19. Juni 2019 | Serie „Zukunft der Grundsicherung“
Sanktionen in der Grundsicherung – was eine Reform anpacken müsste
Deutschland und andere OECD-Länder sehen Sanktionen gegen Personen vor, die Grundsicherungsleistungen beziehen und dabei gegen die ihnen obliegenden Pflichten verstoßen. Die im Sozialgesetzbuch (SGB) II geregelten Pflichten für erwerbsfähige Leistungsberechtigte sollen deren Integration in Beschäftigung unterstützen.
Verstoßen Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II (ALG II) gegen ihre Pflichten, ohne einen wichtigen Grund dafür geltend machen zu können, drohen Sanktionen von in der Regel dreimonatiger Dauer. So müssen die Betroffenen Termine bei ihrem Jobcenter wahrnehmen – was für den Beratungsprozess zentral ist. Nehmen sie einen Termin unentschuldigt nicht wahr, führt dies zu einer Sanktion in Höhe von zehn Prozent des maßgebenden Regelbedarfs. Dieser deckt die Ausgaben insbesondere für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie (ohne die auf Heizung und Warmwasser entfallenden Anteile) sowie für weitere persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens ab.
Der maßgebende Regelbedarf entspricht dem Betrag, den Bezieherinnen und Bezieher von ALG II erhalten, wenn sie über keine weiteren Einkommen verfügen. Er beträgt derzeit für eine alleinstehende Person 424 Euro im Monat. Weil andere Einkommen auf die ALG-II-Leistungen angerechnet werden, kann der tatsächliche Regelbedarf niedriger sein oder auch bei null liegen – wobei auch dann noch Leistungen für Unterkunft und Heizung bezogen werden können. So wird beispielsweise ein Erwerbseinkommen zwischen 100 und 1.000 Euro zu 80 Prozent auf die Leistung angerechnet.
Die Sanktionsregelungen für Jüngere sind deutlich schärfer
Neben den Meldepflichten müssen auch die in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Pflichten – etwa die Anzahl der monatlichen Bewerbungen – erfüllt werden. Ferner sind erwerbsfähige Leistungsberechtigte dazu verpflichtet, eine zumutbare Arbeit oder Ausbildung aufzunehmen oder fortzuführen und an zumutbaren Fördermaßnahmen teilzunehmen.
Für Personen ab 25 Jahren wird beim ersten Verstoß gegen eine dieser Pflichten eine Sanktion in Höhe von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs angesetzt, beim ersten wiederholten Verstoß innerhalb eines Jahres 60 Prozent, bei allen weiteren Verstößen innerhalb eines Jahres fallen alle ALG-II-Leistungen weg. Für unter 25-Jährige führt schon der erste Verstoß dieser Art zu einem Wegfall des Regelbedarfs und eine wiederholte Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres zum Wegfall aller ALG-II-Leistungen, einschließlich der Übernahme der Kosten der Unterkunft.
Bei Kürzungen von mehr als 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs können den Betroffenen vom Jobcenter Sachleistungen oder geldwerte Leistungen wie Lebensmittelgutscheine gewährt werden. Falls Kinder im Haushalt leben, müssen diese gewährt werden. Kürzungen der Leistungen für Unterkunft und Heizung sind nur für Alleinlebende relevant. Nach Auffassung des Bundesozialgerichts dürfen diese Leistungen bei Mehrpersonenbedarfsgemeinschaften durch Sanktionen nicht reduziert werden.
Im Jahr 2018 wurden 8,5 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten mindestens einmal sanktioniert
Laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit wurden im Jahr 2018 pro Monat gut drei Prozent aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten mindestens einmal sanktioniert. Da die neu ausgesprochenen Sanktionen im Jahr 2018 zu rund 77 Prozent auf Meldeversäumnisse zurückgingen, handelt es sich mehrheitlich um eher „leichte“ Sanktionen. Weil nicht in jedem Monat immer dieselben Personen von Sanktionen betroffen sind, beantwortet die monatsdurchschnittliche Sanktionsquote von gut drei Prozent nicht die Frage, welcher Anteil der ALG-II-Beziehenden innerhalb eines Jahres mindestens einmal sanktioniert wurde. Auf das gesamte Jahr 2018 gerechnet, belief sich der Anteil der mindestens einmal sanktionierten Personen auf 8,5 Prozent.
Verhängte Sanktionen beschleunigen die Aufnahme einer Beschäftigung
Schon die bloße Sanktionsmöglichkeit sollte etwaigen Pflichtverstößen tendenziell vorbeugen und dadurch zu einer beschleunigten Aufnahme von Arbeit oder Ausbildung beitragen (Ex-ante-Wirkung). Eine tatsächlich erfolgte Sanktion dürfte diese Wirkung noch verstärken (Ex-post-Wirkung). Allerdings können Sanktionen die Lebensbedingungen der Betroffenen stark beeinträchtigen und auch kontraproduktive Reaktionen wie einen gänzlichen Rückzug vom Arbeitsmarkt auslösen.
Einige Studien haben bereits kausale Wirkungen von Sanktionen im SGB II auf Basis von Personendaten und entsprechenden Vergleichsgruppen untersucht (diese sind in der IAB-Stellungnahme 5/2018 zusammengefasst). Die Studien beschäftigten sich bislang ausschließlich mit Wirkungen tatsächlich eingetretener Sanktionen. Sie kommen zu dem eindeutigen Befund, dass verhängte Sanktionen die Aufnahme einer Beschäftigung beschleunigen.
Besonders eindrücklich zeigt sich dies am Beispiel westdeutscher Männer unter 25 Jahren, die binnen eines Jahres zum ersten Mal sanktioniert werden (siehe Abbildung 1): Wenn deren maßgebender Regelbedarf aufgrund von Meldeversäumnissen um 10 Prozent gekürzt wird, nimmt die Übergangsrate in Beschäftigung infolge dieser Kürzung um knapp 37 Prozent zu. Bei anderen Pflichtverletzungen, die zu einem dreimonatigen Wegfall der Regelbedarfsleistung führen, steigt sie sogar um fast 120 Prozent. Zu diesem Ergebnis kommt eine 2014 erschienene Studie von Gerard van den Berg, Arne Uhlendorff und Joachim Wolff.
In einer weiteren Studie, die als IAB-Kurzbericht 5/2017 publiziert wurde, haben die drei Autoren auf Basis derselben Daten ebenfalls nachgewiesen, dass junge Erwachsene durch Sanktionen im Schnitt schneller wieder in Arbeit kommen. Bei alleinlebenden Personen können Sanktionen allerdings dazu führen, dass sich die Betroffenen schneller vom Arbeitsmarkt zurückziehen. Letzteres tritt indes deutlich seltener auf als die Aufnahme einer Beschäftigung.
Ein weiterer Befund dieser Studie: Das Tagesentgelt, das die Sanktionierten bei der Aufnahme der ersten Beschäftigung erzielen, ist nach der ersten Sanktion aufgrund anderer Pflichtverletzungen als Meldeversäumnissen geringer als bei denjenigen, die nicht sanktioniert wurden (siehe Abbildung 2). Demgegenüber konnte für die zweite Sanktion wegen einer wiederholten Pflichtverletzung kein statistisch gesicherter Effekt auf das Tagesentgelt nachgewiesen werden.
Diese Befunde sprechen insgesamt dafür, dass sanktionierte Personen eher bereit sind, eine Arbeit aufzunehmen, als solche, die – unter sonst gleichen Bedingungen – nicht sanktioniert wurden. Die verringerten Tagesentgelte nach einer Arbeitsaufnahme wären insbesondere dann von Nachteil, wenn sie von Dauer wären. Der negative Tagesentgelteffekt wurde allerdings vor Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ermittelt und dürfte mittlerweile geringer ausfallen.
Auch das Hamburgische WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) hat sich in mehreren Studien mit der Wirkung von Sanktionen auseinandergesetzt. Teils bestätigen sie die zuvor genannten Ergebnisse. Teils enthalten sie jedoch auch Befunde, denen zufolge sich Sanktionen weitestgehend nachteilig auswirken, etwa indem sie das spätere Erwerbseinkommen stark reduzieren.
Die Studien des HWWI sind jedoch durch erhebliche methodische Mängel gekennzeichnet. Zwei Studien bilden beispielsweise statistische Zwillinge und beziehen bei der Zwillingsbildung nur ein Jahr Erwerbshistorie vor dem Start des ALG-II-Bezugs mit ein. Das ist unzureichend, um vergleichbare Personen für die sanktionierten Personen zu ermitteln. Bei dem untersuchten Personenkreis wäre es wichtig, eine weit längere Erwerbshistorie für die statistische Zwillingsbildung heranzuziehen. Andernfalls ist davon auszugehen, dass Vergleiche zwischen sanktionierten Personen und den ausgewählten nicht sanktionierten Vergleichspersonen keine kausalen Wirkungen der Sanktion abbilden. Daher werden die dort präsentierten Befunde hier nicht weiter diskutiert oder Schlussfolgerungen daraus gezogen.
Sanktionen können die Lebensqualität der Betroffenen teils massiv einschränken
Eine quantitative Befragung von Sanktionierten in Nordrhein-Westfalen und mehrere qualitative Befragungen ermittelten zwar keine kausalen Sanktionseffekte, liefern aber Hinweise auf die Wirkung von Sanktionen auf das Leben der Betroffenen. Demnach sinkt die materiell begründete Lebensqualität umso mehr, je stärker die Sanktion ausfällt. Konkrete Beispiele für Folgen von Sanktionen auf die Lebensverhältnisse der Betroffenen sind von diesen berichtete Einschränkungen bei der Ernährung bis hin zu Hunger, das Sperren der Energie- und Warmwasserversorgung, die faktische Unmöglichkeit, die Miete pünktlich zu begleichen bis hin zu Wohnungsverlust und (erhöhter) Verschuldung.
Befragungsergebnissen zufolge suchen Betroffene in Einzelfällen Zuflucht in Schwarzarbeit und Kleinkriminalität. Sie scheinen außerdem teils das Vertrauen in die für sie zuständige Fachkraft im Jobcenter zu verlieren oder sich vom Jobcenter abzumelden.
Eine Studie des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) zeigt allerdings auch: Ein Großteil der Sanktionierten stimmt der Aussage zu, dass ohne Androhung einer Kürzung „alle machen würden, was sie wollen“. Zumindest bei einem Teil der Betroffenen dürfte das Risiko von Sanktionen demnach deren grundsätzliche Kooperationsbereitschaft stärken. Dennoch zweifeln Sanktionierte daran, dass die eigene Sanktion gerechtfertigt war, beispielweise weil der Zweck einer Maßnahmeteilnahme aus ihrer Sicht nicht erkennbar war und/oder nicht erläutert wurde.
Die Fachkräfte in den Jobcentern bewerten Sanktionen unterschiedlich
Fast alle Fachkräfte in den Jobcentern halten zwar eine Sanktionsmöglichkeit für sinnvoll, die meisten Fachkräfte bewerten aber die besonders scharfen Sanktionen für unter 25-Jährige tendenziell kritisch. Bei Meldeversäumnissen werden durchaus positive Aspekte gesehen. So würden Eigenschaften wie Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit gefördert, die für den Einstieg in die Erwerbsarbeit wichtig sind. Kritischer eingeschätzt werden Sanktionen, die wegen anderer Pflichtverletzungen beim ersten Verstoß zum Wegfall des Regelbedarfs für drei Monate führen.
Zudem hielten nur vier der 26 Befragten Totalsanktionen wegen wiederholter Verstöße innerhalb eines Jahres für richtig. So wurde davon berichtet, dass sie nur eingesetzt werden, wenn die Betroffenen jegliche Mitarbeit verweigern. Die Befragten gehen teilweise davon aus, dass Totalsanktionen, zum Beispiel wenn sie zu Obdachlosigkeit führen, die Integration in Arbeit erschweren.
Welche Reformansätze sinnvoll erscheinen
In Anbetracht der hier dargestellten Befunde lässt sich eine mit Augenmaß betriebene Reform der Sanktionsregeln gut begründen. Die Reform sollte sicherstellen, dass die Anreizwirkungen von Sanktionen erhalten bleiben, zugleich aber sehr starke Einschränkungen der Lebensverhältnisse vermieden werden.
Letzteres kann durch verschiedene Reformelemente geschehen. Die Sonderregeln für unter 25-Jährige können an die Regeln für Leistungsbeziehende ab 25 Jahren angeglichen und damit entschärft werden. Das hat auch schon eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Vereinfachung des passiven Leistungsrechts des SGB II im Jahr 2014 vorgeschlagen.
Um wiederholte Pflichtverletzungen gegebenenfalls verstärkt sanktionieren zu können, sollte die Sanktionsdauer eher verlängert, nicht aber der Kürzungsbetrag erhöht werden: Statt einer Leistungsminderung von 60 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres könnte eine Sanktion in Höhe von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs für vier oder fünf Monate erfolgen.
Da mehrere Sanktionen wegen Meldeversäumnissen zuzüglich einer Sanktion wegen (sonstiger) Pflichtverletzungen gleichzeitig gelten können, sind bislang sehr hohe kumulierte Leistungsminderungen möglich. Das sollte durch eine angemessene monatliche Obergrenze für die Summe der Leistungsminderungen vermieden werden.
Das Ausmaß der Sanktionen könnte zudem stärker mit der Art des Verstoßes variieren. Beispielsweise wären relativ strenge Sanktionen bei einer abgelehnten Arbeitsaufnahme denkbar, die eine deutliche Reduzierung der Hilfebedürftigkeit erbrächte. Die Ablehnung einer Fördermaßnahme ohne unmittelbare Integrationswirkung sollte hingegen weniger stark sanktioniert werden. Dabei könnten verschiedene Verstöße mit einer einheitlichen monatlichen Leistungsminderung, aber unterschiedlich langen Sanktionsdauern verbunden sein. Letztere könnten dabei durchaus über feste gesetzliche Vorgaben geregelt werden.
Da den Betroffenen der Zweck einer Maßnahme, für deren Ablehnung oder Abbruch sie sanktioniert wurden, nicht immer klar zu sein scheint, ist noch ein weiterer Schritt zu diskutieren. Mit der Teilnahme an entsprechenden Maßnahmen soll die Integration in Arbeit oder Ausbildung unterstützt oder zumindest der Weg dahin geebnet werden. Es sollte daher ohnehin Teil der Potenzialanalyse im Rahmen des Beratungsprozesses sein, gemeinsam mit den Betroffenen die Ziele und die notwendigen Schritte zur Zielerreichung zu entwickeln und festzulegen. Im Zuge der gesetzlich geregelten Eingliederungsvereinbarung kann auch festgestellt werden, in welche Tätigkeiten oder Tätigkeitsbereiche die Betroffenen vermittelt werden sollen.
Hier könnte eine Reform der gesetzlichen Regelungen ansetzen: So sollte in diesem Prozess besprochen und in der Eingliederungsvereinbarung oder einem Beratungsprotokoll festgehalten und begründet werden, welche Fördermaßnahmen für einen zu spezifizierenden Zeitraum als zweckmäßig erachtet werden. Als Pflichtverletzung sollte dann die Verweigerung oder der Abbruch eben dieser Maßnahmen gelten.
Eine ähnliche Vorgehensweise wäre gegebenenfalls auch bei der Ablehnung von Stellenangeboten denkbar. Allerdings wäre es in der Praxis vermutlich nur sehr schwer zu bestimmen, welche Stellen konkret zu den Zieltätigkeitsbereichen gehören, in die der- oder diejenige vermittelt werden soll.
Fazit
In der politischen Debatte wird vielfach eine Reform der bestehenden Sanktionsregelungen in der Grundsicherung gefordert. In jedem Fall sollte sichergestellt sein, dass dabei die Anreizwirkungen von Sanktionen erhalten bleiben, zugleich aber sehr starke Einschnitte in Lebensverhältnisse, die eine Integration in den Arbeitsmarkt eher erschweren denn erleichtern, vermieden werden.
Insgesamt liegen mehrere Ansatzpunkte für eine entsprechende Reform vor. Diese lassen sich – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der hier präsentierten Untersuchungsergebnisse – gut begründen. Selbstverständlich ist bei einer Reform das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu berücksichtigen, das bei Redaktionsschluss (Mitte Juni 2019) noch nicht vorlag.
Literatur
Bruckmeier, Kerstin; Kruppe, Thomas; Kupka, Peter; Mühlhan, Jannik; Osiander, Christoph; Wolff, Joachim (2018): Sanktionen, soziale Teilhabe und Selbstbestimmung in der Grundsicherung. Öffentliche Anhörung von Sachverständigen vor dem Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages am 4. Juni 2018. IAB-Stellungnahme Nr. 5.
Bundesagentur für Arbeit (2019): Presseinfo Nr. 15 vom 10.04.2019.
Van den Berg, Gerard J.; Uhlendorff, Arne; Wolff, Joachim (2017): Wirkungen von Sanktionen für junge ALG-II-Bezieher: Schnellere Arbeitsaufnahme, aber auch Nebenwirkungen. IAB-Kurzbericht Nr. 5.
Van den Berg, Gerard J.; Uhlendorff, Arne; Wolff, Joachim (2014): Sanctions for young welfare recipients. Nordic Economic Policy Review. Band 1/2014, S. 177-208.
Pongratz, Tamara; Wolff, Joachim (2019): Sanktionen in der Grundsicherung – was eine Reform anpacken müsste, In: IAB-Forum 19. Juni 2019, https://www.iab-forum.de/sanktionen-in-der-grundsicherung-was-eine-reform-anpacken-muesste/, Abrufdatum: 21. November 2024
Autoren:
- Tamara Pongratz
- Joachim Wolff