20. November 2019 | Serie „Arbeitsmärkte aus regionaler Perspektive“
Wider den trügerischen Schein: Wie Kartogramme uns helfen können, klarer zu sehen
Michaela Fuchs , Oskar Jost , Klara Kaufmann , Oliver Ludewig , Antje Weyh
Seit langer Zeit finden sich in der öffentlichen Berichterstattung kartografische Darstellungen zu den unterschiedlichsten Themen. Ob Immobilienpreise, Einkommensunterschiede, Verfügbarkeit von schnellem Internet oder Zukunftschancen von Regionen – zumindest in Deutschland wird eine Vielzahl von Indikatoren häufig in Kartenform präsentiert, um regionale Unterschiede besser visualisieren zu können.
Viele solcher Karten veranschaulichen die mitunter erheblichen regionalen Disparitäten bei sozial- oder arbeitsmarktpolitischen Kennziffern. Erst jüngst hat auch die Bundesregierung einen Deutschlandatlas vorgestellt (https://heimat.bund.de/atlas/), der regionale Unterschiede in den verschiedensten Bereichen aufzeigt.
Kartendarstellungen sind anschaulich und informativ – erlauben sie es doch, regionale Muster, Stärken und Problemlagen auf einen Blick zu identifizieren. Sie haben aber häufig eine große Schwäche: Es handelt sich dabei klassischerweise um Flächenkartogramme, auch Chloropletenkarten genannt, die vor allem zeigen, wie viele Quadratkilometer von einem bestimmten Sachverhalt betroffen sind, nicht aber, wie viele Menschen. Eine Lösung für dieses Problem bieten sogenannte Kartenanamorphote, die mittlerweile auch im Deutschen meist als Kartogramme bezeichnet werden.
Die hiesige Arbeitsmarktberichterstattung verwendet bislang überwiegend herkömmliche Flächenkartogramme. In dieser Art und Weise präsentiert unter anderem die Bundesagentur für Arbeit jeden Monat aktualisierte Deutschlandkarten, die beispielsweise das regionale Ausmaß der Arbeitslosigkeit zeigen (siehe Abbildung 1).
Man erkennt auf dieser Karte zwar schnell, dass es auch im Westen Deutschlands Kreise mit hoher Arbeitslosigkeit gibt. Es ist aber vor allem die hohe Arbeitslosigkeit in vielen ostdeutschen Regionen, die ins Auge fällt. In Bayern und Teilen Baden-Württembergs hingegen gibt es mit Ausnahme städtischer Regionen eine vergleichsweise niedrige Arbeitslosigkeit.
Eine flächentreue Darstellung zeigt häufig nicht das tatsächliche Ausmaß der Betroffenheit
Dass gerade Ostdeutschland so ins Auge sticht, verdeutlicht ein Problem der Darstellung mit klassischen Karten. Denn auf diesen Karten werden die jeweiligen Gebietseinheiten, hier Kreise, flächentreu abgebildet. So zeigt Abbildung 1, wie viele Quadratkilometer von einer bestimmten Arbeitslosenquote „betroffen“ sind, jedoch nicht, wie viele Menschen. Letzteres ist aber bei soziodemografischen Daten und sozialpolitischen Themen deutlich relevanter als die flächenmäßige Größe der jeweiligen Einheiten.
Zwar mag der eine oder andere Betrachter dieser Karten wissen, dass in den westdeutschen Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit (dunkelblaue Flächen) deutlich mehr Menschen wohnen und damit auch mehr Menschen arbeitslos sind. Aber wie viele es sind, und welche Größenverhältnisse sich daraus ergeben, dürfte nur wenigen präsent sein. So sind in Nordrhein-Westfalen (635.000) mehr Menschen arbeitslos als in ganz Ostdeutschland einschließlich Berlin (568.000).
Subjektiv wird jedoch den größeren Flächen eine höhere Bedeutung zugeschrieben als den kleineren, auch wenn das inhaltlich nicht richtig sein muss. Damit kann die Darstellung der regionalen Verteilung soziodemografischer Indikatoren zu einer verzerrten Wahrnehmung hinsichtlich der Zahl der Menschen führen, die in einer Region beispielsweise von Arbeitslosigkeit betroffen sind.
Solche Verzerrungen können die öffentliche Diskussion um regionale Unterschiede beeinflussen. So monierte Nürnbergs Oberbürgermeister Dr. Ulrich Maly bei den Nürnberger Gesprächen im Mai dieses Jahres völlig zutreffend, dass sich die Debatte um regionale Ungleichheiten „auf den ländlichsten Teil des ländlichen Raums und weniger auf die Disparitäten konzentriert, die dort herrschen, wo die meisten Leute wohnen, nämlich in den großstädtischen Verdichtungsräumen“ (ein Video der Veranstaltung finden Sie auf dem YouTube-Kanal des IAB). Kartogramme können dazu beitragen, dieser verzerrten öffentlichen Wahrnehmung entgegenzuwirken.
Kartogramme visualisieren die absoluten Werte eines Indikators
Bei Kartogrammen handelt es sich ebenfalls um eine kartografische Darstellungsform. Allerdings wird die Größe der Gebietseinheiten auf Basis der absoluten Werte des dargestellten Indikators modifiziert. Diese Darstellungsform ist nicht neu, findet aber seit circa zehn Jahren größere Verbreitung, denn mittlerweile lässt sich die Verzerrung automatisiert berechnen. Dabei bildet die Ursprungsfläche der Gebietseinheit die Grundlage, so dass die Topologie der Ursprungskarte weitestgehend erhalten bleibt.
Ein Kartogramm Deutschlands auf Basis der Bevölkerungszahlen der Kreise mag dies veranschaulichen (siehe Abbildung 2). Bei Abbildung 2 handelt es sich um eine Animation (leider nicht in der PDF-Version dieses Beitrags verfügbar), aus der zu ersehen ist, wie sich die Größenverhältnisse der deutschen Kreise ändern, wenn nicht mehr deren flächenmäßige Größe, sondern deren Einwohneranzahl die dargestellte Größe der einzelnen Kreise bestimmt.
Verglichen mit flächentreuen Karten nehmen Deutschland, seine Bundesländer und Kreise ganz andere Ausmaße an. Flächenmäßig kleine Regionen wie das Saarland und die Stadtstaaten wachsen stark, während flächenmäßig große Regionen wie Niedersachsen und Schleswig-Holstein deutlich zusammenschrumpfen. Einige dünnbesiedelte ostdeutsche Länder wie Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt scheinen gar in sich zusammenzufallen. Auch Brandenburg schrumpft zu einem schmalen Ring um das extrem aufgeblähte Berlin. Auffällig groß ist in dieser Darstellung Nordrhein-Westfalen, da es das Flächenland mit der größten Bevölkerungsdichte ist.
An den Flächengrößen ist somit gut zu erkennen, dass beispielsweise in Hamburg deutlich mehr Menschen leben als in Bremen, in Berlin wiederum deutlich mehr als in Hamburg. Auch die verschiedenen Bevölkerungszentren in den Bundesländern, wie München in Bayern, Hannover in Niedersachsen oder Dresden und Leipzig in Sachsen, nehmen entsprechend ihrer Einwohnerzahl mehr Fläche ein als viele Landkreise.
In Hamburg sind mehr Menschen arbeitslos als in Thüringen
Das auf der Einwohnerzahl basierende Kartogramm macht deutlich, dass die Bevölkerungsrelationen zwischen den Gebietseinheiten anders ausfallen als die Flächenrelationen. Dies wirkt sich auch auf andere Indikatoren aus, die mit der Bevölkerungszahl zusammenhängen, etwa die Arbeitslosigkeit. Dies verdeutlicht ein Blick auf die absoluten Arbeitslosenzahlen: So sind in Hamburg (Stand: Juni 2018) mit 63.800 Personen mehr Menschen arbeitslos als in Thüringen mit 59.100 oder Mecklenburg-Vorpommern mit 61.000. Im prosperierenden München sind rund 31.800 Menschen arbeitslos und damit ungefähr genauso viele wie im ganzen Saarland mit 31.900 oder im kriselnden Dortmund mit 31.700.
In einem Kartogramm, das sowohl die Arbeitslosenquote (Hintergrundfarbe) als auch die absolute Anzahl der Arbeitslosen (angepasste Flächengröße) kreisgenau darstellt, werden diese Verhältnisse deutlich (siehe Abbildung 3).
Während die flächentreue Karte den Eindruck erweckt, dass hohe Arbeitslosenquoten vor allem ein ostdeutsches Phänomen sind, zeigt das hier verwendete Kartogramm, dass vor allem in Nordrhein-Westfalen, aber auch in anderen westdeutschen Regionen, nicht nur die Arbeitslosenquoten, sondern auch die absoluten Arbeitslosenzahlen teilweise sehr hoch sind.
Zudem wird deutlich, dass die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland, wenn es um die Zahl der betroffenen Menschen geht, zu einem erheblichen Teil auf die Arbeitslosigkeit in Berlin zurückgeht: Fast 30 Prozent aller ostdeutschen Arbeitslosen wohnen in Berlin.
Darüber hinaus ist zu sehen, dass auch in Regionen mit niedriger Arbeitslosenquote bei entsprechender Größe des Arbeitsmarktes relativ viele Menschen arbeitslos sind. Dies ist beispielsweise in München, Nürnberg oder Stuttgart der Fall. Diese Arbeitslosen sollte man in der arbeitsmarktpolitischen Diskussion nicht vergessen.
Trotz des Anwachsens von München und anderer Städte schrumpfen die süddeutschen Bundesländer in den Kartogrammen stark zusammen, was die extrem gute Arbeitsmarktlage, die schon aus der flächentreuen Karte zu ersehen ist, nochmals unterstreicht.
Städte sind in aller Regel regionale Beschäftigungszentren – auch bei niedrigen Beschäftigungsquoten
In Abbildung 4 spiegelt die Größe der Kreise die absolute Zahl der Beschäftigten wider und deren Einfärbung die Beschäftigungsquote. Hier zeigen sich zum einen Ähnlichkeiten mit Abbildung 3: Die Bevölkerungszentren erscheinen hier ebenfalls wesentlich größer als in der flächentreuen Darstellung. Andererseits werden Unterschiede deutlich: So bleiben die süddeutschen Länder relativ groß.
Durch die Kombination der beiden Informationen – Beschäftigungsquote und Beschäftigtenzahl – enthält diese Darstellung mehr relevante Informationen als eine flächentreue Karte. So lässt sich gut erkennen, dass die Beschäftigungsquoten beispielweise im Ruhrgebiet oder in Berlin zwar relativ niedrig sind, aber trotzdem verhältnismäßig viele Menschen dort beschäftigt sind.
In vielen Regionen Ostdeutschlands ist das Gegenteil zu beobachten: hohe Beschäftigungsquoten, aber wenig Beschäftigte. Im Süden hingegen haben viele Regionen sowohl eine hohe Beschäftigungsquote als auch viele Beschäftigte. Zudem zeigt die größere Fläche der Städte, dass diese in fast allen Regionen die Beschäftigungszentren sind – unabhängig von der jeweiligen Beschäftigungsquote.
Fazit
Kartogramme können ein nützliches Instrument sein, um die Aufmerksamkeit für bestimmte regionale Muster zu schärfen. Durch die Abkehr von der flächentreuen Darstellung zugunsten einer Darstellung, die auf die Zahl der betroffenen Menschen abhebt, wird das Ausmaß der regionalen Betroffenheit besser sichtbar. Gleichwohl können auch klassische Karten wertvolle Informationen über regionale Strukturen und Dynamiken liefern.
Kartogramme und flächentreue Karten ersetzen sich nicht gegenseitig. Um einen umfassenderen Blick auf regionale Sachverhalte zu erhalten, können Kartogramme eine sinnvolle Ergänzung sein. Es empfiehlt sich, beide Darstellungsformen zu nutzen. Dies hilft zum einen, die Betrachtenden bei ihren üblichen Sehgewohnheiten abzuholen. Zum anderen wird der Mehrwert der Kartogramme gerade erst durch die Gegenüberstellung mit flächentreuen Karten deutlich.
Technischer Hinweis
Die hier präsentierten Kartogramme wurden mit dem QGIS3.4-cartogram3-Plugin von Christoph Fink (2017) erstellt. Der zugrundeliegende Algorithmus wurde von Dougenik/Chrisman/Niemeyer bereits 1985 beschrieben. Plugin home page: https://github.com/austromorph/cartogram3.
Weitere Anwendungsbeispiele für Kartogramme finden Sie hier:
Literatur
Burgdorf, Markus (2009): Kartogramme: aus der Form geraten oder auf den Punkt gebracht? IzR Heft 10/11.
Burgdorf, Markus (2008): Verzerrungen von Raum und Wirklichkeit in der Bevölkerungsgeographie. In: Kartographische Nachrichten, Heft 5, S. 234–242.
Dougenik, James A.; Chrisman, Nicholas R.; Niemeyer, Duane R. (1985): An algorithm to construct continuous cartograms. In: Professional Geographer 37, S. 75–81.
Fink, Christoph (2017): QGIS Cartogram – a plugin for creating cartograms from polygon layers.
Nusrat, Sabrina; Kobourov, Stephen (2016): The State of the Art in Cartograms. In: Computer Graphics Forum. Volume 35, Number 3, S. 619–642.
Fuchs, Michaela; Jost, Oskar; Kaufmann, Klara; Ludewig, Oliver; Weyh, Antje (2019): Wider den trügerischen Schein: Wie Kartogramme uns helfen können, klarer zu sehen, In: IAB-Forum 20. November 2019, https://www.iab-forum.de/wider-den-truegerischen-schein-wie-kartogramme-uns-helfen-koennen-klarer-zu-sehen/, Abrufdatum: 18. December 2024
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Autoren:
- Michaela Fuchs
- Oskar Jost
- Klara Kaufmann
- Oliver Ludewig
- Antje Weyh