19. Februar 2018 | Serie „Leben und Arbeiten in der Zukunft“
„Es geht darum, Erfahrungswissen und neue digitale Kompetenzen zu verzahnen“. Ein Interview mit Britta Matthes und Katharina Dengler
In Ihrem aktuellen Kurzbericht schreiben Sie, dass circa acht Millionen Beschäftigte von der Digitalisierung betroffen sind. Werden die nun alle arbeitslos?
Dengler: Wir haben in der Tat herausgefunden, dass im Jahr 2016 ein Viertel aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, also circa acht Millionen, in Berufen mit einem hohen Substituierbarkeitspotenzial arbeiten – also in Berufen, in denen mindestens 70 Prozent der anfallenden Tätigkeiten von Computern oder computergesteuerten Maschinen erledigt werden könnten. Dies bedeutet aber nicht, dass in gleichem Umfang Arbeitsplätze wegfallen. Bei den Substituierbarkeitspotenzialen betrachten wir nur die technische Machbarkeit – also ob Tätigkeiten durch Computer oder computergesteuerte Maschinen erledigt werden könnten. Es gibt aber noch viele andere Faktoren, die für die Beschäftigungsentwicklung maßgeblich sind. Unter anderem können ethische, rechtliche und wirtschaftliche Gründe einer Automatisierung entgegenstehen.
Solange die Qualität der vom Menschen produzierten Waren höher ist als die maschinell produzierte, wird es Kunden geben, die bereit sind, für die bessere Qualität einen höheren Preis zu zahlen, so dass die entsprechenden Tätigkeiten trotz hoher Substituierbarkeitspotenziale eher nicht substituiert werden. Aber auch wenn Kunden ein handgefertigtes Produkt mehr wertschätzen als das gleiche von einer Maschine gefertigte Produkt, also lieber Brötchen in der Handwerksbäckerei als im Backshop kaufen, wird es weiterhin Betriebe geben, die handwerklich produzieren. Vor allem aber lässt sich nicht bestimmen, wie schnell sich die Berufe tatsächlich verändern oder neue Berufe und Tätigkeiten entstehen. Denkbar wäre sogar eine Entwicklung, in der mehr Beschäftigung hinzukommt als verloren geht. So entstehen im Zuge der Digitalisierung neue Arbeitsplätze durch Produkt- und Dienstleistungsinnovationen; steigende Produktivität könnte zu sinkenden Preisen und einer höheren Nachfrage und damit zu einem Beschäftigungswachstum führen.
Das Substituierbarkeitspotenzial bei den Helferberufen hat sich seit 2013 von 46 auf 58 Prozent erhöht – deutlich schneller als bei Fachkraft-, Spezialisten- und Expertenberufen. Sind es die Geringqualifizierten, die durch die Digitalisierung am stärksten unter Druck geraten?
Dengler: Das ist nicht ausgemacht. Zwar ist zu erwarten, dass zunehmend einfache Tätigkeiten durch Computer oder computergesteuerte Maschinen ersetzbar werden. Da Geringqualifizierte aber in der Regel weniger verdienen als Fachkräfte, lohnt es sich für Unternehmen nicht notwendigerweise, ihre Arbeit durch Maschinen zu ersetzen. Es steht also nicht fest, ob Unternehmen eher in die Automatisierung einfacher oder in die Automatisierung qualifizierter Arbeit investieren. Hinzu kommt, dass bei der Automatisierung qualifizierter Arbeit oder durch den Einsatz digitaler Assistenzsysteme einfache, nicht substituierbare Tätigkeiten und damit Arbeitsplätze für Geringqualifizierte neu entstehen können.
Es ist nicht ausgemacht, dass es vor allem die Geringqualifizierten sind, die durch die Digitalisierung am stärksten unter Druck geraten.
Wenn sich Technologien weiterentwickeln, müssten doch eigentlich mehr Tätigkeiten automatisierbar sein. Wieso sinken dann die Substituierbarkeitspotenziale in den IT- und naturwissenschaftlichen Dienstleistungsberufen?
Matthes: Das Substituierbarkeitspotenzial ist in fast allen Berufssegmenten von 2013 auf 2016 gestiegen. In den IT- und naturwissenschaftlichen Dienstleistungsberufen, aber auch in den medizinischen und nichtmedizinischen Gesundheitsberufen, ist es hingegen leicht gesunken. Das ist vor allem dadurch zu erklären, dass sich die Berufsbilder so verändert haben, dass sie mit den technologischen Möglichkeiten Schritt gehalten haben. Das heißt: In diesen Berufen haben viele ersetzbare Tätigkeiten an Bedeutung verloren und nicht ersetzbare Tätigkeiten haben an Bedeutung gewonnen. Außerdem sind durch die Einführung neuer Technologien auch neue Tätigkeiten entstanden, die für die Ausübung eines Berufes unabdingbar sind.
Welche Tätigkeiten sind das?
Matthes: Der größte Teil der neu entstandenen Tätigkeiten hat direkt etwas mit der Einführung digitaler Technologien zu tun. So wird in vielen IT- und naturwissenschaftlichen Dienstleistungsberufen das Beherrschen neuer Softwareanwendungen wie Simulationssoftware und Entwicklungsumgebungen zu einer Grundvoraussetzung, um einen bestimmten Beruf überhaupt ausüben zu können. Außerdem sind vor allem in diesem Bereich neue Berufe entstanden. So ist beispielsweise der Beruf des Data Scientists neu entstanden. Dieser analysiert große Datenmengen in Echtzeit aus verschiedenen Quellen und stellt Parameter für die Steuerung zeitgleich ablaufender Produktions- oder Geschäftsprozesse bereit.
Ein bemerkenswertes Ergebnis Ihrer Studie ist, dass zwischen Substituierbarkeitspotenzial und Beschäftigungsentwicklung zwar ein Zusammenhang besteht, dieser aber recht schwach ist. Wie ist das zu erklären?
Dengler: Es ist zwar so, dass die Beschäftigung mit steigendem Substituierbarkeitspotenzial unterm Strich weniger stark wächst. Dieser Zusammenhang ist aber in der Tat sehr schwach. Dies bedeutet, dass Substituierbarkeitspotenziale nur zu einem Teil die Beschäftigungsentwicklung erklären können. Beispielsweise gibt es auch Berufe, in denen die Zahl der Beschäftigten trotz hohem Substituierbarkeitspotenzial wächst. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Lager- und Transportarbeiter. Die Digitalisierung führt nicht nur dazu, dass viele Tätigkeiten in diesem Beruf inzwischen automatisiert werden könnten, sondern auch dazu, dass beispielsweise immer mehr Menschen im Internet einkaufen. Dies führt zu einem stark steigenden Transportaufkommen, das ohne die neuen Technologien vermutlich gar nicht zu bewältigen wäre.
Es gibt nur einen sehr schwachen Zusammenhang zwischen Substituierbarkeitspotenzial und Beschäftigungsentwicklung.
In den Medien ist immer wieder davon zu lesen, dass die Digitalisierung viele Unternehmen in ihrer Existenz bedroht. Kann es sein, dass insbesondere der Mittelstand mit der rasanten Entwicklung schlicht überfordert ist?
Matthes: Damit Unternehmen auch in Zukunft am Markt bestehen können, müssen sie sich mit der Digitalisierung und dem Einsatz moderner digitaler Technologien auseinandersetzen. Die IAB-ZEW-Betriebsbefragung „Arbeitswelt 4.0“, deren Ergebnisse im IAB-Kurzbericht 22/2016 publiziert wurden, hat ergeben: Etwa die Hälfte aller Betriebe in Deutschland nutzt zwar solche Technologien, ein Drittel jedoch hat sich mit deren Nutzung noch nicht einmal beschäftigt.
Wie sieht es bei den Beschäftigten aus?
Matthes: Die müssen sich mit den neuesten technologischen Innovationen vertraut machen und dementsprechend weitergebildet werden. Weil sich mit der Digitalisierung aber auch die Art und Weise verändert, wie man arbeitet, ist es nicht nur wichtig, digitale Kompetenzen zu stärken, sondern auch soziale Kompetenzen wie Kooperationsbereitschaft, Kommunikationsstärke, Selbstmanagement oder Empathie. Weil das Wissen über traditionelle Herstellungsmethoden und die Fähigkeit, diese auch anzuwenden, einer der wichtigsten Bausteine für die kreative Bewältigung künftiger Probleme sein dürfte, geht es im Kern darum, das Erfahrungswissen der Beschäftigten mit den neuen digitalen Kompetenzen zu verzahnen.
Obwohl es große Unterschiede zwischen den Unternehmen gibt, unterscheiden Sie in Ihrer Studie nicht zwischen Beschäftigten, die zwar im selben Beruf, aber in unterschiedlichen Unternehmen arbeiten. Warum?
Dengler: Es ist richtig, dass es Unterschiede im Hinblick auf den Automatisierungsgrad der Arbeitsplätze zwischen den Unternehmen gibt. Leider stehen uns keine Informationen darüber zur Verfügung, wie viel Zeit an einem Arbeitsplatz typischerweise für die Erledigung einer bestimmten Tätigkeit aufgewendet wird. Deswegen müssen wir bei der Berechnung des Substituierbarkeitspotenzials notgedrungen davon ausgehen, dass jede Tätigkeit in einem Beruf gleich häufig ausgeübt wird – wohlwissend, dass dies eine stark vereinfachte Annahme ist, die in der Realität sehr häufig nicht zutreffen wird. Im IAB-Job-Futuromat – einem Onlinetool, in dem man sich über das Substituierbarkeitspotenzial im Beruf sowie über die berufsspezifische Beschäftigungs- und Einkommensentwicklung informieren kann – wurde daher auch die Möglichkeit geschaffen, einzustellen, wie häufig man die einzelnen Tätigkeiten erledigt. Damit lässt sich das jobspezifische Substituierbarkeitspotenzial näher bestimmen. Allerdings werden dabei nur die wesentlichen Tätigkeiten berücksichtigt, die in dem ausgewählten Beruf üblicherweise zu erledigen sind. Weil in einem Job neben diesen wesentlichen Tätigkeiten auch andere Tätigkeiten eine Rolle spielen können, sollte das Substituierbarkeitspotenzial nicht als Prognose verstanden werden, wie wahrscheinlich es ist, dass der Job in den nächsten Jahren durch Computer oder computergesteuerte Maschinen ersetzt werden wird.
Würden Sie einem jungen Menschen heute raten, den Beruf des Lkw-Fahrers zu ergreifen?
Matthes: Warum nicht? Nach wie vor ist der Beruf eines Lkw-Fahrers nur gering substituierbar. Es ist zwar absehbar, dass das Fahren eines Lkws zunehmend von Fahrassistenzsystemen unterstützt wird und in einer relativ klar definierten Umgebung vielleicht bald schon völlig ohne menschliches Zutun erfolgen kann. Völlig offen ist jedoch, ob Computer jemals in der Lage sein werden, in komplexen Situationen so intuitiv wie der Mensch Entscheidungen zu treffen. Es wird noch eine Weile dauern, bis Lkws auch in großen Städten autonom fahren dürfen. Vielleicht wird es auch nie dazu kommen, weil rechtliche Hürden eine vollständige Automatisierung verhindern.
Außerdem hat ein Lkw-Fahrer ja nicht nur die Aufgabe, den Lkw zu fahren, sondern er muss das Fahrzeug auch überprüfen und warten, ist verantwortlich für die ordnungsgemäße Beladung und hat zu gewährleisten, dass alle Waren vollständig von A nach B geliefert werden. Wahrscheinlich wird der Beruf gar nicht verschwinden, sondern sich vor allem verändern. Es wird auch auf absehbare Zeit weiterhin Unternehmen geben, die Waren konventionell transportieren. Also selbst, wenn in einem Beruf einige Tätigkeiten leicht durch Computer oder computergesteuerte Maschinen ersetzbar sind, sollte dies kein Grund sein, sich beruflich anders zu orientieren. Entscheidend ist, dass sich junge Leute bei der Berufswahl an ihren Interessen und Stärken orientieren, und bereit sind, sich weiterzubilden.
Die Fragen stellte Dr. Martin Schludi.
Fotos: IAB | Jutta Palm-Nowak
Literatur
Arntz, Melanie; Gregory, Terry; Lehmer, Florian; Matthes, Britta; Zierahn, Ulrich (2016): Arbeitswelt 4.0 – Stand der Digitalisierung in Deutschland: Dienstleister haben die Nase vorn, IAB-Kurzbericht Nr. 22.
Dengler, Katharina; Matthes, Britta (2018): Substituierbarkeitspotenziale von Berufen: Wenige Berufsbilder halten mit der Digitalisierung Schritt, IAB-Kurzbericht Nr. 4.
Dengler, Katharina; Matthes, Britta (2015): Folgen der Digitalisierung für die Arbeitswelt: In kaum einem Beruf ist der Mensch vollständig ersetzbar, IAB-Kurzbericht Nr. 24.
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Autoren:
- Martin Schludi