4. April 2019 | Digitale und ökologische Transformation
Der Aufstieg von Online-Arbeitsmärkten: Freelancing und Gig-Working über Internetplattformen
Studien zeigen, dass in Europa etwa gleich viele Personen Gig-Tätigkeiten online und lokal ausführen, dennoch unterscheiden sich die beiden Formen wesentlich. Die Online-Gig-Economy ist länderübergreifend und umfasst das komplette Spektrum beruflicher Fertigkeiten, von der Dateneingabe über Schreib- und Übersetzungsarbeiten bis hin zur Softwareentwicklung. Damit bietet sich ein interessanter Ausblick auf die Zukunft von Qualifikationen, sozialer Sicherung und auf die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Europa.
Bei Online-Arbeitsplattformen handelt es sich um Webseiten, die Einkäufer und Verkäufer von Arbeiten zusammenbringen, die über das Internet aus der Ferne erledigt werden können. Im Gegensatz zu herkömmlichen Stellenanzeigen begleiten diese Plattformen die gesamte Beziehung von der Vermittlung über die Unterzeichnung des Vertrags bis zur Überwachung, Abrechnung und Lieferung sowie der Klärung in Streitfällen.
Daten aus einer Studie der Europäischen Kommission (EU), die von Annarosa Pesole und ihren Koautoren im Jahr 2018 vorgelegt wurden, belegen, dass Online-Gig-Working die Haupteinnahmequelle für circa ein Prozent aller Erwachsenen in 14 EU-Mitgliedsstaaten ausmacht. Daten, die auf den fünf größten Plattformen gesammelt wurden, zeigen, dass der Markt weltweit in den letzten beiden Jahren um etwa 25 Prozent gewachsen ist. Auch Begriffe wie Online-Freelancing, Crowdworking oder Microjobs werden manchmal verwendet, um dieses Phänomen oder dessen Unterarten zu beschreiben.
Online-Arbeitsplattformen bringen die Dienstleister und deren Kunden üblicherweise mit Hilfe eines Doppelauktionsmodells zusammen, bei dem die Dienstleister den Kunden – und umgekehrt – Angebote unterbreiten können. Bezahlt wird entweder ein Pauschalbetrag oder nach Stunden beziehungsweise Stückzahlen, wobei die Plattformbetreiber jeweils einen Anteil einbehalten. Das Verhältnis zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber wird in der Regel in Form eines Vertrags zwischen unabhängigen Unternehmern geregelt, wobei die Plattform als Vermittlerin auftritt.
Der Hauptunterschied zwischen Online-Arbeitsplattformen und der herkömmlichen Arbeitsvermittlung ist das Modell der Online-Selbstbedienung. Es ist vielfach mit sehr kurzen Vorlaufzeiten bei der Beauftragung und sehr geringen Gemeinkosten verbunden, erfordert aber gleichzeitig einen gewissen Aufwand und Know-how aufseiten des Auftraggebers und des Bewerbers. Die Kunden von Online-Arbeitsplattformen reichen von Privatpersonen bis hin zu weltweit operierenden Konzernen, wie eine 2017 erschienene Studie von Greetje F. Corporaal und Vili Lehdonvirta zeigt.
Nachfrage aus USA und Europa
Der Gig-Working-Markt ist hochgradig länderübergreifend; die meisten Transaktionen überschreiten Staatsgrenzen. Gemäß Online Labour Index kommt die bei Weitem größte Nachfrage aus den USA (44 %), gefolgt von Großbritannien (8 %) und Australien (6 %). Etwa 2,5 Prozent der weltweiten Nachfrage stammt von deutschen Arbeitgebern; alle europäischen Länder zusammen machen etwa 23 Prozent aus. Die Auftraggeber kommen also meist aus einkommensstarken Ländern, obwohl auch Indien mit einem Marktanteil von 5 Prozent ein recht großer Einkäufer ist (siehe Abbildung 1).
Eine wichtige methodische Einschränkung ist, dass der Online Labour Index derzeit nur Tätigkeiten auswertet, die auf englischsprachigen Plattformen eingestellt werden. Da Plattformen in anderen Sprachen nur einen Bruchteil dessen ausmachen, was auf den führenden englischsprachigen Plattformen vermittelt wird, würde ihre Einbeziehung die ausgewiesenen Marktanteile nicht wesentlich verändern. Plattformen in anderen Sprachen können jedoch regional oder lokal von Bedeutung sein, insbesondere in spezifischen Tätigkeitskategorien wie dem Verfassen von Werbetexten. Ein Artikel von Otto Kässi und Vili Lehdonvirta aus dem Jahr 2018 beschreibt viele Details zur Methodik, mit der der Online Labour Index errechnet wird.
Auftragnehmer weltweit
Die Auftragnehmer sind geografisch weiter verstreut als die Auftraggeber und kommen eher aus einkommensschwächeren Ländern (siehe Abbildung 2). Die Mehrheit der Auftragnehmer stammt aus Ländern, in die bereits viele Geschäftsaktivitäten aus Industrieländern outgesourct wurden, insbesondere Indien (26 %), Bangladesch (21 %) und die Philippinen (5 %).
Ein Artikel von Vili Lehdonvirta und Koautoren aus dem Jahr 2018 zeigt, dass es Spillover-Effekte zwischen der konventionellen „Outsourcing-Industrie“ und dem Online-Gig-Working gibt: Einige Auftragnehmer sammeln zunächst Erfahrungen bei einem herkömmlichen Outsourcing-Anbieter und machen sich später als „Micro-Anbieter“ selbstständig, die ihre Dienste auf Plattformen anbieten.
Fachkräften aus der Outsourcing-Industrie kann Gig-Working wesentlich höhere Verdienstmöglichkeiten und eine viel größere Autonomie bieten – bei verringerter Einkommenssicherheit und unregelmäßigen Arbeitszeiten. Ein Artikel von Alex J. Wood und Koautoren aus dem Jahr 2018 geht der Frage nach, wie es um die Arbeitsqualität von Gig-Workern in einkommensschwächeren Ländern bestellt ist.
Obwohl Auftragnehmer aus einkommensschwächeren Ländern insgesamt den Löwenanteil ausmachen, stellt sich die spezifische Situation bei einzelnen Tätigkeitskategorien unterschiedlich dar. So kommen die meisten Anbieter von Schreib- und Übersetzungsarbeiten aus den Vereinigten Staaten (siehe Abbildung 3).
Länder wie Italien oder Deutschland verzeichnen ebenfalls sehr viele Anbieter von Schreib- und Übersetzungsarbeiten. Italienische und deutsche Übersetzer haben einen lokalen Sprachvorteil, da in einkommensschwächeren Ländern nur wenige ihre Sprache beherrschen, und daher weniger Konkurrenz.
Allgemein gibt es weniger Online-Worker aus einkommensstärkeren Ländern. Sie können aber wesentlich höhere Preise erzielen als Online-Worker aus einkommensschwächeren Ländern. Dies könnte daher rühren, dass erstere über mehr Spezialkenntnisse verfügen, oder dass sie in ihren lokalen Arbeitsmärkten bessere Möglichkeiten haben und daher bezüglich der Projekte, die sie online akquirieren, wählerischer sein können, wie Vili Lehdonvirta und Koautoren im oben genannten Artikel argumentieren.
Umfassendes Spektrum beruflicher Qualifikationen
Die größten Tätigkeitskategorien auf dem Markt für Online-Gig-Work sind Softwareentwicklung und -technik mit einem Marktanteil von 36 Prozent, gefolgt von Kreativ- und Multimedia-Berufen mit 25 Prozent (siehe Abbildung 4). Dabei handelt es sich um traditionell freiberufliche Tätigkeiten, die nun anscheinend online eine neue Heimat gefunden haben. Die Eingabe von Daten und kaufmännische Routinetätigkeiten machen nur etwa 13 Prozent aus.
Die meisten Online-Auftragnehmer sind also augenscheinlich qualifizierte Freiberufler, die ihre speziellen Kenntnisse auf dem Markt anbieten. Wie eine Arbeit von Anoush Margaryan aus dem Jahr 2016 zeigt, sind plattformbasierte Tätigkeiten sehr lernintensiv. Die meisten Auftragnehmer bilden sich ständig informell und eigenständig weiter, um ihre Kenntnisse zu erweitern.
Ausblick auf den Arbeitsmarkt der Zukunft
Online-Gig-Working ist eine neuartige Form von anspruchsvoller Arbeit, zu der sowohl qualifizierte, berufliche Onlinetätigkeiten als auch Formen von Fernarbeit gehören, die eher Routinetätigkeiten beinhalten. Sie geht über nationale Märkte hinaus und verwischt die Grenzen zwischen klassischen Arbeitsmärkten und Märkten für das Outsourcing von Dienstleistungen.
Obwohl die Größenordnung im Vergleich zum gesamten Arbeitsmarkt in Europa noch bescheiden ist, wächst Online-Gig-Working offenbar schnell und könnte in einigen Berufszweigen eine erhebliche Bedeutung gewinnen. Darüber hinaus ist sie ein möglicher Fingerzeig auf etwaige zukünftige Probleme für die europäischen Arbeitsmärkte insgesamt.
Ein Thema, auf dessen künftige Relevanz das Phänomen Online-Gig-Working schon heute hindeutet, ist die Rolle, die private Zertifizierungskonzepte und sonstige nichtstaatliche Regulierungsformen spielen, wenn es darum geht, länderübergreifende berufliche Mobilität zu erleichtern und Antworten auf den schnellen technologischen Wandel zu finden.
Bei freiberuflichen Onlinetätigkeiten signalisieren Selbstständige ihren potenziellen Kunden ihre Fähigkeiten mithilfe von informellen Qualifikationsklassifizierungen und -zertifizierungen auf den jeweiligen Plattformen. Formell anerkannte Qualifikationen spielen anscheinend eine wesentlich geringere Rolle, wenn es darum geht, Nachfrage und Angebot auf Online-Arbeitsmärkten zusammenzubringen. Dieser Aspekt wird derzeit in einem Projekt des Oxford Internet Institute untersucht.
In Zukunft könnten Arbeitsmärkte zunehmend durch private digitale Steuerungsformen gestaltet werden, die zwar effizient und agil, aber möglicherweise nur schwer staatlich zu regulieren sind.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Zukunft der sozialen Sicherheit. Anders als einige lokale Gig-Worker, deren rechtliche Einstufung fraglich ist, sind Online-Gig-Worker und insbesondere qualifizierte Online-Freelancer in Europa höchstwahrscheinlich tatsächlich selbstständig. Bestehende soziale Sicherungssysteme bieten jedoch nicht unbedingt ausreichend Schutz für Selbstständige, die ihr Einkommen aus verschiedenen Quellen generieren, ständig wechselnde Arbeitgeber haben und häufigere Phasen von Arbeitslosigkeit verzeichnen.
Online-Worker sehen sich mit der weiteren Schwierigkeit konfrontiert, dass ein Großteil ihres Einkommens aus dem Ausland kommt und sie auch selber möglicherweise sehr mobil sein müssen. Deshalb sollten idealerweise politische Lösungen auf europäischer oder internationaler Ebene gesucht werden. Plattformen mit ihrer umfassenden digitalen Dokumentation und Kontrolle über den Zahlungsverkehr könnten Teil einer länderübergreifenden digitalen Lösung sein, wie Enzo Weber in seinem Beitrag „Digitale soziale Sicherung – ein Schritt in die Zukunft“, der 2018 im IAB-Forum erschienen ist, vorschlägt.
Das Thema tangiert auch den Bereich der industriellen Beziehungen. Online-Worker sind nicht in Gewerkschaften organisiert, und in vielen Ländern dürften sie sich aufgrund der Gesetzeslage auch nicht organisieren – selbst wenn sie das wollten, da sie selbstständig sind. Zugleich haben sie aufgrund ihrer Situation ähnliche Interessen und Sorgen wie klassische Arbeitnehmer – Interessen, die sie möglicherweise gegenüber der Regierung und den Plattformanbietern, die vielfach die Spielregeln für den Markt festlegen, gemeinsam vertreten möchten.
Wenn Selbstständige von herkömmlichen Formen der Interessensvertretung nicht profitieren, ist es wichtig zu untersuchen, welche Alternativen sie entwickeln. So zeigen Alex J. Wood und Koautoren in ihrem oben erwähnten Beitrag, dass Online-Freiberufler inzwischen begonnen haben, sich über soziale Medien selbst zu organisieren.
Literatur
Corporaal, Greetje F.; Lehdonvirta, Vili (2017). Platform Sourcing: How Fortune 500 Firms are Adopting Online Freelancing Platforms. Oxford Internet Institute: Oxford.
Kässi, Otto; Lehdonvirta, Villi (2018): Online Labour Index: Measuring the Online Gig Economy for Policy and Research, Technological Forecasting and Social Change.
Lehdonvirta, Villi; Kässi, Otto; Hjorth, Isis; Barnard, Helena; Graham, Mark (2018): The Global Platform Economy: A New Offshoring Institution Enabling Emerging-Economy Microproviders, Journal of Management.
Margaryan, Anoush (2016): Understanding crowdworkers’ learning practices, Internet, Politics & Policy Conference 2016, Oxford, UK.
Pesole, Annarosa; Urzí Brancati, Maria C.; Fernández-Macías, Enrique; Biagi, Fererico; González Vázquez, Ignacio (2018): Platform Workers in Europe: Evidence from the COLLEEM Survey (EUR 29275 EN). Luxemburg: Publications Office of the European Union.
Weber, Enzo (2018): Digitale soziale Sicherung – ein Schritt in die Zukunft, In: IAB-Forum 13. September 2018.
Wood, Alex J.; Graham, Mark; Lehdonvirta, Vili; Hjorth, Isis (2018): Good gig, bad gig: autonomy and algorithmic control in the global gig economy. Work, Employment and Society.
Wood, Alex J.; Lehdonvirta, Vili; Graham, Mark (2018): Workers of the Internet unite? Online freelancer organisation among remote gig economy workers in six Asian and African countries. New Technology, Work & Employment: No. 33 (2), S. 95–112.
Hinweis: Die ebenfalls im IAB-Forum erschienene englische Originalfassung dieses Beitrags finden Sie hier.
Lehdonvirta, Vili (2019): Der Aufstieg von Online-Arbeitsmärkten: Freelancing und Gig-Working über Internetplattformen, In: IAB-Forum 4. April 2019, https://www.iab-forum.de/der-aufstieg-von-online-arbeitsmaerkten-freelancing-und-gig-working-ueber-internetplattformen/, Abrufdatum: 22. November 2024
Autoren:
- Vili Lehdonvirta