO.20220803.01

 

Bellmann, Lutz; Kaltwasser, Lena; Schludi, Martin (2022): Betriebliche Berufsausbildung: Setzt sich die Krise im dritten Jahr der Pandemie fort?, In: IAB-Forum 3. August 2022, https://www.iab-forum.de/betriebliche-berufsausbildung-setzt-sich-die-krise-im-dritten-jahr-der-pandemie-fort/, Abrufdatum: 19. November 2024