26. Oktober 2022 | Serie „Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf den deutschen Arbeitsmarkt“
Die Energiekrise wird manche Regionen härter treffen als andere
Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sind die Energiepreise in Deutschland drastisch gestiegen. Zahlreiche Betriebe sehen sich dadurch in ihrer Existenz bedroht. Dies gilt naturgemäß gerade für energieintensive Betriebe. Um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu schützen, hat die Bundesregierung Entlastungsmaßnahmen in Aussicht gestellt, die aber gleichzeitig Anreize zum Einsparen von Strom und Gas enthalten sollen (siehe Infokasten „Geplante und bestehende Maßnahmen der Bundesregierung zur Entlastung der Industrie“).
Regionen, in denen besonders viele Beschäftigte in energieintensiven Betrieben arbeiten, sind vom drastischen Anstieg der Energiepreise besonders betroffen. Im Folgenden wird das Ausmaß dieser regionalen Unterschiede anhand verschiedener Indikatoren aufgezeigt.
Rund 3 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten arbeiten in energieintensiven Branchen
Der Anteil der energieintensiven Betriebe ist statistisch schwer zu erfassen, da es keine umfassenden Erhebungen zu den Energiekosten von Betrieben aller Wirtschaftszweige in Deutschland gibt. Das Statistische Bundesamt weist diese Information jedoch in seiner Kostenstrukturerhebung zumindest für eine Stichprobe der Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes und des Bergbaus aus.
Auf dieser Basis lässt sich die Energieintensität auf Ebene dieser Wirtschaftszweige berechnen und so ein Maß für die Energieintensität von Wirtschaftsbranchen erstellen. Demnach waren im Jahr 2020 rund 32.000 Betriebe in einer energieintensiven Branche (Energiekostenanteil von mehr als 3 Prozent des Bruttoproduktionswertes) tätig. In diesen Betrieben arbeiteten 2020 rund 1,1 Millionen Menschen – und damit etwa 3 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.
In weit mehr als der Hälfte aller Regionen, genauer gesagt in 237 von insgesamt 401 Kreisen, liegt der Anteil energieintensiver Betriebe unter 4 Prozent (siehe Abbildung 1). Nur in sieben Kreisen beträgt er über 10 Prozent. Die Beschäftigung in den besonders energieintensiven Branchen ist jedoch relativ gleichmäßig über die Regionen in Deutschland verteilt.
Ein Problem dieses Messverfahrens ist, dass Unterschiede zwischen Betrieben einer Branche nicht berücksichtigt werden können. Um diese Differenzierung zu ermöglichen, wird im Folgenden auf eine andere Definition von energieintensiven Betrieben zurückgegriffen. „Energieintensiv“ sind nach dieser Abgrenzung Betriebe, die als CO2-/verbrennungsintensiv und/oder stromintensiv gelten. Die dafür erforderlichen Informationen stammen aus Daten des Emissionsrechtehandels der Europäischen Union und aus Daten zur Besonderen Ausgleichsregelung nach EEG (EEG-BesAR) des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (siehe Infokasten „Welche Betriebe werden in der Studie als CO2-/verbrennungsintensiv beziehungsweise stromintensiv klassifiziert?“).
In Deutschland waren nach dieser Definition im Jahr 2020 595.000 Beschäftigte in CO2-/verbrennungsintensiven Betrieben beschäftigt (siehe Tabelle). 253.000 Beschäftigte arbeiteten in stromintensiven Betrieben, weitere 160.000 in Betrieben, die sowohl CO2-/verbrennungsintensiv als auch stromintensiv sind. Diese Messweise ergibt ebenfalls einen Anteil der Beschäftigten in energieintensiven Betrieben an der Gesamtbeschäftigung von knapp 3 Prozent.
Nur in wenigen Kreisen arbeiten mehr als 10 Prozent aller Beschäftigten in energieintensiven Betrieben
Betrachtet man die regionalen Beschäftigtenanteile in energieintensiven Betrieben, so zeigt sich ebenfalls eine relativ gleichmäßige Verteilung. Sie weist jedoch eine Reihe von Hotspots mit hohen Anteilen auf (siehe Abbildung 2).
Während die regionale Betroffenheit auch bei dieser Betrachtungsweise in den allermeisten Regionen relativ niedrig und gleichmäßig verteilt ist, ändert sich durch den Fokus auf „energieintensive Betriebe“ statt „energieintensive Branchen“ die Anzahl und Reihenfolge der besonders betroffenen Landkreise: 18 Kreise haben einen Beschäftigungsanteil von über 10 Prozent (die zehn am stärksten betroffenen Kreise sind in Abbildung 2 gesondert ausgewiesen).
Die regionale Verteilung der Landkreise mit hohen Beschäftigungsanteilen in CO2-/verbrennungsintensiven Betrieben (siehe Abbildung 3) und diejenige mit hohen Beschäftigungsanteilen in stromintensiven Betrieben (siehe Abbildung 4) unterscheidet sich zum Teil deutlich. Die Kreise mit hohem Beschäftigungsanteil in CO2-/verbrennungsintensiven Betrieben sind vor allem von den hohen Preisen für fossile Energien und vom Lieferstopp für russisches Gas betroffen. Zudem sind dort die Transformationspfade der Dekarbonisierung länger, da die Prozesse perspektivisch noch elektrifiziert oder durch alternative Energieträger, zum Beispiel grünen Wasserstoff, ersetzt werden müssen.
Die Landkreise mit hohem Beschäftigungsanteil in stromintensiven Betrieben haben in der Regel einen kürzeren Transformationspfad vor sich, da viele der Betriebsprozesse bereits elektrifiziert sind. Hier geht es insbesondere darum, die Energieeffizienz zu steigern und die Stromproduktion auf erneuerbare Energien umzustellen. Dennoch sind auch diese Betriebe beziehungsweise Regionen von steigenden Stromkosten betroffen.
Die hier präsentierten Auswertungen sind nur eine erste Annäherung an das Phänomen, dass sich stark steigende Energiepreise regional sehr unterschiedlich auswirken können. Denn je nach Betrachtungsweise müssen wichtige Aspekte vorerst unberücksichtigt bleiben. So bleiben bei der Betrachtung auf Branchenebene solche Betriebe außen vor, die zwar hohe Energiekosten haben, aber einer wenig energieintensiven Branche angehören. Ebenso können Betriebe, die indirekt über ihre Lieferketten von steigenden Energiepreisen überproportional betroffen sind, hier nicht angemessen berücksichtigt werden.
Durch den Fokus auf sehr energieintensive Betriebe, die einen sehr hohen absoluten Energieverbrauch aufweisen, werden hier zudem kleinere Betriebe vernachlässigt, die zwar relativ betrachtet ebenfalls hohe Energiekosten schultern müssen, aber angesichts ihres geringen absoluten Bedarfs weniger als 20 Megawatt Wärmeleistung oder weniger als 1 Gigawatt Strom insgesamt verbrauchen. Dabei handelt es sich jedoch häufig um Handwerksbetriebe wie Bäckereien, die regional relativ gleichmäßig verteilt sind. Dadurch wird einerseits der Gesamtanteil der Beschäftigten in energieintensiven Betrieben etwas unterschätzt. Von der hier verwendeten Messmethode nicht erfasst werden also Beschäftigte in solchen kleineren „energiesensitiven“ Betrieben, da diese unterhalb der verwendeten (absoluten) Schwellenwerte liegen. Andererseits wird die regionale Ungleichheit zwischen den Kreisen etwas überschätzt, denn diese kleinen „energiesensitiven“ Betriebe wie Bäckereien sind gleichmäßiger verteilt als die größeren energieintensiven Betriebe auf den Karten. Dennoch dürften die regionalen Unterschiede auch dann erheblich bleiben.
Die derzeit diskutierten Entlastungsmaßnahmen sollen verhindern, dass betroffene Betriebe infolge der Energiepreisexplosion ihre Produktion einstellen oder zurückfahren müssen, dadurch massive Verluste erleiden oder gar Insolvenz anmelden und deswegen auf Einstellungen verzichten oder sogar Beschäftigte entlassen müssen. Das IAB hat weitere gezielte wirtschaftspolitische Hilfsmaßnahmen für die energieintensive Industrie vorgeschlagen, die aber den Anreiz, Energie einzusparen, aufrechterhalten sollen. Diese Vorschläge hat Enzo Weber in einem Beitrag für das IAB-Forum und in einem Gastbeitrag im SPIEGEL zusammengefasst.
Die Energiekrise beschleunigt den Prozess der ökologischen Transformation, auf den sich viele Unternehmen ohnehin schon eingestellt haben. Denn Deutschland hat sich zur Bewältigung der Klimakrise darauf verpflichtet, in erheblichem Maße CO2 einzusparen. Einen beträchtlichen Anteil dieser Einsparungen hat die Industrie zu erbringen. Auch ein aktueller Bericht des IAB zu energieintensiven Industrien in Mitteldeutschland betont die Notwendigkeit von Strukturanpassungen, insbesondere durch Technologien zur Energieeinsparung sowie den Umstieg auf nicht fossile Rohstoffe für Energieerzeugung und Produktion von Gütern.
Kurzfristig bleibt jedoch die Herausforderung, dass Unternehmen, die über sehr lange Zeit auf fossile Energieträger wie Gas gesetzt haben, nicht in der Lage sind, von heute auf morgen umzusteigen und daher zumindest vorübergehend in wirtschaftliche Schieflage geraten können (lesen Sie dazu auch einen aktuellen Beitrag von Christian Kagerl und anderen IAB-Forschern für den Wirtschaftsdienst). Laut einer aktuellen Prognose von Gerd Zika und anderen, die als IAB-Forschungsbericht 11/2022 erschienen ist, wird die Energiekrise auch längerfristig negative Auswirkungen auf die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt in Deutschland haben.
Die Bundesagentur für Arbeit dürfte sich demnach bei einer weiteren Verschärfung der Energiekrise in den besonders betroffenen Regionen einem verstärkten Aufkommen von Anträgen auf Kurzarbeitergeld gegenübersehen. In diesen Regionen könnte zudem der Beratungs- und Unterstützungsbedarf im Hinblick auf erforderliche Weiterbildung (Energieeffizienz, Erneuerbare Energien, Elektrotechnik etc.) und Umschulung betroffener Beschäftigter steigen.
Fazit
Bei allen Schwierigkeiten, die die Energiekrise mit sich bringt, bietet sie den betroffenen Regionen auch Entwicklungsmöglichkeiten, zum Beispiel bei der Beschleunigung der Energiewende, bei Technologien zur Energieeinsparung sowie bei Produkt- und Dienstleistungsinnovationen, aus denen mittelfristig auch neue Exportchancen erwachsen können. Eine solche Entwicklung ist jedoch alles andere als ein Selbstläufer. Vielmehr sind Unternehmen, Gewerkschaften, Politik und Arbeitsverwaltung, aber auch die Beschäftigten selbst gefordert, ihren Beitrag dazu zu leisten, damit die betroffenen Regionen diese Chance ergreifen.
Geplante und bestehende Maßnahmen der Bundesregierung zur Entlastung energieintensiver Betriebe während der Energiekrise
Um existenzbedrohende Situationen für Betriebe zu vermeiden, hat die Bundesregierung am 29. September 2022 einen „Abwehrschirm“ angekündigt. Dadurch sollen die finanziellen Folgen der aktuellen Energiepreissteigerungen für Betriebe und Haushalte zumindest teilweise abgefedert werden. Die Notwendigkeit, den Energieverbrauch zu reduzieren, bestehe jedoch weiterhin. Der Abwehrschirm werde daher entsprechende Anreize beinhalten.
Bis zum Jahresende 2022 ist das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz aufgesetzte Energiekostendämpfungsprogramm wirksam. Demnach können energieintensive Unternehmen aus dem Verarbeitenden Gewerbe oder dem Bergbau einen Zuschuss von bis zu 50 Millionen Euro beantragen. Voraussetzung dafür ist, dass die Energiekosten mindestens 3 Prozent des Bruttoproduktionswertes ausmachen.
Welche Betriebe werden in dieser Studie als CO2-/verbrennungsintensiv beziehungsweise stromintensiv klassifiziert?
Als CO2-/verbrennungsintensiv wird ein Betrieb bezeichnet, dessen Wärmeleistung eine Größenordnung hat, durch die der Betrieb dem Emissionsrechtehandel der Europäischen Union unterliegt (in der Regel mindestens 20 Megawatt).
Als stromintensiv gelten Betriebe, die durch ihren hohen Stromverbrauch die besondere Ausgleichsregelung der bisherigen Umlage nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG-Umlage) erhalten haben. Um diese Regelung nutzen zu können, müssen die Stromkosten eines Betriebs einen Anteil von mindestens 14 beziehungsweise 20 Prozent an dessen Bruttowertschöpfung ausmachen und dessen Stromverbrauch mindestens 1 Gigawatt betragen (der genaue Wortlaut der Bestimmungen findet sich auf der Website des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle).
Die Daten für diese Klassifikation und die damit erstellten Analysen wurden im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts (TRACE) verknüpft.
Literatur
Kagerl, Christian; Moritz, Michael; Roth, Duncan; Stegmaier, Jens; Stepanok, Ignat; Weber, Enzo (2022): Energiekrise und Lieferstopp für Gas: Auswirkungen auf die Betriebe in Deutschland. In: Wirtschaftsdienst, Jg. 102, H.6, S. 486-491.
Schmiedel, Lisa; Kropp, Per; Fritzsche, Birgit; Theuer, Stefan (2022): Energieintensive Industrien in Mitteldeutschland. IAB-Regional, IAB Sachsen-Anhalt-Thüringen Nr. 1.
Weber, Enzo (2022): Wirtschaftshilfen zu Zeiten des Ukraine-Kriegs: Maßgeschneiderte Instrumente für multiple Herausforderungen. In: IAB-Forum, 08.04.2022.
Weber, Enzo (2022): Rasant steigende Energiekosten: Wie helfen wir der Industrie? In: Spiegel, 31.03.2022.
Zika, Gerd; Schneemann, Christian; Weber, Enzo; Zenk, Johanna; Kalinowski, Michael; Maier, Tobias; Wolter, Marc Ingo (2022): Die Folgen des Kriegs in der Ukraine und der Energiekrise für Wirtschaft und Arbeitsmarkt in Deutschland, IAB-Forschungsbericht Nr. 11.
In aller Kürze
- Rund 3 Prozent der Beschäftigten arbeiten in energieintensiven Betrieben.
- Nur wenige Kreise haben einen Beschäftigungsanteil in den energieintensiven Betrieben von mehr als 10 Prozent. Der höchste Wert beträgt knapp 34 Prozent.
- Die Bundesagentur für Arbeit wird sich in diesen besonders betroffenen Regionen auf ein verstärktes Aufkommen von Anträgen auf Kurzarbeitergeld und auf einen steigenden Beratungsbedarf im Hinblick auf Weiterbildung und Umschulung einstellen müssen.
- Die Unterscheidung zwischen Regionen mit hohen CO2-/verbrennungsintensiven und stromintensiven Beschäftigungsanteilen erlaubt eine zielgenauere Ausrichtung der Maßnahmen.
- Die Energiekrise bietet den betroffenen Regionen auch Entwicklungschancen, zum Beispiel bei der Beschleunigung der Energiewende, bei der Entwicklung von Technologien und Prozessen zur Energieeinsparung sowie bei Produkt- und Dienstleistungsinnovationen, aus denen mittelfristig auch neue Exportchancen erwachsen können.
doi: 10.48720/IAB.FOO.20221026.01
Dauth, Wolfgang ; von Graevenitz, Kathrine; Janser, Markus (2022): Die Energiekrise wird manche Regionen härter treffen als andere, In: IAB-Forum 26. Oktober 2022, https://www.iab-forum.de/die-energiekrise-wird-manche-regionen-haerter-treffen-als-andere/, Abrufdatum: 21. November 2024
Autoren:
- Wolfgang Dauth
- Kathrine von Graevenitz
- Markus Janser