Das Projekt „Tag in der Praxis“ in Thüringen bietet Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, ein Jahr lang an einem Tag pro Woche praktische Einblicke in verschiedene Unternehmen zu gewinnen. Gestemmt wird es von einem Netzwerk aus Schulamt, Arbeitsagentur, regionaler IHK und den Kreishandwerkerschaften Nordthüringens. Und dies so erfolgreich, dass es kürzlich vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit dem Deutschen Fachkräftepreis 2025 in der Kategorie „Innovatives Netzwerk“ geehrt wurde. Karsten Froböse, Leiter der Arbeitsagentur Thüringen Nord, Christian Böduel von der IHK Erfurt, und Franka Hitzing vom Schulamt Nordthüringen stellen im Interview das Projekt vor.

Herr Froböse, herzlichen Glückwunsch zur verdienten Verleihung des Fachkräftepreises! Was war der Grund für die Initiierung des Projekts „Tag in der Praxis“ (TiP)?

Karsten Froböse leitet die Arbeitsagentur Thüringen Nord.

Karsten Froböse: Wir stehen in Nordthüringen vor großen demografischen Herausforderungen. Auf 100 Beschäftigte über 55 Jahre, die in den kommenden Jahren in Rente gehen, kommen gegenwärtig nur 36 Jugendliche unter 25 Jahren, die an ihre Stelle treten werden. Das macht die Fachkräftesicherung zur zentralen Aufgabe in unserer Region. Die betriebliche Ausbildung sehe ich dabei als den wichtigsten Schlüssel. Um sie zu stärken, brauchen wir eine konsequente, nachhaltige und praxisnahe Berufsorientierung in Unternehmen. Deshalb haben wir gemeinsam mit den Kammern vor Ort und dem Staatlichen Schulamt Nordthüringen beschlossen, den UTP, den Unterrichtstag in der Produktion, den es in der ehemaligen DDR gab, aufzugreifen und an die heutige Arbeits- und Lebenswelt anpassen. Mit dem Tag in der Praxis ist uns das gelungen.

Was ist für Sie das wichtigste Ziel des Projekts?

Karsten Froböse: Wir verfolgen zwei Ziele. Erstens Fachkräftesicherung für die Unternehmen und zweitens einen guter Übergang von der Schule in den Beruf für die Schülerinnen und Schüler. Mit dem Tag in der Praxis sollen die jungen Menschen eine fundierte Berufswahlentscheidung treffen. Sie lernen mehrere Ausbildungsmöglichkeiten vor Ort kennen. Auch die Unternehmen können über TiP mehr Jugendliche kennenlernen als bei den bisherigen Schülerpraktika. So unterstützen wir den Abschluss von Ausbildungsverträgen in der Region. Darüber hinaus erwarten wir, dass weniger junge Menschen ihre Berufsausbildung abbrechen. Durch den Tag in der Praxis haben sie sich schon vor Vertragsabschluss intensiv mit dem Ausbildungsberuf und -betrieb auseinandergesetzt.

Hitzing: Für mich ist TIP die optimale berufliche Orientierung.

Franka Hitzing: Für mich ist TIP die optimale berufliche Orientierung und entspricht den Anforderungen einer modernen allumfassenden Ausbildung der jungen Menschen im Zusammenspiel mit der schulischen Bildung.

Franka Hitzing ist Referentin am staatlichen Schulamt Nordthüringen.

Die Schülerinnen und Schüler bewerben sich im Laufe eines Jahres auf vier verschiedene Berufsfelder und lernen diese kennen. Sie setzen sich mit praktischen Arbeitsabläufen auseinander und arbeiten mit Kollegen zusammen. Damit lernen sie über ihr Schulwissen hinaus das Leben kennen. Sie verstehen, dass schulisches Wissen und praktische Erfahrungen eine Einheit bilden und den Grundstein für ihr zukünftiges Leben legen. Das Lernen am anderen Ort stellt eine „Übernützlichkeit“ her. Es wirkt sich also positiv auch auf andere Schulfächer aus, weil es den Jugendlichen auf praktische Weise ermöglicht, schulisches Wissen mit dem realen Leben zu verknüpfen.

Christian Böduel leitet die IHK-Regionalbüros Nordthüringen.

Christian Böduel: Durch den Tag in der Praxis entsteht um jede Schule ein eigenes Netzwerk mit Unternehmen und Betrieben, dessen Herzschlag durch die vier Praktikumsphasen, die Minimesse und den Bewerbungs- und Matching-Prozess bestimmt wird. Schule und Wirtschaft verbinden sich, lernen wichtige Aspekte voneinander kennen und entwickeln Verständnis für die jeweils aktuellen Herausforderungen des anderen.

Wie schwer war es insbesondere anfangs, Betriebe, Schulen und Eltern von der Teilnahme zu überzeugen?

Froböse: Aller Anfang ist schwer. Vor allem, weil wir in der Corona-Zeit mit TiP gestartet sind. Einige Unternehmen waren schnell dabei, weil sie mit dem früheren UTP positive Erinnerungen verbanden. Andere warteten lieber erstmal ab. Auch die Schulen mussten überzeugt werden, wurden dann aber große Unterstützer. Die größten Bedenken gab es unter den Eltern, gerade in der Corona-Zeit. In den Elternveranstaltungen zu TiP  wurde sehr kontrovers diskutiert. Am Ende einer jeden Elternveranstaltung wurde abgestimmt. In der ersten Schule gab es breite Zustimmung. In der zweiten Schule stießen wir auf Ablehnung. Hier hätte TiP keinen Sinn gemacht. Wir haben zwei andere Schulen gefunden, in denen es letztlich breite Zustimmung der Eltern für TiP gab. Mit diesen drei Schulen war der Anfang gemacht.

Froböse: Wir haben etwas gewagt und sind neue Wege gegangen

Inzwischen sind 60 Prozent der Regelschulen Nordthüringens Teil des Projekts – und über 900 Betriebe. Wie lässt sich das organisatorisch stemmen?

Froböse: Es ist sehr viel Arbeit für die Netzwerkpartner, Schulen und Unternehmen. Wir beschäftigen keinen zusätzlich bezahlten Koordinator für TiP. Uns eint das gemeinsame Ziel, die Region zu stärken. Jeder von uns sieht die Vorteile für sich und für die Region Nordthüringen. Wir haben etwas gewagt und sind neue Wege gegangen. Engagement und der Wille zur Zusammenarbeit machen den Erfolg von TiP aus.

Was sehen Sie dabei als besonders herausfordernd?

Froböse: Nordthüringen ist eher ländlich geprägt. Die Logistik ist deshalb wichtig. Die Jugendlichen müssen zu den Praktikumsbetrieben kommen. Das muss mit den Schulträgern im Vorfeld geklärt sein.  TiP zeigt: Es funktioniert. Zudem sollte man beim Wachstum von TiP um weitere Schulen eine solide Strategie verfolgen. Es kann nicht sein, dass Schülerinnen und Schüler keinen Praktikumsplatz bekommen können, weil sich in der Region nicht genug Unternehmen beteiligen. Zudem sollte die Politik eingebunden werden. In Nordthüringen konnte gleich zu Beginn durch das Netzwerk eine Vielzahl von Abgeordneten, Landräten, Bürgermeistern, bis hin zum Kultusminister und zum Ministerpräsidenten für TiP gewonnen werden. Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung, die wir dadurch erfahren haben.

Böduel: Die Betriebe gewinnen damit zukünftige Fachkräfte aus ihrer Region

Welche Rückmeldungen haben Sie von den teilnehmenden Jugendlichen und Betrieben?

Böduel: Die Rückmeldungen sind positiv. Für viele Betriebe ist der wöchentliche Praktikumstag wesentlich einfacher in die Betriebsabläufe zu integrieren als eine Praktikumswoche. Sie lernen nicht nur kontinuierlich junge Menschen kennen und begleiten diese bei ihrer Berufswahl, sie gewinnen damit zukünftige Fachkräfte aus ihrer Region.

Hitzing: Seit dem Beginn des TiP-Programms werden an den Schulen regelmäßig Evaluationsveranstaltungen durchgeführt. Sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Eltern sind von dieser neuen Art der beruflichen Orientierung überzeugt. Keine der teilnehmenden Schulen hat das Programm abgebrochen. Die Jugendlichen haben teilweise schon frühzeitig Lehrstellen erhalten oder für sich selbst festgestellt, welcher Beruf ihnen zusagt. Die beteiligten Lehrkräfte sind überzeugt, dass sich die Schülerinnen und Schüler merklich bewusster im Unterricht zu den Lehrinhalten positionieren. Trotz hoher Anforderungen an Logistik und Organisation wird TiP sehr begrüßt und vorangetrieben.

Planen Sie, das Projekt in Zukunft auszuweiten?

Froböse: Wir möchten natürlich weitere Regelschulen für TiP gewinnen. Aber auch mit den ersten Gymnasien und Förderschulen laufen Gespräche. In beiden Schularten gibt es jeweils unterschiedliche spezifische Herausforderungen, die noch geklärt werden müssen.

Die Erfolge, die Sie mit diesem Netzwerk verzeichnen, sind in Zeiten des Fachkräftemangels sicherlich auch für andere Regionen interessant. Inwiefern wäre TiP ein Modellprojekt, das auf andere Regionen oder Bundesländer übertragbar ist?

Froböse: Wir sind davon überzeugt, dass TiP gut übertragbar ist. Selbstverständlich müssen regionale Besonderheiten berücksichtigt und das Konzept entsprechend adaptiert werden. Für Thüringen hat die Landesregierung TiP mittlerweile als Form der Berufsorientierung ermöglicht. In Ostthüringen ist TiP bereits als breiter angelegte Form der Berufsorientierung gestartet worden. Auch einzelne Schulen in Mittel- und Südthüringen haben sich auf den Weg gemacht. Wir haben ein Praxishandbuch erstellt. Darin teilen wir unsere Erfahrungen und Empfehlungen öffentlich mit allen Interessierten. Natürlich können sich andere Regionen gern bei uns in Nordthüringen näher über TiP informieren.

Tag in der Praxis (TiP)

Seit Februar 2022 setzen das Schulamt Nordthüringen, der Nordthüringer Regionalservice der IHK Erfurt und die beiden Kreishandwerkerschaften Kyffhäuser Unstrut-Hainich und Eichsfeld-Nordhausen gemeinsam mit der Agentur für Arbeit den „Tag in der Praxis“ (TiP) in Nordthüringen um.

Der „Tag in der Praxis“ ermöglicht Schülerinnen und Schülern der achten und neunten Klasse eine umfassende Berufsorientierung in insgesamt vier Berufsfeldern. Die Schülerinnen und Schüler starten mit den Praktika jeweils im zweiten Halbjahr der 8. Klasse und durchlaufen innerhalb eines Jahres vier Praktikumsstationen ihrer Wahl an einem festgelegten Schultag in der Woche.

Die Betriebe haben die Möglichkeit, sich und ihre Ausbildungsberufe direkt vor Ort in den Schulen bei Minimessen vorzustellen. Anschließend bewerben sich die Jugendlichen auf die Praktikumsplätze in den Unternehmen und durchlaufen mit den Betrieben einen Auswahlprozess. Das Erstellen und Versenden von Bewerbungsunterlagen wird zuvor im Schulunterricht erarbeitet. Die Berufsberaterinnen und -berater stehen dabei unterstützend zur Seite.

Nachdem im Frühjahr 2022 drei Pilotschulen in Nordhausen, Leinefelde und Nordhausen mit insgesamt 180 Schülerinnen und Schülern sowie 120 Unternehmen in TiP starteten, befinden sich im Frühjahr 2025 28 Schulen, das sind 60 Prozent der Regelschulen, mit fast 1.400 Schülerinnen und Schülern sowie etwa 900 Nordthüringer Unternehmen aller Branchen in der Umsetzung von TiP.

Die BA hat das Projekt 2023 mit dem Preis „Erfolge feiern“ als erfolgreiches Praxisbeispiel ausgezeichnet. Zudem war das Projekt im gleichen Jahr einer der SCHULEWIRTSCHAFT-Preisträger. 2025 wurde  TiP mit dem Deutschen Fachkräftepreis der Bundesregierung ausgezeichnet.

 

Bild: Bundesministerium für Arbeit und Soziales
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20250408.01

Keitel, Christiane (2025): Tag in der Praxis: Innovatives Netzwerk in Nordthüringen hilft bei der Fachkräftesicherung, In: IAB-Forum 8. April 2025, https://www.iab-forum.de/tag-in-der-praxis-innovatives-netzwerk-in-nordthueringen-hilft-bei-der-fachkraeftesicherung/, Abrufdatum: 15. April 2025

 

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