5. Januar 2023 | Migration und Integration
Raus aus der (gefühlten) Ohnmacht? Geflüchtete erleben ihr Ankommen in Deutschland als eine immense Herausforderung
Wie Geflüchtete ihre erste Zeit in einer neuen Umgebung und in einer neuen Gesellschaft erleben, lässt sich auf unterschiedliche Weise erforschen. Der überwiegende Teil dieser Forschung nimmt eine gesamtgesellschaftliche Perspektive ein. Dabei werden die Geflüchteten, aber auch die hier ansässige Bevölkerung implizit meist als mehr oder weniger homogene Gruppen betrachtet. Beide Gruppen sind jedoch keineswegs einheitlich: Sie bestehen aus einer Vielzahl von Individuen, die sehr verschieden sein können.
Es erscheint deshalb sinnvoll, den Prozess dieses Ankommens nicht nur aus einer Makroperspektive zu erforschen, sondern auch die subjektive Sicht der Geflüchteten, die höchst unterschiedlich ausfallen kann, stärker in den Blick zu nehmen. Einen sehr guten Einblick in diese persönliche Sicht auf das Ankommen bieten Berichte von Geflüchteten über ihre erste Zeit in Deutschland. In der IAB-Studie „Netzwerke der Integration“ wurde die Sichtweise Geflüchteter anhand einer Vielzahl von Erzählungen über wichtige Ereignisse dieser Anfangszeit rekonstruiert (lesen Sie dazu auch den IAB-Forschungsbericht 13/2020 von Stefan Bernhard und Stefan Röhrer).
Diese individuellen Geschichten machen deutlich, dass die Geflüchteten die Zeit ihres Ankommens in Deutschland häufig als ein Ringen um Handlungsfähigkeit erleben. Nicht selten fühlen sich die Geflüchteten in der Zeit des Ankommens ohnmächtig und versuchen in einem Akt der Selbstermächtigung Handlungsfähigkeit zu erlangen. Sie versuchen also, selbst aktiv zu werden, um ihre Situation aus eigener Kraft zu verbessern.
Um diese Herausforderung zu verdeutlichen, werden im Folgenden die Erzählungen von Amber, Firas, Emin und Badia vorgestellt, die in Wirklichkeit anders heißen (zur Methodik siehe den Infokasten am Ende des Beitrags).
Erzählung I: Die befreiende Silvesternacht
Amber ist zwischen 35 und 40 Jahre alt und kommt aus Äthiopien. Sie hat in ihrem Herkunftsland studiert und kam zusammen mit ihren Kindern nach Deutschland. Im Interview erzählt sie von ihrer ersten Silvesternacht in Deutschland – für sie ein wunderschönes Ereignis. Zuerst habe sie sich nicht getraut, an den Silvesterfeierlichkeiten teilzunehmen – aus Angst, wegen ihres Äußeren diskriminiert zu werden. Von dieser Angst, so Amber weiter, wollte sie sich aber nicht aufhalten lassen und stürzte sich in das wilde Treiben in den Straßen. An einem Platz, an dem sich viele Feiernde versammelten, ging sie schließlich in der Masse unter. Die damit verbundene Unauffälligkeit löste bei ihr ein Gefühl der Befreiung aus, da sie sich als Teil der Gemeinschaft und damit zugehörig fühlte.
Interessant ist dabei nun, wie sie die Geschichte erzählt: Zunächst stellt sie sich als von Angst gelähmt und damit ohnmächtig dar. Sie erläutert ausführlich, warum sie damals Angst davor hatte, sich unter die Leute zu mischen: Aus ihrem Herkunftsland kannte sie das Vorurteil, dass die Deutschen Rassisten seien und sie daher aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminieren würden. Aus dieser Angst erwuchs bei ihr zugleich ein Gefühl der Ohnmacht, das ihre Fähigkeit zu handeln hemmte. Ausführlich schildert Amber, wie sie diese Angst schließlich überwindet – ein Akt der Selbstermächtigung.
Die Erlangung von Handlungsfähigkeit ist der entscheidende Wendepunkt ihrer Geschichte, da sie nur dadurch das befreiende Zugehörigkeitsgefühl am Ende der Geschichte erleben konnte. Die Angst vor Diskriminierung erwies sich also in diesem Fall als unbegründet. Die Ausgelassenheit der Menschen – vor allem der Jugendlichen – am Silvesterabend war für sie zwar ungewohnt, aber nicht direkt bedrohlich. Besonders erstaunt zeigt sie sich darüber, dass die Polizei sich passiv verhielt und weder sie noch die Jugendlichen repressiv behandelte. In der Masse der Feiernden war sie schließlich unsichtbar, nur eine von vielen, der von niemandem besondere Beachtung geschenkt wurde. Und genau darin besteht das Außergewöhnliche für sie: Sie fällt nicht auf und ist Teil der Feiernden.
Weder ihre Hautfarbe noch der Umstand, dass sie als Frau nachts allein draußen ist, machten sie zur Zielscheibe von Diskriminierung. Deshalb fühlte sie sich frei: “[…] for the first time in my life I embraced the freedom”.
Ihr Ankommen stellt Amber also als eine Überwindung von Angst dar, wobei die Angst sie in eine ohnmächtige Position zwängte, aus der sie sich durch einen Akt der Selbstermächtigung befreien konnte. Dies allein brachte sie aber noch nicht zu dem Gefühl der Befreiung. Denn dazu war es eben auch nötig, dass sie von der einheimischen Bevölkerung nicht als „anders“ behandelt worden ist: Sie fühlte sich in der Silvesternacht von dieser vielmehr so akzeptiert, wie sie ist.
Erzählung II: Von Feiernden herzlich aufgenommen
Firas erzählt ebenfalls eine Geschichte, die seine Teilnahme an Feierlichkeiten behandelt. Er ist 40 Jahre alt, hat keinen Schulabschluss und kam allein aus Syrien nach Deutschland. Den Ausgangspunkt für seine Geschichte bilden die psychischen Probleme, die ihn plagen. Nicht zuletzt, um diese besser in den Griff zu bekommen, unternahm Firas einen abendlichen Spaziergang, der ihn in die Innenstadt einer deutschen Großstadt führte. Er hörte von Weitem Musik, die von einer Privatfeier stammte. Ihm gefiel die Musik, und die ausgelassene Stimmung der feiernden Menschen wirkte ansteckend auf ihn, doch er traute sich nicht näher an die Feier heran.
Firas begründet dies damit, dass er „ein Fremder“ sei, was nicht nur darauf verweist, dass ihn die Feiernden nicht kennen würden, sondern eine grundlegende Fremdheit ausdrückt: Als Neuankömmling mit kaum vorhandenen Sprachkenntnissen ist er erkennbar anders. Aufgrund dessen fürchtete er, von den Einheimischen nicht akzeptiert zu werden und verhielt sich dementsprechend zurückhaltend. Seine Darstellungsweise verweist also darauf, dass er sich in der Situation ohnmächtig fühlte. Denn seine Handlungsfähigkeit war durch die Angst vor Ablehnung erheblich eingeschränkt.
Während er das Treiben aus sicherer Entfernung beobachtete, wurde er von einigen Gästen der Feier bemerkt. Dies bildet den Wendepunkt in Firas‘ Geschichte: Eine Frau kam auf ihn zu und sprach ihn auf Deutsch an. Er verstand zwar nicht, was sie sagte, konnte aber anhand ihrer Gestik und Mimik erkennen, dass er willkommen war.
Firas stellt sich aber auch am Höhepunkt seiner Erzählung nicht als selbstermächtigendes Subjekt dar, denn er macht sein Bleiben vollständig vom Willen der Feiernden abhängig: „[…] wenn Sie nicht wollen, dann kann ich ja weggehen. […] [Wollen Sie, dass ich hier bin?]“. Er signalisierte damit, dass er zwar gerne bleiben wollte, aber sein weiteres Handeln von dem Willen der Feiernden abhängig machte.
Die Feiernden stellten in seinem Denken also eine Autorität dar, der er sich unterwerfen musste. Besonders bemerkenswert ist für ihn dabei der Umstand, dass die Gäste der Feier ihn – einen Fremden – so herzlich aufnahmen, ohne dabei eine Gegenleistung zu erwarten. Firas erwartete abgelehnt zu werden, diese negative Erwartung wurde aber nicht bestätigt. Dennoch blieb er in einer ohnmächtigen Position, da allein das Wohlwollen der Feiernden das positive Ergebnis – das Gefühl der Zugehörigkeit – hervorbrachte.
Die Teilnahme an der Feier gibt Firas ein Stück Handlungsfähigkeit, die er aber nicht aufgrund eines Selbstermächtigungsaktes erlangte. Die bereits hier lebenden Menschen können gleichwohl eine wichtige Stütze für Geflüchtete in ihrem Ringen um Handlungsfähigkeit im Ankommensprozess bilden – wenn sie sich entsprechend offen verhalten.
Firas schließt seine Geschichte mit den Worten „Es gibt Menschen, die gut sind.“ Das unterstreicht zwar die positive Erfahrung, die er in diesem Fall gemacht hatte, lässt aber tendenziell den Rückschluss zu, dass er dies eher als Ausnahme denn als Regel wahrnimmt. Denn die Betonung, dass es „Menschen gibt, die gut sind“, verweist darauf, dass es aus seiner Perspektive eben auch nicht wenige Menschen gibt, die das nicht sind. Das Erlebnis bildet für Firas somit einen der wenigen Lichtblicke in einer ansonsten von ihm eher als dunkel erlebten Zeit in Deutschland.
Erzählung III: Von der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen
Neben solchen Geschichten, die mit einem Zugewinn an Handlungsfähigkeit enden, findet sich auch eine ganze Reihe, bei denen dies nicht der Fall ist. Eine davon erzählt Emin. Er ist 25 Jahre alt, hat in Syrien studiert und kam ebenfalls alleine nach Deutschland. Er lebte hier am Anfang in einem kleinen Dorf, wobei die Geflüchteten vom Rest des Dorfes räumlich getrennt waren und fast ausschließlich zum Hausmeister ihrer Unterkunft Kontakt hatten. Von diesem bekamen sie Informationen darüber, wie sie sich zu verhalten hätten. Der Hausmeister nimmt in Emins Geschichte die Rolle eines „Gatekeepers“ ein, der die Geflüchteten und das Dorf voneinander trennt.
Emin erzählt, dass es in dem Dorf für ihn kaum Möglichkeiten gab, seine Freizeit zu gestalten. Es gab zwar einen Badesee und im Dorf gab es auch hin und wieder Feiern. Von beidem fühlte sich Emin aber ausgeschlossen. Dies wurde ihm vor allem durch den Hausmeister vermittelt. Dabei fühlte er sich nicht nur von den Dorfbewohnern nicht akzeptiert, er hatte auch zu den anderen Geflüchteten kein enges Verhältnis: Emin erzählt, dass er „mit den fremden Leuten in einem Zimmer” wohnen musste. Er fühlte sich dadurch nicht zugehörig und vereinzelt.
Die Ausgangsposition von Emin war also denkbar ungünstig. Er erzählt über die Versuche, ein positives Verhältnis zum Hausmeister aufzubauen. Sie scheiterten aber daran, dass dieser kein Interesse an einem engeren Kontakt zu den Geflüchteten zeigte. Auch zum Badesee ging Emin nicht mehr, nachdem er zu dem Eindruck gelangt war, dass er dort nicht erwünscht war. Der Hausmeister warnte die Geflüchteten davor, dort zu schwimmen, da die anderen Menschen feindselig auf sie reagieren könnten. Für ihre Freizeitgestaltung schlug der Hausmeister ihnen vor, in ein größeres Dorf zu fahren, da es dort auch andere „Ausländer“ gebe.
Die Trennung zwischen den Geflüchteten und den Einheimischen stellt Emin also als unüberwindbar und als von Letzteren gewollt dar. Trotz seiner Versuche, Kontakte zu den Dorfbewohnern aufzubauen und so Handlungsfähigkeit zu erlangen, fühlt er sich weiterhin ohnmächtig.
Als Ausweg aus dieser ansonsten ausweglosen Situation bleibt daher aus seiner Sicht nur der Wegzug: Emin sieht in dem Dorf keine Möglichkeit, Anschluss zu finden. Das Dorf stellte für ihn eine unveränderliche Autorität dar, die ihm gegenüber feindselig ist. An Selbstermächtigung ist im Dorf also gar nicht zu denken. Der Wegzug erschien als die einzige Handlungsoption.
Dass Emin diese ergreift, stellt einen Akt der Selbstermächtigung dar, der aber nicht sein Leben im Dorf beeinflusst, sondern sein Leben vom Dorf löst. Emin erzählt die Geschichte im Kontext seines Umzugs in eine Großstadt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Erzählung nicht mit einem Zugewinn an Handlungsfähigkeit im Dorf endet, sie dient ja gerade dazu, seinen Umzug zu begründen. Der Umzug verbesserte Emins Situation dann erheblich.
Erzählung IV: Vom Arbeitskollegen bloßgestellt
Die vierte Geschichte wird von Badia, einer Frau von 22 Jahren, erzählt. Badia hat in Syrien zwölf Jahre lang die Schule besucht und arbeitete in Deutschland in einem Supermarkt. Der Supermarkt bildet auch den Schauplatz ihrer Erzählung: Sie berichtet über Diskriminierungen, die sie während ihrer Arbeit erfahren hatte. Sie fühlte sich dort häufig von anderen Beschäftigten ungerecht behandelt, wobei sie den Grund dafür in erster Linie in ihren Sprachdefiziten sieht. Das ist insofern bemerkenswert, als Badia das Interview auf Deutsch gibt und dementsprechend gut Deutsch spricht. Anhand ihres Akzentes ist aber erkennbar, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache ist.
Auch in der konkreten Situation, die Badia im Anschluss schildert, bildet die Sprache den entscheidenden Moment: Sie konnte auf der Getränkeliste etwas nicht richtig lesen und bat daher einen Kollegen um Hilfe. Dieser behandelte Badia aber herablassend, indem er das Wort mehrmals wiederholte und anschließend komplett buchstabierte. Dies empfand sie als Herabwürdigung: „Und vor der Kasse war eine Reihe von Menschen und sie sahen, wie er mir das Wort buchstabiert, wie ein kleines Kind. Das war mir sehr peinlich.”
Die Metapher des „kleinen Kindes“ drückt Badias Ohnmacht in dieser Situation aus. Sie schildert, dass sie sich dem Kollegen gegenüber unterlegen fühlte, da ihr die richtigen Worte fehlten, um ihm Kontra geben zu können. Die Scham, die sie empfand, ist dabei auch dem Umstand geschuldet, dass die Situation vor Publikum geschah.
Badia ließ die Herabwürdigung durch ihren Kollegen aber nicht auf sich beruhen, sie fügte sich nicht. Da sie sich in der direkten Konfrontation mit ihm in einer unterlegenen Position sah, wandte sie sich an eine Autorität: ihre Chefin. Sie schilderte ihrer Chefin die Situation und gab ihr zu verstehen, dass sie eine solche Behandlung nicht akzeptiert. Badias Selbstermächtigung findet also über einen Umweg statt. Sie war in der Situation ihrem Kollegen gegenüber machtlos, akzeptierte sein Verhalten aber nicht als unveränderbar und wandte sich deshalb an eine Autorität, die in der Lage ist, den Kollegen für sein Verhalten zu rügen.
Was passierte, nachdem Badia ihrer Chefin von dem Vorfall berichtete, erzählt sie nicht. Sie will mit ihrer Geschichte in erster Linie zeigen, warum sie sich häufig nicht zugehörig fühlt. Dieses Ereignis, so lassen sich weitere Einlassungen Badias aus dem Interview interpretieren, bildet wohl nur ein Beispiel von vielen, die ihr Ankommen erschwerte.
Ein Kontinuum zwischen Ohnmacht und Selbstermächtigung
Was die sehr unterschiedlichen Erzählungen miteinander verbindet, ist die Problematisierung von Handlungsfähigkeit im Prozess des Ankommens. Denn die Geflüchteten positionieren sich in ihren Geschichten auf einem Kontinuum zwischen Ohnmacht und Selbstermächtigung und stellen sich dadurch als unterschiedlich handlungsfähig dar. Sie sehen sich also in einem ständigen Ringen um Handlungsfähigkeit.
Während Amber in ihrer Geschichte von einem Extrempunkt des Kontinuums zum anderen gelangt, bleibt Firas über die ganze Geschichte in einer ohnmächtigen Position. Beide Erzählungen nehmen trotzdem ein ähnliches Ende: Die Protagonisten erfahren ein Gefühl der Zugehörigkeit.
Auch Emin stellt sich als ohnmächtig dar, ihm blieb nur der Wegzug aus einer als feindselig wahrgenommenen Umgebung. Der Wegzug stellt eine Selbstermächtigung dar, die aber nicht Teil seiner Geschichte ist. Die Geschichte dient als Begründung für die Notwendigkeit dieser Selbstermächtigung, weshalb er sich in ihr durchgehend als ohnmächtig darstellt. Für Firas und Emin bilden die Feiernden beziehungsweise das Dorf unveränderliche Autoritäten, denen sie sich beugen müssen.
Badia gelangt schließlich wieder von einem Extrempunkt zum anderen, wobei sie im Gegensatz zu Amber Hilfe dafür benötigt. In der Situation mit ihrem Kollegen ist sie diesem hoffnungslos unterlegen und damit ohnmächtig. Doch sie sieht in dem Kollegen keine unveränderliche Autorität und sucht sich deshalb Unterstützung von dritter Seite, was ebenfalls einen Akt der Selbstermächtigung darstellt. Denn dadurch verbleibt sie nicht in einer ohnmächtigen Position, sondern demonstriert ihre Handlungsfähigkeit.
Fazit
Die Ursachen dafür, dass sich Geflüchtete häufig ohnmächtig fühlen, sind vielfältig: Die institutionellen Vorgaben im Asylprozess drängen die Geflüchteten typischerweise in eine Position, in der sie kaum eigenen Handlungsspielraum haben. Sie sehen sich mit Autoritäten konfrontiert, gegen die sie nichts ausrichten können. Auch Erfahrungen mit und Angst vor Diskriminierung hemmen die Handlungsfähigkeit Geflüchteter. Verstärkt werden die Ohnmachtsgefühle häufig durch mangelnde Sprachfertigkeiten, wie viele Erzählungen vermuten lassen. Außerdem fehlt den Betroffenen meist ein persönliches Netzwerk, sie fühlen sich nirgendwo zugehörig. In ihrer Kombination bilden diese Faktoren vielfach eine Gemengelage, die ein Gefühl der Ohnmacht begünstigt. Dieses zu überwinden – sich selbst zu ermächtigen – stellt also einen zentralen Aspekt des Ankommens dar.
Aus der Perspektive der Geflüchteten ist das Ankommen also damit verbunden, Handlungsfähigkeit aufrecht zu erhalten oder zu erlangen. Sie sehen sich mit Hindernissen konfrontiert, die den Etablierten kaum begegnen, und es kostet sie viel Kraft und Energie, mit diesen umzugehen. Die Analyse der Erzählungen zeigt, dass das Ankommen von den Geflüchteten häufig als beständiges Ringen um Handlungsfähigkeit empfunden wird.
Methodische Anmerkungen
Um Erzählungen wissenschaftlich erforschen zu können, eignen sich narrationsanalytische Konzepte wie das der „narrativen Identität“ von Lucius-Hoene und Deppermann. Dieses geht davon aus, dass Identität vor allem in Erzählungen hergestellt wird. Durch die Analyse der erzählerischen Passagen eines Interviews kann daher die Identität, die eine Person für sich entwirft, rekonstruiert werden.
Mit dem Konzept der narrativen Identität lässt sich das Bild analysieren, das eine Person von sich selbst hat und das sie nach außen vermitteln will. Für die Erforschung eines bestimmten Abschnitts des Migrationsprozesses ist dieses Konzept also gut geeignet, da die Erzählungen von Geflüchteten aus der Zeit des Ankommens in Deutschland einen Einblick in die Selbstbilder geben, die diese für sich in dieser Anfangszeit entwerfen.
Die Rekonstruktion dieser Selbstbilder erfolgt über eine Analyse der Selbst- und Fremdpositionierungen, also den Zuschreibungen, die eine Person für sich selbst und andere vornimmt. Diese Zuschreibungen geben selbstverständlich lediglich den subjektiven Blick der Befragten wieder, aber genau dieser soll analysiert werden: Wie erleben Geflüchtete das Ankommen in Deutschland? Und die Zuschreibungen, die über andere gemacht werden, geben wiederum Aufschluss darüber, wie die Ankunftsgesellschaft wahrgenommen wird.
Literatur
Bernhard, Stefan; Röhrer, Stefan ; Bella, Natalie (2021): Fünf populäre Irrtümer zur Integration von Geflüchteten. In: IAB-Forum, 11.03.2021.
Bernhard, Stefan (2020): Netzwerke von Geflüchteten: Brücken schlagen kann schwer sein. In: IAB-Forum, 13.08.2020.
Bernhard, Stefan; Röhrer, Stefan Röhrer (2020): Arbeitsmarkthandeln und Unterstützungsnetzwerke syrischer Geflüchteter in Deutschland, IAB-Forschungsbericht Nr. 13.
Lucius-Hoene, Gabriele; Deppermann, Arnulf (2002): Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. Leske + Budrich: Opladen
Röhrer, Stefan (2021): Das Verständnis von Integration ist sehr unterschiedlich und prägt das Ankommen. In: IAB-Forum, 15.07.2021.
In aller Kürze
- Die Sichtweise Geflüchteter auf ihr Ankommen in Deutschland lässt sich anhand von Erzählungen über diese Zeit rekonstruieren, die in der IAB-Studie „Netzwerke der Integration“ im Rahmen von Interviews erfolgten.
- Geflüchtete positionieren sich in diesen Erzählungen auf einem Kontinuum zwischen Ohnmacht und Selbstermächtigung. Sie erleben das Ankommen also als ein Ringen um Handlungsfähigkeit.
- Die Gründe dafür sind vielfältig: Besonders Diskriminierungserfahrungen und die Konfrontation mit Autoritäten begünstigen das häufig artikulierte Gefühl von Ohnmacht. Einigen gelingt es, dieses Ohnmachtsgefühl durch einen Akt der Selbstermächtigung zu überwinden.
doi: 10.48720/IAB.FOO.20230105.01
Landauer, Philipp (2023): Raus aus der (gefühlten) Ohnmacht? Geflüchtete erleben ihr Ankommen in Deutschland als eine immense Herausforderung, In: IAB-Forum 5. Januar 2023, https://www.iab-forum.de/raus-aus-der-gefuehlten-ohnmacht-gefluechtete-erleben-ihr-ankommen-in-deutschland-als-eine-immense-herausforderung/, Abrufdatum: 24. December 2024
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Autoren:
- Philipp Landauer