20. Juni 2024 | Serie „Corona-Krise: Folgen für den Arbeitsmarkt“
Subjektive soziale Teilhabe: Die Kluft zwischen Personen mit SGB-II-Leistungsbezug und Gesamtbevölkerung ist während der Pandemie nicht gewachsen
Soziale Teilhabe und Partizipation am gesellschaftlichen und kulturellen Leben sind ein wichtiger Aspekt des individuellen Wohlbefindens, aber auch des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalts. Gerade die Covid-19-Pandemie und die damit einhergehenden Einschränkungen haben die Menschen in dieser Hinsicht auf eine harte Probe gestellt (lesen Sie dazu auch eine 2021 erschienene Analyse von Theresa Entringer und Hannes Kröger). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob und inwieweit die soziale Teilhabe von Menschen, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II beziehen, während der Pandemie stärker gelitten hat als die von Menschen außerhalb des Leistungsbezugs.
Aus theoretischer Sicht alleine lässt sich diese Frage nicht eindeutig beantworten. Einerseits waren Leistungsbeziehende aufgrund ihrer im Schnitt schlechteren IT-Ausstattung, des beengteren Wohnraums und der größeren Abhängigkeit von ihrem sozialen Umfeld besonders stark von der Pandemie betroffen. So haben Sebastian Bähr und andere in einem 2020 im IAB-Forum erschienenen Beitrag anhand einer Reihe objektiver Indikatoren herausgearbeitet, dass Leistungsbeziehende im Vergleich zur Gesamtbevölkerung über weniger Ressourcen verfügten, um den pandemiebedingten Einschränkungen etwas entgegensetzen zu können.
Andererseits war und ist die soziale Teilhabe von Leistungsbeziehenden generell deutlich geringer als in der Gesamtbevölkerung, etwa weil sie sich bestimmte Freizeitaktivitäten mit Freunden oder Bekannten, beispielsweise einen Kinobesuch, ohnehin selten leisten können. Insoweit könnten die Einschränkungen für Menschen außerhalb des Leistungsbezugs drastischere Konsequenzen für deren soziale Teilhabe nach sich gezogen haben, da sie größere Einschnitte in ihrem Arbeits-, Sozial- und Freizeitverhalten hinnehmen mussten.
Angesichts dieser tendenziell gegenläufigen Hypothesen lässt sich die Frage, ob die subjektive soziale Teilhabe der Leistungsbeziehenden in der Pandemie stärker gesunken ist als in der Gesamtbevölkerung, letztlich nur empirisch beantworten. Hierzu werden Daten aus der Längsschnittbefragung „Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ genutzt (siehe Infokasten „Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung [PASS]“).
Um die subjektive soziale Teilhabe beider Gruppen messen zu können, wurden die Befragten gebeten, ihre individuelle Zugehörigkeit zur Gesellschaft auf einer Skala von 0 (ausgeschlossen) bis 10 (dazugehörig) zu verorten. In die nachfolgend präsentierten Auswertungen fließen lediglich Veränderungen der subjektiven sozialen Teilhabe auf individueller Ebene gegenüber der Zeit vor der Pandemie ein – also nicht das jeweilige Niveau, welches für Menschen außerhalb des Leistungsbezugs typischerweise höher ausfällt. Vor der Pandemie war dieses Niveau bei Personen im Leistungsbezug um etwa 1,3 Punkte niedriger als bei Personen, die keine Leistungen beziehen.
Die subjektive soziale Teilhabe ist während der Pandemie deutlich gesunken
In der ersten Corona-Welle hatte sich die subjektive soziale Teilhabe in beiden Gruppen nur geringfügig verschlechtert (siehe Abbildung). Während der beiden folgenden Hochphasen der Pandemie sank die selbst berichtete soziale Teilhabe allerdings in beiden Gruppen deutlich. Die Einbußen fielen während der zweiten Pandemie-Welle im Winterhalbjahr 2020/2021 am größten aus, die Delta-/Omicron-Welle 2021/2022 wirkte sich demgegenüber schwächer aus. Ein möglicher Grund hierfür dürfte die Verfügbarkeit von Impfstoffen und die infolgedessen geringeren Einschränkungen des öffentlichen Lebens sein.
Bis zum Sommer 2022 hatte die subjektive soziale Teilhabe von Leistungsbeziehenden wieder das Niveau vor Ausbruch der Pandemie erreicht. Für diese Gruppe scheinen die Einschränkungen also keine bleibenden Folgen hinterlassen zu haben. Dahingegen fiel die gefühlte soziale Teilhabe von Personen außerhalb des Leistungsbezugs zumindest in der zweiten Welle stärker ab und erreichte bis Sommer 2022 noch nicht wieder das Niveau vor der Pandemie. Ob sich die Erholung für diese Gruppe nur verzögert hat oder ob die Pandemie bleibende Folgen für ihre soziale Teilhabe hinterlassen hat, bleibt abzuwarten.
Fazit
Die subjektive soziale Teilhabe von Personen, die keine Leistungen nach dem SGB II beziehen, hat im Laufe der Pandemie besonders stark gelitten. Selbst im Sommer 2022 war das Niveau vor der Pandemie noch nicht wieder erreicht. Anders bei denjenigen Personen, die Leistungen aus der Grundsicherung bezogen haben: Hier waren die Effekte schwächer und hielten auch nicht so lange an. Dies mag allerdings daran liegen, dass diese Personen aufgrund ihrer deutlich begrenzteren Ressourcen bereits vor der Pandemie weniger am sozialen Leben teilhaben konnten als solche ohne Leistungsbezug. Die Pandemie scheint die Kluft zwischen den beiden Gruppen jedoch zumindest nicht weiter vergrößert zu haben.
Offen ist allerdings noch, ob sich die Werte für die Selbsteinschätzung der sozialen Teilhabe mittlerweile auch in der Gesamtbevölkerung wieder auf das Niveau vor der Pandemie eingependelt haben. Hierzu sind weitere Analysen mit aktuelleren Daten erforderlich, die derzeit noch nicht vorliegen. Der Verlauf von 2021 zu 2022 lässt jedoch darauf hoffen, dass die Pandemie keine langfristig negativen Effekte auf das Teilhabeempfinden der meisten Menschen gehabt hat.
Panel „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ (PASS)
Um die Veränderung der sozialen Teilhabe vulnerabler Bevölkerungsgruppen zu bestimmen, wurden Daten der 12. bis 16. Welle (2018 bis 2022) des Panels „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ (PASS) ausgewertet. Dabei handelt es sich um eine jährliche Panelbefragung der Wohnbevölkerung in Deutschland ab 15 Jahren. Leistungsberechtigte der Grundsicherung für Arbeitsuchende sind stark überrepräsentiert, sodass im Vergleich zu anderen Befragungsdaten präzisere Aussagen über diese Gruppe möglich sind.
Für die Analysen messen mit den Leistungsbezug jeweils zum Zeitpunkt der Befragung. Zugleich lassen sich die Befragungsergebnisse mithilfe von Hochrechnungsfaktoren auf die gesamte Wohnbevölkerung in Deutschland ab 15 Jahren hochrechnen. Einen kurzen Überblick über die Methodik gibt der Artikel von Trappmann et al. 2019.
In aller Kürze
- Die subjektive soziale Teilhabe hat während der Covid-19-Pandemie deutlich gelitten.
- Der Rückgang fiel während der zweiten Pandemiewelle 2020/2021 am stärksten aus und erholt sich bis Sommer 2022 wieder deutlich.
- Bei Leistungsbeziehenden fiel der Rückgang der sozialen Teilhabe schwächer aus als bei anderen Bevölkerungsgruppen. Sie erreichten zudem schneller wieder das vor der Krise gemessene Niveau.
Literatur
Bähr, Sebastian; Frodermann, Corinna; Stegmaier, Jens; Teichler, Nils; Trappmann, Mark (2020): Knapper Wohnraum, weniger IT-Ausstattung, häufiger alleinstehend: Warum die Corona-Krise Menschen in der Grundsicherung hart trifft. In: IAB-Forum, 10. Juni 2020.
Entringer, Theresa. Margareta; Kröger, Hannes (2021): Weiterhin einsam und weniger zufrieden: Die COVID-19-Pandemie wirkt sich im zweiten Lockdown stärker auf das Wohlbefinden aus. In: DIW aktuell No. 67.
Trappmann, Mark; Bähr, Sebastian; Beste, Jonas; Eberl, Andreas; Frodermann, Corinna; Gundert, Stefanie; Schwarz, Stefan; Teichler, Nils; Unger, Stefanie; Wenzig, Claudia (2019): Data Resource Profile: Panel Study Labour Market and Social Security (PASS). In: International Journal of Epidemiology, 48 (5), S. 1411-1411g.
Bild: pressmaster/stock.adobe.com
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20240620.01
Bähr, Sebastian; Collischon, Matthias (2024): Subjektive soziale Teilhabe: Die Kluft zwischen Personen mit SGB-II-Leistungsbezug und Gesamtbevölkerung ist während der Pandemie nicht gewachsen, In: IAB-Forum 20. Juni 2024, https://www.iab-forum.de/subjektive-soziale-teilhabe-die-kluft-zwischen-personen-mit-sgb-ii-leistungsbezug-und-gesamtbevoelkerung-ist-waehrend-der-pandemie-nicht-gewachsen/, Abrufdatum: 21. November 2024
Autoren:
- Sebastian Bähr
- Matthias Collischon