Demografie, Dekarbonisierung, Digitalisierung sowie Investitionen in die Verteidigungsfähigkeit stellen den Arbeitsmarkt vor große Herausforderungen. Im Rahmen der „Kieler Gespräche“ wurde deutlich: Die Herausforderungen am Arbeitsmarkt sind nicht nur tiefgreifend, sie werden zunehmend auch komplexer. Welche Herausforderungen das sind, und wie ihnen begegnet werden kann, darüber diskutierten Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Landespolitik.

Zu der Veranstaltung, die am 21. Mai dieses Jahres in Kiel stattfand und von der NDR-Journalistin Eva Diederich moderiert wurde, hatte das IAB gemeinsam mit der Regionaldirektion Nord (RD Nord) der Bundesagentur für Arbeit eingeladen. Mit den „Kieler Gesprächen“ setzt das Regionale Forschungsnetz des IAB ein Gesprächsformat fort, um den wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Dialog zwischen Wissenschaft und Fachöffentlichkeit auch auf Ebene der Bundesländer zu vertiefen.

Bild des Publikums in seitlich-frontaler Ansicht.

Fitzenberger: „Wir verändern uns in Deutschland zu wenig“

Portraitfoto von Bernd Fitzenberger

Bernd Fitzenberger ist Direktor des IAB und Professor für Quantitative Arbeitsökonomik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Bernd Fitzenberger, Direktor des IAB und Professor für Quantitative Arbeitsökonomik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, unterstrich zunächst die Komplexität der aktuellen Herausforderungen, zu denen er auch Prozesse der Deindustrialisierung zählt. Insgesamt, so Fitzenberger, steigt die Arbeitsproduktivität in Deutschland seit Jahren kaum mehr an und die Veränderungsgeschwindigkeit ist gemessen an den Herausforderungen zu gering: „Wir verändern uns in Deutschland zu wenig.“

Sorge bereitet ihm auch der Mismatch zwischen offenen Stellen und Fachkräften. Dazu gehören auch die geringe Mobilität von Beschäftigten, die unter anderem dem angespannten Wohnungsmarkt geschuldet ist, und das nicht ausreichende Engagement sowohl von Betrieben als auch Beschäftigen bei der Weiterbildung.

Besonders beunruhigt zeigte sich Bernd Fitzenberger angesichts der steigenden Anzahl an Jugendlichen ohne Schul- oder Berufsabschluss. Hierfür spielten sicher auch kurzfristige Erwägungen eine Rolle, etwa direkt zum Mindestlohn ins Berufsleben einzusteigen. Langfristig allerdings seien auf diesem Weg berufliche Perspektiven, Entwicklungsmöglichkeiten und der Einkommensstabilität gefährdet, so der IAB-Direktor. Zudem bestehe ein höheres Risiko des Jobverlustes und später die Gefahr der Altersarmut.

Fitzenberger sieht in einer frühen Berufsorientierung einen Hebel, beispielsweise in Programmen wie dem „Tag in der Praxis“ in Nordthüringen, wo Schülerinnen und Schüler der 8. und 9. Klasse einen Tag in der Woche in Unternehmen verbringen, oder dem freiwilligen Handwerksjahr in Lübeck, wo junge Menschen nach Abschluss der Schule innerhalb eines Jahres vier unterschiedliche Handwerksberufe direkt nacheinander ausprobieren. Sie werden so besser mit den Berufs- und Ausbildungsmöglichkeiten vor Ort vertraut gemacht. Die Unternehmen wiederum können potenzielle Bewerberinnen und Bewerber frühzeitig kennenlernen.

Biercher: „Die Folgekosten für jeden jungen Menschen ohne Schulabschluss sind verheerend für die Gesellschaft“

Portraitbild von Markus Biercher.

Markus Biercher ist Chef der Regionaldirektion Nord der Bundesagentur für Arbeit.

Der demografische Wandel hat Schleswig-Holstein fest im Griff. Markus Biercher, Chef der Regionaldirektion Nord der Bundesagentur für Arbeit, machte darauf aufmerksam, dass jedes Jahr 25.000 Beschäftigte den Arbeitsmarkt verlassen und in Rente gehen. Das entspricht der Bevölkerung von Schleswig, Bad Oldesloe oder Husum. Und, so Markus Biercher: „Es kommen deutlich weniger nach.“

Zudem führen die Dekarbonisierung und die Digitalisierung zu großen Veränderungen bei den Anforderungen an die heutigen und die zukünftigen Beschäftigten. Bildung, so Biercher, ist ein zentraler Hebel, um diesen Herausforderungen zu begegnen, zumal Bildung vor Arbeitslosigkeit schütze. Die Arbeitslosenquote von Ungelernten beträgt rund 20 Prozent, die von Personen mit Berufsabschluss nur 3 bis 4 Prozent. Die Einkommensunterschiede zwischen Fachkräften und Beschäftigten mit Mindestlohn seien markant, da komme „im Laufe des Erwerbslebens einiges zusammen“.

Wie die anderen Gäste auf dem Podium zeigt sich auch Biercher in hohem Maße beunruhigt, dass in Deutschland ungefähr 10 Prozent jedes Jahrgangs die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen – ein „skandalöser Luxus“ mit, so Biercher, hohen Folgekosten für die jungen Menschen ohne Schulabschluss und verheerend für die Gesellschaft. Ein Zustand, der aus seiner Perspektive dringend und signifikant verbessert werden muss. Die Dienstleistungen der Bundesagentur für Arbeit böten hier nicht nur Orientierung und Unterstützung, sondern seien in der Transformation auch wichtiger denn je.

Pooth: „Das Hauptthema muss sein, an den 10 Prozent zu arbeiten, die unsere Schulen ohne Hauptschulabschluss verlassen“

Portraitfoto von Laura Pooth.

Laura Pooth ist Vorsitzende des DBG Nord.

Laura Pooth, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DBG) Nord, betonte ebenfalls, dass das Hauptthema sein müsse, „an den 10 Prozent zu arbeiten, die unsere Schulen ohne Hauptschulabschluss verlassen. Wir müssen hingucken, wo sind die Defizite, und genau da müssen wir ansetzen“.

Als ehemalige Lehrerin richtete sie zudem die Aufmerksamkeit darauf, dass Lehrkräften häufig die Zeit fehle, um sich Schülerinnen und Schülern ausführlich und individuell widmen zu können. Dafür seien Schulklassen zu groß und Dokumentationspflichten oft zu umfangreich. Hier wären bessere Arbeitsbedingungen notwendig.

Anerkennen müsste man zudem, dass neben Noten heute „Soft Skills“ wie soziale Kompetenz, Flexibilität, Engagement, Motivation und Lernbereitschaft eine große Bedeutung haben. Gleichzeitig sei in Deutschland, was laut Pooth alle einschlägigen Studien nahelegen, die Chance auf Bildung so sehr vom Elternhaus abhängig wie in keinem anderen Land in der internationalen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

Vor diesem Hintergrund begrüßt sie die für Schleswig-Holstein begonnenen Überlegungen, eine „Transformations-Agentur“ zu schaffen, in der unternehmensübergreifend zu Fort- und Weiterbildungsangeboten beraten werden kann. Aus einer aktuellen „Situationsanalyse“ des DGB zum ökologischen Umbau des ChemCoastParks Brunsbüttel gehe beispielsweise hervor, dass Beschäftigte häufig unsicher sind, in welche Richtung sie sich in der grünen Transformation weiterbilden können. Das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass sie nicht genau wissen, wie ihre Unternehmen den Wandel genau angehen wollen.

Murmann: „Wir haben ein Problem mit unserer Wettbewerbsfähigkeit. Das liegt vor allem an zu hohen Kosten sowie an zu viel Bürokratie“

Portraitfoto von Dr. Philipp Murmann.

Dr. Philipp Murmann ist Präsident der Unternehmensverbände in Hamburg und Schleswig-Holstein.

Dr. Philipp Murmann, Präsident der Unternehmensverbände in Hamburg und Schleswig-Holstein, betonte, dass viele der 106.000 zumeist mittelständischen Unternehmen, die er vertritt, die Probleme bei der Wettbewerbsfähigkeit, insbesondere auf zu hohe Kosten für Energie, Infrastruktur und Bürokratie zurückführen.

Auch Murmann richtete sein Augenmerk auf ältere Erwachsene ohne Schulabschluss. Hier müsse mitunter überlegt werden, mit welchen Maßnahmen diesem Personenkreis geholfen werden könne. Eine wirksame Maßnahme aus seiner Perspektive war das Programm „500 x 500“ der Landeshauptstadt Kiel, ähnlich dem Angebot des Eingliederungszuschusses der Bundesagentur für Arbeit, bei dem Unternehmen Menschen eine Chance gaben und dafür eine Prämie von jeweils 500 Euro erhielten. Auch in seinem eigenen Unternehmen wurden zwei Personen mit fehlenden Schulabschlüssen eingestellt, von denen einer bis heute im Unternehmen tätig ist.

Daneben muss nach Murmanns Einschätzung auch der „Match“ zwischen Betrieben und Beschäftigten verbessert werden. Nicht zuletzt müsse der Arbeitsbegriff wieder positiver belegt werden, um zusätzliche Motivation für Aus- und Weiterbildung zu schaffen.

Madsen: „Wir sollten uns auf unsere Stärken konzentrieren. Noch nie hatten so viele Menschen Arbeit in Schleswig-Holstein wie im Moment“

Portraitfoto von Claus Ruhe Madsen.

Claus Ruhe Madsen ist Minister für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus in Schleswig-Holstein.

Claus Ruhe Madsen, Minister für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus in Schleswig-Holstein, sieht sein Bundesland auf einem guten Weg. Der Minister betonte, dass Schleswig-Holstein frühzeitig mit dem Ausbau Erneuerbarer Energien begonnen habe und noch nie so viele Menschen in Schleswig-Holstein in Arbeit waren wie jetzt.

Gleichzeitig warnt Madsen vor einer zu starken Akademisierung zu Lasten von Handwerks- beziehungsweise Ausbildungsberufen. Viele Jugendliche wüssten nicht, welche interessanten Berufe die Firmen in ihrer unmittelbaren Umgebung anbieten. Ein aus seiner Sicht erfolgreiches Projekt im Rahmen der Berufsorientierung in Schleswig-Holstein ist die sogenannte Praktikumsprämie, die von Jugendlichen und Firmen stark nachgefragt werde.

Madsen forderte zudem ein gesamtgesellschaftliches Denken. Man müsse alle Partnerinnen und Partner auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt für diese komplexen Aufgaben gewinnen. Nur gemeinsam könnten die großen Herausforderungen bewältigt werden.

Bild der Podiumssprecher und Podiumssprecherinnen

Moderatorin Eva Diederich vom NDR (rechts im Bild) im Gespräch mit den Podiumsgästen.

Fazit: Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik sind eine Gemeinschaftsaufgabe

Was alle Podiumsgäste einte: Der Wandel kann nur gelingen, wenn Bildung im Kontext des Strukturwandels als gemeinsame Aufgabe aller Akteure verstanden wird. Besonders im Fokus stand die Berufsorientierung, nicht nur für Jugendliche, sondern auch mit Blick auf Eltern, Lehrkräfte und Betriebe. In der Diskussion wurde dabei von allen Beteiligten die Bedeutung von möglichst frühen Erfahrungen mit der Arbeitswelt betont, wie sie etwa Praktika und Kontakttage bieten. Zudem wurde klar, dass die Weiterbildung an die neuen Herausforderungen angepasst und weiterentwickelt werden muss.

Für die Bundesagentur für Arbeit als zentrale Akteurin der Bildungs- und Arbeitsmarkttransformation ist diese Diskussion von hoher Relevanz für ihre Dienstleistungen im Bereich der Aktivierung von Jugendlichen ohne Schul- oder Berufsabschluss, für die Integration von Menschen mit Fluchthintergrund, für die regionale Mobilität oder auch für die Qualifizierungsberatung.

 

Die „Kieler Gespräche“ auf dem YouTube-Kanal des IAB:

 

Bilder: Julia Petersen
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20250627.01

Fuchs, Stefan; Stöckmann, Andrea; Weber, Gerald (2025): Kieler Gespräche 2025: Gut gerüstet? Bildung in Zeiten der Transformation, In: IAB-Forum 27. Juni 2025, https://iab-forum.de/kieler-gespraeche-2025-gut-geruestet-bildung-in-zeiten-der-transformation/, Abrufdatum: 28. June 2025

 

Diese Publikation ist unter folgender Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht: Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International (CC BY-SA 4.0): https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de