17. Juli 2023 | Podium
Nürnberger Gespräche: Das neue Bürgergeld – Fortschritt oder Rückschritt?
Über diese und andere Aspekte des neuen Bürgergelds diskutierten Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis am 8. Juni 2023 im Nürnberger Rathaussaal, dessen Stuhlreihen diesmal außerordentlich gut gefüllt waren – auch dank zahlreicher Gäste vom Evangelischen Kirchentag, der zeitgleich in Nürnberg stattfand. Die Veranstaltung wurde wie üblich von der Bundesagentur für Arbeit (BA) — unter Federführung des IAB — und der Stadt Nürnberg ausgerichtet. Einen Videomitschnitt der Veranstaltung, die von Claudia Bender (Fulmidas Medienagentur) moderiert wurde, finden Sie auf dem YouTube-Kanal des IAB.
König: „Dem Bürgergeld liegt ein unterstützendes und dem Menschen zugewandtes Menschenbild zugrunde“
Nürnbergs Oberbürgermeister Markus König, der sich wie viele Gäste im Saal auch einen grün-gelben Kirchentagsschal umgehängt hatte, machte in seinem Grußwort deutlich, dass Arbeit weit mehr ist als nur Broterwerb. Sie bedeute nicht zuletzt auch soziale Anerkennung. Dem Bürgergeld attestierte König „ein unterstützendes und dem Menschen zugewandtes Menschenbild“, das auch im Nürnberger Jobcenter intensiv gelebt werde. Es gehe dabei um eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe und eine Stärkung der Eigenverantwortung der Kundinnen und Kunden. Bei allem Lob für das Bürgergeld gab König jedoch zu bedenken, dass die Kommunen auch in die Lage versetzt werden müssten, die steigenden Kosten zu schultern, die ihnen mit der neuen Sozialleistung von der Bundespolitik auferlegt würden. Abschließend mahnte er einen „Praxistest“ für die beschlossenen Maßnahmen an. Diese müssten immer wieder daraufhin überprüft werden, ob sie die damit verbundenen Ziele tatsächlich erreichen.
Gröhe: „Das Bürgergeld ist ein Fortschritt, da es Qualifizierung und individuelle Begleitung stärkt“
Auch die Podiumsgäste waren sich weitgehend darin einig, dass das Bürgergeld im Prinzip ein Schritt in die richtige Richtung ist. So sieht der Bundestagsabgeordnete Hermann Gröhe, der als stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auch für den Bereich „Arbeit und Soziales“ zuständig ist und die Reform für die CDU/CSU-Fraktion maßgeblich mitverhandelt hat, im Bürgergeld ebenfalls einen Fortschritt, da es Qualifizierung und individuelle Begleitung stärke. Er betonte aber zugleich, dass die bisherige Grundsicherung für Arbeitsuchende besser gewesen sei als ihr Ruf. Man dürfe sich vom Bürgergeld zudem keine Wunder erwarten. Er unterstrich überdies die Notwendigkeit, die Zahl der Schulabbrecher zu senken und Unternehmen dazu zu ermutigen, jungen Menschen eine zweite, dritte, vielleicht sogar vierte Chance zu geben, was im Publikum mit breitem Applaus quittiert wurde. Um die zentrale Rolle zu unterstreichen, die Betriebe bei der Integration von Menschen mit Vermittlungshemmnissen in den Arbeitsmarkt spielen, wartete Gröhe mit einer Anekdote aus seinem eigenen Wahlkreis auf: Dort hatte er einen Bäckermeister kennengelernt, der eigens die Gebärdensprache erlernt hatte, um sich mit seinem jungen gehörlosen Auszubildenden verständigen zu können. Für den Bäckermeister sei dies der beste Lehrling seit Jahren gewesen, nachdem ihm zuvor zwei Lehrlinge abgesprungen waren.
Schmalhorst: „Dank des Coachings können individuelle Bedürfnisse berücksichtigt und auch Themen bearbeitet werden, die nicht unmittelbar arbeitsmarktrelevant sind“
Mit Dr. Regine Schmalhorst, Geschäftsführerin des Bereichs „Förder- und Geldleistungen“ in der BA und ehemalige Geschäftsführerin des Jobcenters Dortmund, war auch eine erfahrene Expertin aus der arbeitsmarktpolitischen Praxis auf dem Podium vertreten. Schmalhorst begrüßt die Weiterentwicklung des umstrittenen „Hartz IV“ durch das neue Bürgergeld. Aus ihrer Sicht finden sich viele wichtige Anliegen der Arbeitsverwaltung in dem neuen Gesetz wieder. So hob sie insbesondere die Bedeutung des Coachings hervor. Laut Schmalhorst entstehe dadurch eine Brücke zwischen den Kundinnen und Kunden einerseits und den Betrieben und Jobcentern andererseits. So könnten individuelle Bedürfnisse berücksichtigt und auch Themen bearbeitet werden, die nicht unmittelbar arbeitsmarktrelevant sind. Auch die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs, also des Vorrangs einer raschen Integration in den Arbeitsmarkt vor anderen Maßnahmen wie Weiterbildungen, hält sie für sinnvoll – wobei sich die Jobcenter schon in der bisherigen Praxis nicht immer strikt daran orientiert hätten. In jedem Fall werde es fortan leichter sein, nachhaltige Lösungen und Pläne für die langfristige Integration in den Arbeitsmarkt zu entwickeln.
Lysy: „Die Regelsätze sind in ihrer Höhe und Berechnung der Regelsätze nicht teilhabegerecht“
Auch Peter Lysy, evangelischer Pfarrer und zugleich Arbeitsseelsorger und stellvertretender Leiter des kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (kda) Bayern sieht im Bürgergeld einen Fortschritt – insbesondere was die Erweiterung des Instrumentenkastens betrifft. Dennoch kritisierte er, dass auch in der derzeitigen Debatte die negative Rhetorik und das problematische Menschenbild, die schon die Hartz-IV-Reformen begleitet hätten, nicht verschwunden seien– und erntete mit dieser Einschätzung vereinzelten Applaus aus dem Publikum. Zudem kritisierte Lysy die Höhe und Berechnung der Regelsätze (aktuell gut 500 Euro plus Unterkunftskosten für eine alleinstehende Person), die letztlich keine soziale Teilhabe ermöglichten. Lysy lobte aber auch die Kooperationspläne, die die Jobcenter mit ihren Kundinnen und Kunden vereinbaren, als einen Paradigmenwechsel. Damit könnten rechtliche Hindernisse aus dem Weg geräumt und eine funktionierende Arbeitsbeziehung zwischen Beratenden und Erwerbslosen aufgebaut werden.
Walwei: „Die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen bleibt harte Arbeit“
Die Sicht der Wissenschaft auf das Bürgergeld erläuterte IAB-Vizedirektor Ulrich Walwei, der auch eine Honorarprofessur am Institut für Volkswirtschaftslehre und Ökonometrie der Universität Regensburg innehat. Er begrüßt insbesondere, dass fortan ein stärkerer Schwerpunkt auf Weiterbildung und Coaching gelegt werde. Beide Instrumente seien nicht zuletzt angesichts der verbesserten Arbeitsmarktlage geeignet, die Integrationschancen von Langzeitarbeitslosen zu verbessern. Allerdings könne Coaching nur funktionieren, wenn eine ausreichende Vertrauensbasis bestünde. Die Kooperationspläne sieht Walwei als gute Möglichkeit, Probleme zu kommunizieren und insgesamt die Teilhabe der Betroffenen zu stärken. Dennoch sei die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt alles andere als ein Kinderspiel, sondern vielmehr harte Arbeit. Auch könne das Bürgergeld nicht alle Probleme lösen, die schon vorgelagert im Bildungs- und Schulsystem entstanden seien, insbesondere bei Kindern aus sozial schwachen Familien. Hier sei „jeder Euro, den wir da reinstecken, gut angelegt.“
Gröhe: „Auch beim Coaching gilt ohne Moos nix los“
Das starke Interesse am Thema zeigte sich auch an den zahlreichen Wortmeldungen aus dem Publikum. So meldete sich auch ein Betroffener zu Wort, der nach eigenen Angaben seit 2014 Arbeitslosengeld II bezieht, unter chronischen Kreuzschmerzen leidet, und angesichts von über 600 letztlich erfolgloser Bewerbungen für sich keine Perspektive auf dem ersten Arbeitsmarkt sieht. Ähnlich wie viele Langzeitarbeitslose in vergleichbaren Situationen wolle er sich aber einbringen. Deshalb forderte er einen „Systemwechel“: In den Jobcentern sollten mit entsprechenden finanziellen Mitteln ausgestattete Erwerbslosenkollektive eingerichtet werden, die die dann selbstverwaltet und selbstorganisiert ihren gesellschaftlichen Beitrag untereinander verabreden könnten.
In der Fragerunde wurde seitens der Sozialreferentin der Stadt Nürnberg auch die Forderung laut, das Verwaltungskostenbudget der Jobcenter zu erhöhen, um diesen auch die notwendigen personellen Mittel zur Verfügung zu stellen. Dieser Forderung schloss sich im Prinzip auch Hermann Gröhe an. Ohne ausreichende finanzielle Mittel, so Gröhe mit Blick auf den anstehenden Bundeshaushalt, seien keine nachhaltigen Verbesserungen möglich: „Ich kann über Coaching und alles reden, aber: ohne Moos nix los.“ Außerdem sei es wichtig, besser mit dem vorhandenen Geld zu wirtschaften, anstatt immer neue Ansätze zu entwickeln, die wiederum zusätzliche Mittel erforderten.
Eine Vertreterin des Nürnberger Stadtrats wies auf das Problem hin, dass viele Arbeitgeber das B1-Sprachniveau für Migranten und Geflüchtete auch dann nicht als ausreichend erachteten, wenn diese Menschen fähig und willens seien zu arbeiten. Regine Schmalhorst räumte in ihrer Antwort ein, dass es für dieses Problem noch keine Paradelösung gebe, wies aber darauf hin, dass Agenturen und Jobcenter bei Bedarf auch berufsspezifische Sprachkurse fördern können, wenn die Voraussetzungen gegeben sind.
Fitzenberger: „Die Bedeutung von Sanktionen wurde von den Befürwortern überschätzt, aber ganz ohne Sanktionen wird es nicht gehen“
In seinem Schlusswort lobte IAB-Direktor Prof. Bernd Fitzenberger die gleichermaßen konstruktive wie kompetente Diskussion. Zugleich dankte er dem Evangelischen Kirchentag für die Aufnahme der Veranstaltung in das Kirchentagsprogramm. Nach Fitzenbergers Einschätzung war die bisherige Grundsicherung vor der Corona-Krise in Bezug auf die Gratwanderung zwischen „Fordern und Fördern“ zu stark auf das Fordern ausgerichtet. „Das alte System der Grundsicherung hat die individuellen Lebensschicksale nicht ausreichend berücksichtigt“, so Fitzenbergers Kritik, der sich mit den Podiumsgästen darin einig wusste, dass das Bürgergeld einen Fortschritt darstellt. Auch die erweiterten Instrumente beim Bürgergeld müssten passgenau auf den sehr unterschiedlichen Bedarf der Betroffenen zugeschnitten werden. Fitzenberger griff außerdem das Thema „Sanktionen“ (die mittlerweile unter dem Begriff „Leistungsminderung“ firmieren) auf, welches in der Diskussion angesichts der knappen Zeit und der Breite des Gesamtthemas nicht behandelt wurde. „Ganz ohne Sanktionen“, so Fitzenberger, „wird es nicht gehen. Die Bedeutung von Sanktionen wurde aber von den Befürwortern überschätzt.“ Sanktionen hätten zwar dazu beigetragen, dass die sanktionierten Personen etwas schneller eine Arbeit aufgenommen hätten, allerdings habe sich diese oft nicht als nachhaltig erwiesen. „Die beste Sanktion ist die, die nicht ausgesprochen wird“, zeigte er sich überzeugt.
Weitere Informationen
Video der Veranstaltung auf dem YouTube-Kanal des IAB:
https://youtu.be/IdTvgswgOlk
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20230717.01
Gerber, Max (2023): Nürnberger Gespräche: Das neue Bürgergeld – Fortschritt oder Rückschritt?, In: IAB-Forum 17. Juli 2023, https://www.iab-forum.de/nuernberger-gespraeche-das-neue-buergergeld-fortschritt-oder-rueckschritt/, Abrufdatum: 17. November 2024
Autoren:
- Max Gerber