21. Dezember 2018 | Serie „Zukunft der Grundsicherung“
Arbeit muss sich lohnen – auch im unteren Einkommensbereich! Ein Reformvorschlag.
Kerstin Bruckmeier , Jannek Mühlhan , Jürgen Wiemers , Ulrich Walwei
Viele Menschen, die Hartz IV beziehen, schaffen es zumindest vorübergehend, auch aufgrund der guten Lage am Arbeitsmarkt, wieder eine Beschäftigung zu finden. Dauerhaft am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen oder gar den Leistungsbezug zu verlassen, gelingt ihnen jedoch häufig nicht. Für Erwerbstätige, die mit einem nur geringen Verdienst für sich oder ihre Familie sorgen müssen, kommen derzeit hauptsächlich die Grundsicherung für Arbeitsuchende, das Wohngeld und der Kinderzuschlag infrage, um ein nicht existenzsicherndes Erwerbseinkommen aufzubessern. Das Zusammenspiel der drei Sozialleistungen erweist sich bei näherem Hinsehen jedoch als stark verbesserungsbedürftig.
Das bisherige System ist wenig leistungsgerecht und zu bürokratisch
So führen die Regeln, wie hinzuverdientes Einkommen auf das Transfereinkommen angerechnet wird, dazu, dass sich zusätzliches Erwerbseinkommen für die Beschäftigten in der Regel kaum auszahlt. Die Grundsicherung setzt einen starken Anreiz, vor allem kleinere Beschäftigungsverhältnisse auszuüben. Denn bei Monatslöhnen über 100 Euro fällt die sogenannte Grenzbelastung sehr hoch aus, weil jeder hinzuverdiente Euro dann zu mindestens 80 Prozent auf das Transfereinkommen angerechnet wird. Gleiches gilt, wenn gleichzeitig Wohngeld und Kinderzuschlag bezogen werden.
Ein weiteres Problem ist die Komplexität jeder einzelnen Leistung und ihres Zusammenwirkens mit anderen Leistungen. Ob ein Anspruch auf eine Leistung besteht, hängt von jeweils unterschiedlichen Bedingungen ab, teilweise beziehen sich die Leistungen aber auch direkt aufeinander.
Ein Beispiel hierfür ist das Verhältnis von Wohngeld und den Leistungen für die Unterkunft und Heizung in der Grundsicherung. Das Wohngeld, welches als Zuschuss zur Sicherung eines angemessenen Wohnbedarfs an Niedrigeinkommenshaushalte gewährt wird, ist gegenüber der Grundsicherung die vorrangige Leistung. Verfügt ein Haushalt über ein auskömmliches eigenes Einkommen, kann beziehungsweise muss je nach Höhe des Erwerbseinkommens Wohngeld beantragt werden.
In der Ausgestaltung gibt es jedoch zwischen beiden Leistungen Unterschiede, beispielsweise bei der Berücksichtigung von Heizkosten. Diese Unterschiede können dazu führen, dass die Leistungen der Grundsicherung vorteilhafter sind als das Wohngeld – mit der Folge, dass manche Haushalte auch deswegen eher Ersteres denn Letzteres beantragen dürften. So bezogen im Jahr 2018 laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit circa 290.000 Haushalte in der Grundsicherung, die über eigenes Einkommen verfügen, ausschließlich Leistungen für Unterkunft und Heizung.
Jede Leistung muss bei einer anderen Behörde beantragt werden. Der Staat muss also mitunter mehrfach klären, ob ein Leistungsanspruch besteht – was für die Betroffenen mit erheblichem Aufwand verbunden ist. Dies ist umso problematischer, als die Zielgruppe der Leistungen häufig nicht nur wenig verdient, sondern auch in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen tätig ist. Wenn sich aber die Einkommensverhältnisse immer wieder ändern, müssen auch die Leistungsansprüche jedes Mal aufs Neue geklärt werden.
Um Niedrigverdienende besserzustellen, wurden in den vergangenen Jahren einzelne Maßnahmen beschlossen wie eine Erhöhung des Wohngelds oder die Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns. Aktuell plant die Bundesregierung eine Reform des Kinderzuschlags, damit mehr Familien davon profitieren und es für diese attraktiver wird, mehr zu arbeiten. All dies reicht jedoch nicht aus. Vielmehr muss das Leistungssystem insgesamt umgebaut werden, damit Arbeit sich mehr lohnt als bisher und Maßnahmen zielgenauer wirken.
Im Folgenden wird daher ein Vorschlag zur Neugestaltung des Transfersystems diskutiert, der darauf abzielt, das System deutlich zu vereinfachen und die hohe effektive Belastung von niedrigen Erwerbseinkommen zu verringern (eine ausführliche Darstellung findet sich im IAB-Forschungsbericht 9/2018).
Die Kernidee: ein Erwerbszuschuss für einkommensschwache Haushalte
Der Reformvorschlag sieht eine umfassende Neugestaltung des Transfersystems vor. Demnach würde ein Erwerbszuschuss eingeführt, der sich bei der Bedürftigkeitsprüfung und der Transferhöhe weitestgehend an den Bedingungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende orientiert. Für Erwerbstätige ab einem bestimmten Erwerbseinkommen würde er Grundsicherung, Wohngeld und Kinderzuschlag ersetzen, aber weiterhin im Bereich der Grundsicherung administriert werden.
Der Transfer zielt darauf ab, mehr Anreize für eine Erwerbstätigkeit mit höheren Wochenarbeitszeiten zu schaffen. Dazu würden die Hinzuverdienstmöglichkeiten in der Grundsicherung bei geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen eingeschränkt. Im Gegenzug würde die Transferentzugsrate bei Verdiensten oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze oder bei Bezug des Erwerbzuschusses großzügiger ausgestaltet als bisher.
Konkret ist eine Reduzierung des bisherigen Freibetrags von 100 auf 50 Euro und eine Transferentzugsrate von 90 Prozent für Einkommen größer als 50 und kleiner als 450 Euro (bisher 80 Prozent ab 100 Euro) in der Grundsicherung vorgesehen. Ab einem Bruttoeinkommen von mehr als 450 Euro würde die Transferentzugsrate hingegen nur noch 60 Prozent (bisher 80 bis 90 Prozent) betragen. Die Vollanrechnung (100 Prozent) des Hinzuverdienstes bei hohen Einkommen würde komplett abgeschafft.
Ab einem bestimmten Bruttomonatslohn gingen Haushalte aus dem Grundsicherungsbezug automatisch in den Erwerbszuschuss über. Die monatlichen Einkommensschwellen für den Bezug des Erwerbszuschusses sind in diesem Modell abhängig vom Haushaltstyp und betragen 1.200 Euro für Alleinstehende, 800 Euro für Alleinerziehende, 2.200 Euro für Paarhaushalte ohne Kinder und 1.400 Euro für Paarhaushalte mit Kindern. Diese Einkommensschwellen gelten jeweils für den Haushalt insgesamt, sie können also bei zwei Erwerbstätigen im Haushalt auch gemeinsam erreicht werden. Im Mittel erreichen Bezieherinnen und Bezieher der Grundsicherung Bruttomonatslöhne, die über diesen Einkommensschwellen liegen, wie eine im IAB-Kurzbericht 2/2018 erschienene Analyse zeigt.
Durch die verbesserten Hinzuverdienstmöglichkeiten bei höheren Monatslöhnen hätte der Erwerbszuschuss eine größere Reichweite als die Grundsicherung bisher. Das Wohngeld würde dadurch faktisch für Erwerbstätige aus Niedrigeinkommenshaushalten, die nicht an der SGB-II-Vermögensprüfung scheitern, bedeutungslos. Der Kinderzuschlag entfiele komplett. Damit wäre ein großer Schritt hin zu einer Vereinfachung des Transfersystems vollzogen. Dank dieser Vereinfachung wäre zudem zu erwarten, dass die Betroffenen den Erwerbszuschuss tatsächlich häufiger in Anspruch nehmen würden, als dies bislang bei Wohngeld und Kinderzuschlag der Fall ist.
Da die Leistung weiterhin in der Grundsicherung geregelt wäre, würde für die Bezieher außerdem ein neuer sogenannter aktivierungsfreier Status geschaffen, der sie von Verpflichtungen gegenüber den Grundsicherungsstellen weitestgehend entbindet. Dadurch könnte zum einen die Inanspruchnahme weiter erhöht werden. Zum anderen böte die Verzahnung mit der Grundsicherung den Vorteil, dass die Empfänger des Erwerbszuschusses Zugang zu arbeitsmarktpolitischen Instrumenten und Dienstleistungen hätten, wie der beruflichen Bildung oder der Weitervermittlung. Dieser Zugang ist bei den ausschließlich passiven Leistungen Wohngeld und Kinderzuschlag nicht gegeben.
Auswirkungen auf den Einkommensverlauf
Nachstehende Abbildung stellt beispielhaft den Einkommensverlauf eines Paarhaushalts mit einem Alleinverdienenden und zwei Kindern unter den aktuell gültigen Regelungen (oben) dem Einkommensverlauf nach einer Neugestaltung des Transfersystems gegenüber (unten). Das Ziel eines kontinuierlichen Tarifverlaufs, bei dem sich eine Ausweitung der Beschäftigung monetär immer auszahlt, wird mit dem Erwerbszuschuss erreicht.
Bei geringen Hinzuverdiensten stellt sich der Beispielhaushalt im hier vorgelegten Konzept gegenüber dem Status quo schlechter: Bis zu einem Bruttoeinkommen von 850 Euro im Monat fiele das Haushaltsnettoeinkommen geringer aus. Der größte Verlust in Höhe von 80 Euro wäre genau an der Geringfügigkeitsschwelle von 450 Euro erreicht. Bei einem Bruttolohn zwischen 850 und 1.400 Euro verbliebe der Haushalt im Grundsicherungsbezug, wäre jedoch finanziell im Durchschnitt um 70 Euro bessergestellt. Ab einem Bruttolohn von 1.400 Euro würde der Wechsel in den Erwerbszuschuss erfolgen, dessen Anspruchshöhe an dieser Stelle noch rund 890 Euro betrüge. Mit steigendem Bruttolohn würde der Erwerbszuschuss dann langsam auslaufen.
Die niedrige Transferentzugsrate von 60 Prozent führt im Modell dazu, dass der Erwerbszuschuss insbesondere für Erwerbstätige mit Kindern auch bei relativ hohen Bruttolöhnen gezahlt werden müsste. Bei einer Transferentzugsrate von 60 Prozent würde ein in dieser Form ausgestalteter Erwerbszuschuss daher an Erwerbstätige in der gesamten unteren Lohnhälfte ausgezahlt werden, sofern diese über keine größeren anderweitigen Einkünfte verfügen und die Bedürftigkeits- und Vermögensprüfung einen Anspruch begründet. Ein früheres Auslaufen des Erwerbszuschusses ließe sich mit einer höheren Transferentzugsrate realisieren.
Auswirkungen auf Arbeitsangebot und Armut
Die potenziellen Effekte des Erwerbszuschusses auf das Arbeitsangebot, die personale Einkommensverteilung sowie die öffentlichen Haushalte lassen sich mit Hilfe des IAB-Mikrosimulationsmodells (IAB-MSM) abbilden. Es besteht unter anderem aus einem Steuer- und Transferrechner sowie einem mikroökonometrischen Arbeitsangebotsmodell, das Arbeitsangebot und Inanspruchnahme von Sozialleistungen simultan modelliert. Datengrundlage ist das Sozio-oekonomische Panel, das auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet wird. Nachstehende Tabelle fasst die Ergebnisse zusammen.
Die beschriebene Neuordnung des Transfersystems führt dazu, dass der Simulation zufolge etwa 42.000 Personen neu in den Arbeitsmarkt eintreten würden. Dies geht überwiegend auf Alleinstehende und Alleinerziehende zurück.
In Paarhaushalten käme es hingegen voraussichtlich zu negativen Effekten auf das Arbeitsangebot. Dies beträfe verstärkt Frauen in Paarhaushalten mit Kindern. Häufig handelt es sich dabei um Zweitverdienerinnen mit niedrigerem Verdienst und geringerer Wochenarbeitszeit als ihr Partner.
Grund für die negativen Effekte könnte sein, dass die Hinzuverdienstmöglichkeiten bei geringen Einkommen im Reformszenario ungünstiger ausfallen. Außerdem steigt mit der Einführung des Erwerbszuschusses auch das verfügbare Einkommen des weiblichen Partners. Dies könnte dazu führen, dass die betroffenen Frauen ihre Arbeitszeit reduzieren.
Um diesem grundsätzlichen Problem bei Zweitverdienenden in Transferbezieher-Haushalten zu begegnen, wären weitere Modifikationen nötig. So könnte der Erwerbszuschuss an eine Mindeststundenzahl beider Partner im Haushalt gekoppelt werden. Auch ein Bonus für Doppelverdiener wäre vorstellbar.
Letztlich zeigt der Befund aber deutlich, dass eine Erhöhung von Sozialtransfers für sich genommen zum Teil nicht ausreicht, um die Arbeitsmarktbeteiligung aller erwerbsfähigen Personen im Haushalt zu erhöhen. Denn ohne zusätzliche Regelungen, die dem jeweiligen Haushaltskontext Rechnung tragen, besteht das Risiko, dass vor allem Frauen in Paarhaushalten keine oder weniger Arbeit anbieten würden. Aus verteilungspolitischer Sicht ist es jedoch sinnvoll, die Erwerbsbeteiligung beider Partner in Paarhaushalten vor allem im unteren Einkommensbereich zu fördern.
Neben den Effekten auf die Arbeitsmarktbeteiligung würden sich auch Verschiebungen zwischen unterschiedlichen Erwerbsformen ergeben. So würde durch den Erwerbszuschuss – wie intendiert – vor allem das Arbeitsangebot bei vollzeitnahen Beschäftigungsverhältnissen steigen. Dadurch fallen die positiven Effekte auf das Arbeitsvolumen größer aus als bei der Arbeitsmarktbeteiligung. Insgesamt führt dies zu einer Zunahme des Arbeitsangebots um 110.000 Vollzeitäquivalente.
Die Einführung des Erwerbszuschusses und die Reform der Hinzuverdienstregeln in der Grundsicherung würden zudem die verfügbaren Einkommen der Leistungsbeziehenden im Mittel erhöhen – sowohl unmittelbar durch die reduzierten Transferentzugsraten bei höheren Erwerbseinkommen, als auch mittelbar durch das erhöhte Arbeitsangebot.
Die Simulation der Einkommensänderungen zeigt, dass reformbedingte Einkommensgewinne hauptsächlich im zweiten und dritten Einkommensdezil anfallen (darunter liegen 10 Prozent, darüber 70 Prozent aller nach dem äquivalenzgewichteten Haushaltsnettoeinkommen geordneten Haushalte). Durch die Begrenzung des Anspruchs auf bedürftige Geringverdienende können also gezielt einkommensschwache Haushalte gestärkt werden.
Die finanzielle Besserstellung geht mit einem Rückgang der Armutsquote in der Gesamtbevölkerung um 1,5 Prozentpunkte, oder knapp 9 Prozent, einher. Davon profitieren Erwerbstätige und deren Angehörige, insbesondere Familien mit Kindern. Die Armutsquoten für diese beiden Untergruppen gehen der Simulation zufolge um 15 beziehungsweise knapp 17 Prozent zurück.
Die erzielten positiven Arbeitsangebots- und Verteilungswirkungen gehen mit simulierten Gesamtkosten in Höhe von circa 2,7 Milliarden Euro für die öffentlichen Haushalte einher. Die Kosten ergeben sich vor allem aus zusätzlichen Ausgaben für den Erwerbszuschuss abzüglich der Einsparungen bei der Grundsicherung, beim Wohngeld und beim Kinderzuschlag sowie Mehreinnahmen vor allem in Form von Sozialversicherungsbeiträgen. Der Gesamteffekt von 2,7 Milliarden Euro ist im Vergleich zu Entlastungen, die alle Erwerbstätigen betreffen, etwa einer Reduzierung der Sozialversicherungsbeiträge oder einer Abschaffung des Solidaritätszuschlags, ein eher geringer Betrag.
Etwa 700.000 Haushalte würden aus diesen drei Transfersystemen in den Erwerbszuschuss wechseln. Darüber hinaus würden weitere circa 1,6 Millionen Geringverdienende aus einkommensschwachen Haushalten, die bislang keine dieser drei Transferleistungen in Anspruch genommen haben, von dieser neuen Leistung profitieren. Damit würde die Reform also nicht nur erwerbstätige Hartz-IV-Beziehende mit höherer Arbeitszeit besserstellen, sondern auch Menschen mit niedrigem Erwerbseinkommen oberhalb der aktuellen Hartz-IV-Schwelle – und dies zu Kosten, die um ein Vielfaches geringer wären als beispielsweise die Abschaffung des Solidaritätszuschlags.
Fazit
Eine Entbürokratisierung und bessere Abstimmung von Wohngeld, Kinderzuschlag und Grundsicherung, um hohe Grenzbelastungen bei Geringverdienenden zu vermeiden, ist nicht nur arbeitsmarkt-, sondern auch sozialpolitisch geboten. Die von der Bundesregierung geplanten Vereinfachungen und Änderungen beim Kinderzuschlag schaffen tatsächlich mehr Arbeitsanreize und gehen daher in die richtige Richtung. Um Erwerbstätige im unteren Einkommensbereich wirklich besserzustellen, sind jedoch weiterführende Schritte notwendig.
Eine umfassende Lösung bestünde in einer Neugestaltung des Transfersystems mit dem Ziel, Schnittstellenprobleme zwischen verschiedenen Einzelleistungen zu vermeiden und die Aufnahme und Ausweitung einer Erwerbstätigkeit monetär stärker zu belohnen. Der hier beschriebene Reformvorschlag sieht vor, für Erwerbstätige in der Grundsicherung eine eigene Leistung zu schaffen – den Erwerbszuschuss, der Wohngeld und Kinderzuschlag für Erwerbstätige ersetzt.
Da dieser Zuschuss weiterhin von Grundsicherungsstellen administriert wird, entfällt der Aufwand, der für die öffentliche Hand, aber auch für die Betroffenen mit dem Wechsel zwischen verschiedenen Transfersystemen verbunden ist. Durch eine Ausweitung der Hinzuverdienstmöglichkeiten beim Erwerbszuschuss können zudem deutlich mehr Erwerbstätige aus einkommensschwachen Haushalten bessergestellt werden. Für sie wird ein sogenannter aktivierungsfreier Status geschaffen, der sie von Verpflichtungen gegenüber den Grundsicherungsstellen weitestgehend entbindet.
Die Simulation der Wirkungen solch einer Neugestaltung zeigt, dass mit überschaubarem finanziellen Aufwand positive Effekte auf das Arbeitsvolumen und auf die Armutsquote, vor allem bei Erwerbstätigen und Familien, erreicht werden können. Insbesondere würde die Aufnahme vollzeitnaher Beschäftigungsverhältnisse attraktiver werden.
Zugleich ginge eine Verbesserung der Hinzuverdienstmöglichkeiten von Leistungsbeziehenden mit einer steigenden Zahl von Transferempfängern einher, da auch viele Erwerbstätige, die heute oberhalb der Hartz-IV-Schwelle liegen, in den Genuss des Erwerbszuschusses kämen. Ob dies sozialpolitisch erwünscht ist oder nicht, ist letztlich eine Frage der politischen Bewertung. Für Zweitverdienende in Paarhaushalten, in der Regel Frauen, können jedoch Anreize zum Rückzug aus dem Arbeitsmarkt entstehen, wenn Haushalte finanziell vom Erwerbszuschuss profitieren. Die Aktivierung von Zweitverdienenden in Haushalten mit niedrigen Einkommen, in der Regel Frauen, muss daher eine Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik bleiben.
Ein entscheidender Vorteil des Konzeptes gegenüber ausschließlich passiven Einkommenstransfers: Die Empfänger der neuen Leistung, davon viele in instabilen und nicht existenzsichernden Beschäftigungsverhältnissen, wären in die fördernde Arbeitsmarktpolitik einbezogen. Sie hätten also bei Bedarf Zugang zu arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und Dienstleistungen.
Angesichts der zunehmenden Digitalisierung dürften sich die Beschäftigungsperspektiven für Menschen mit einfacher Qualifikation in absehbarer Zeit kaum spürbar bessern. Daher braucht es gerade auch für diese Gruppe eine enge Verzahnung passiver Sozialleistungen mit der Arbeitsmarktpolitik, die verstärkt die Beschäftigungsqualität in den Blick nehmen müsste. Denn dies ist eine der Voraussetzungen dafür, um die Chancengleichheit am Arbeitsmarkt, etwa durch eine gezielte Förderung der Aufwärtsmobilität, zu verbessern.
Literatur
Bruckmeier, Kerstin; Hohmeyer, Katrin (2018): Arbeitsaufnahmen von Arbeitslosengeld-II-Empfängern: Nachhaltige Integration bleibt schwierig. IAB-Kurzbericht Nr. 2.
Bruckmeier, Kerstin; Mühlhan, Jannek; Wiemers, Jürgen (2018): Erwerbstätige im unteren Einkommensbereich stärken. Ein Konzept zur Reform von Arbeitslosengeld II, Wohngeld und Kinderzuschlag, IAB-Forschungsbericht Nr. 9.
Bruckmeier, Kerstin; Mühlhan, Jannek; Wiemers, Jürgen; Walwei, Ulrich (2018): Arbeit muss sich lohnen – auch im unteren Einkommensbereich! Ein Reformvorschlag., In: IAB-Forum 21. Dezember 2018, https://www.iab-forum.de/arbeit-muss-sich-lohnen-auch-im-unteren-einkommensbereich-ein-reformvorschlag/, Abrufdatum: 18. December 2024
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Autoren:
- Kerstin Bruckmeier
- Jannek Mühlhan
- Jürgen Wiemers
- Ulrich Walwei