8. Oktober 2020 | Betriebliche Arbeitswelt
Steigert sinnstiftende Arbeit die Bereitschaft zum Lohnverzicht?
Iris Kesternich , Heiner Schumacher , Stefan Schwarz , Bettina Siflinger
Ein klassisches Problem der Arbeitslosenversicherung besteht aus ökonomischer Sicht darin, dass sie die Anreize reduziert, auch eine möglicherweise schlecht bezahlte Stelle anzutreten – jedenfalls dann, wenn der Lohn kaum höher ausfällt als das Arbeitslosengeld. Demgegenüber argumentieren beispielsweise die Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens, dass Menschen auch Jobs mit niedriger Bezahlung annehmen würden, solange diese als gesellschaftlich wichtig gelten und ein Einkommen garantieren, das den individuellen Grundbedarf deckt. Doch sind Menschen tatsächlich eher bereit, eine Arbeit aufzunehmen, wenn sie diese als sinnstiftend wahrnehmen, und dafür auch auf Teile ihres Lohns zu verzichten?
Feldstudien haben gezeigt: Insbesondere überdurchschnittlich gut verdienende Gruppen sind bereit, auf Teile ihres Gehaltes zu verzichten, wenn sie mit ihrer Arbeit einen positiven Beitrag zur Gesellschaft glauben leisten zu können. Dies gilt etwa für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Beschäftigte gemeinnütziger Organisationen.
Andere Studien, die auf repräsentativen Umfragedaten basieren, zeigen zwar ebenfalls, dass viele Menschen bereit sind, für eine aus ihrer Sicht sinnvollere Arbeit auf Lohn zu verzichten – in der Regel allerdings nur auf einen geringen Teil. Andere Charakteristika wie Arbeitsplatzsicherheit wiegen für das Gros der Betroffenen demnach deutlich schwerer. In vielen Berufen, die nach verbreiteter Auffassung einen gesellschaftlich wichtigen Beitrag leisten, aber dennoch teilweise eher schlecht bezahlt werden, etwa im Pflegebereich, sind außerdem Arbeitskräfte knapp.
Darüber hinaus dürfte es starke Unterschiede bei der Antwort auf die Frage geben, wie wichtig es dem Einzelnen ist, einer gesellschaftlich sinnvollen Arbeit nachzugehen. So könnten sich manche Arbeitslose von der Gesellschaft allein gelassen fühlen und daher dem Wohl der Gesellschaft bei ihren beruflichen Entscheidungen keinen großen Stellenwert beimessen.
Zudem sind die Jobs, die für Langzeitarbeitslose erreichbar sind, ohnehin oft schlecht bezahlt. In diesem Fall ist eher nicht zu erwarten, dass Arbeitslose bereit sind, zusätzliche Lohneinbußen zu akzeptieren, um einen positiven Beitrag zur Gesellschaft zu leisten.
Warum Arbeitslose den Wert sinnstiftender Arbeit anders gewichten könnten als Beschäftigte
Ein Forschungsteam unter Beteiligung des IAB hat untersucht, wie sich die Sinnhaftigkeit von Arbeit auf das Arbeitsangebot auswirkt, und ob Arbeitslose anders auf die Sinnhaftigkeit von Beschäftigung reagieren als Beschäftigte. Zur Beantwortung dieser Fragen bieten sich zwei unterschiedliche Erklärungsansätze an. Zum einen könnte die Erfahrung von Arbeitslosigkeit dazu führen, dass nicht monetäre Aspekte der Arbeit, darunter auch deren wahrgenommene Sinnhaftigkeit, in den Hintergrund rücken. Zum anderen unterscheiden sich Arbeitslose in einigen persönlichen Merkmalen von Beschäftigten. So weisen sie im Durchschnitt einen geringeren Bildungsstand auf. Dies könnte ebenfalls dazu beitragen, dass sie den Wert sinnstiftender Arbeit anders gewichten als Beschäftigte.
Aus diesen Überlegungen lässt sich eine Reihe an Fragen ableiten: Wie wichtig ist die Sinnhaftigkeit einer Beschäftigung im Verhältnis zu anderen Aspekten – etwa Gehalt, flexible Arbeitszeiten oder Arbeitsplatzsicherheit? Sind Menschen bereit, auf einen Teil ihres Gehalts zu verzichten, um einer Beschäftigung mit höherem Sinngehalt nachzugehen? Ist der Zielkonflikt zwischen Gehalt und sinnstiftender Beschäftigung für Arbeitslose und Beschäftigte unterschiedlich? Und wie lassen sich etwaige Unterschiede erklären? Zu guter Letzt: Sind Menschen, die eine sinnstiftende Tätigkeit ausüben, produktiver?
Um diese Fragen zu beantworten, wurden einerseits Befragungsdaten des Panels „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ (PASS), einer jährlichen Haushaltsbefragung des IAB, genutzt. Sie ist aufgrund der großen Anzahl an (Langzeit-)Arbeitslosen in besonderem Maße geeignet, Unterschiede im Verhalten von Erwerbstätigen und Arbeitslosen aufzuzeigen. Die Befragten wurden um eine Einschätzung gebeten, wie wichtig ihnen eine sinnvolle Arbeit ist. Des Weiteren wurden sie gebeten, die Bedeutung weiterer Arbeitsattribute zu bewerten, unter anderem den Erhalt eines fairen Lohns oder die Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes.
Experimente können Aufschluss über das tatsächliche Verhalten geben
Um neben Einstellungen auch tatsächliches Verhalten messen zu können, wurden ausgewählte Befragte zu einem Experiment eingeladen. Darin wurde ihnen ein einstündiger Job angeboten, bei dem medizinische Forschungsdokumente digitalisiert werden mussten. Dieser Job konnte innerhalb von sieben Tagen nach Annahme von zu Hause aus erledigt werden. Anschließend wurde der sogenannte Reservationslohn ermittelt, also der niedrigste Lohn, zu dem die jeweilige Person bereit war, diese Tätigkeit auszuüben.
Zugleich wurden die Probanden zufällig in eine Experimental- und eine Kontrollgruppe eingeteilt. Der Experimentalgruppe wurde mitgeteilt, dass Forschungsdokumente der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München für eine mögliche spätere Nutzung digitalisiert werden müssen und die Tätigkeit der Probanden daher einen Beitrag zur medizinischen Forschung darstelle. Der Kontrollgruppe hingegen wurde mitgeteilt, dass die Dokumente aus einer öffentlichen Einrichtung stammen und nach der Digitalisierung wahrscheinlich nicht mehr verwendet werden.
Falls eine sinnhafte Arbeit das Arbeitsangebot erhöht, sollte der durchschnittliche Reservationslohn der Experimentalgruppe niedriger sein als derjenige der Kontrollgruppe. Um messen zu können, ob sinnstiftende Arbeit die Produktivität verbessert, wurde für beide Gruppen die Zahl der korrekt getippten Buchstaben ermittelt.
Sinnhaftigkeit der Arbeit ist wichtig, aber im Vergleich zu anderen Beschäftigungsmerkmalen eher nachrangig
Aus den Befragungsdaten ging hervor, dass die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit als wichtig oder sehr wichtig ansahen. Bei den teilnehmenden Arbeitslosen gaben 66 Prozent an, dass die Sinnhaftigkeit der Arbeit für sie sehr wichtig oder eher wichtig ist. Dies ist signifikant geringer als bei den teilnehmenden Beschäftigten mit 76 Prozent. Für beide Gruppen indes war die Sinnhaftigkeit einer Arbeit nur die siebtwichtigste Eigenschaft aus einer Liste von neun Eigenschaften (siehe Tabelle). Arbeitsplatzsicherheit und eine angemessene Bezahlung etwa waren in beiden Fällen deutlich wichtiger.
Im Experiment zeigte sich, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Schnitt nicht bereit waren, auf Lohn zu verzichten, um einer sinnvolleren Arbeit nachzugehen. Die durchschnittlichen Reservationslöhne in der Experimental- und in der Kontrollgruppe waren in etwa gleich hoch. Damit unterscheiden sich diese Ergebnisse deutlich von denen früherer Studien.
Für einzelne Untergruppen ergab sich jedoch ein abweichendes Bild. Dies gilt zum einen für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, denen die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit „sehr wichtig“ war (etwa ein Drittel der Befragten). Dort lag der durchschnittliche Reservationslohn in der Experimentalgruppe (sinnvoller Job) etwa 18 Prozent unter dem in der Kontrollgruppe (wenig sinnvoller Job). Diese Gruppe war also durchaus bereit, auf Lohn zu verzichten, um einer sinnvollen Beschäftigung nachzugehen. Für alle übrigen – also alle, für die Sinnhaftigkeit nicht „sehr wichtig“ war – war der Effekt nicht signifikant.
Arbeitslose stellen bei sinnhafter Beschäftigung sogar höhere Lohnforderungen
Zum anderen zeigte sich für die Gruppe der Arbeitslosen ein abweichendes Muster. So wiesen Arbeitslose in der Experimentalgruppe einen um 14 Prozent höheren Reservationslohn auf als Arbeitslose in der Kontrollgruppe – ein zunächst überraschendes Ergebnis. Ihre Lohnforderung stieg also mit der Sinnhaftigkeit der Arbeit. Das traf insbesondere auf männliche Arbeitslose zu. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diesen Befragten die medizinische Forschung nicht wichtig war: Ihre Produktivität im Job (im Sinne von richtig getippten Buchstaben) war in der Experimentalgruppe deutlich höher als in der Kontrollgruppe.
Wie lassen sich diese Ergebnisse erklären? Die Sinnhaftigkeit einer Arbeit scheint ein Signal für den Wert zu sein, der durch die Arbeit für die Gesellschaft generiert wird. Fairnessüberlegungen können dazu führen, dass die Lohnforderung höher ausfällt, wenn eine Arbeit als gesellschaftlich wertvoll betrachtet wird. Bei Arbeitslosen könnte diese Tendenz ausgeprägter sein, weil sie sich im Schnitt häufiger von der Gesellschaft vernachlässigt oder zurückgesetzt fühlen. Sie wertschätzen eine sinnvolle Beschäftigung demnach vor allem dann, wenn sie dafür ausreichend entlohnt werden.
Fazit
Das Arbeitsangebot lässt sich nicht einfach dadurch erhöhen, dass der gesellschaftliche Nutzen einer Beschäftigung hervorgehoben wird. Wenn eine Tätigkeit als gesellschaftlich sinnvoll gilt, dann ist dies unter Umständen auch mit einer entsprechenden Lohnforderung verbunden. In der aktuellen Diskussion um „systemrelevante“ Berufe wird dies deutlich: Während der Covid-19-Pandemie leisteten und leisten Berufsgruppen wie das Pflegepersonal nach allgemeiner Auffassung eine gesellschaftlich ungemein wichtige Arbeit. Daran knüpft sich die verbreitete Forderung, diese Berufe besser zu bezahlen.
Umgekehrt bedeutet dies aber, dass die meisten Betroffenen nicht allein deswegen bereit sind, auf Lohn zu verzichten, weil sie eine gesellschaftlich wichtige Beschäftigung ausüben. Im Gegenteil: Die Systemrelevanz dieser Berufe, die in der Covid-19-Pandemie überdeutlich wurde, dient vielmehr als Rechtfertigung für die Forderung nach deutlichen Lohnsteigerungen.
Zugleich zeigte sich im Experiment, dass die Produktivität von Arbeitslosen tendenziell höher ausfällt, wenn es sich um eine als sinnvoll erlebte Beschäftigung handelt. Es kann sich daher durchaus lohnen, höhere Löhne zu bezahlen, wenn die angebotene Beschäftigung auch für die Gesellschaft insgesamt einen höheren Nutzen verspricht.
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Autoren:
- Iris Kesternich
- Heiner Schumacher
- Stefan Schwarz
- Bettina Siflinger